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Ukraine: Mehr vom Immergleichen

Platypus Review Ausgabe #26 | Juli/August 2023

von Chris Cutrone

Warum gibt es Krieg? Weil der Kapitalismus selbstwidersprĂŒchlich ist, was sich in Konflikten unter Arbeitern wie unter Kapitalisten, zwischen „nationalen“ Arbeiterklassen und kapitalistischen Staaten, zwischen Politikern und politischen Parteien innerhalb von Nationalstaaten wie international ausdrĂŒckt. Solche Konflikte sind hĂ€ufig gewalttĂ€tig. Aber daraus sollte man nicht schließen, dass die Ökonomie die Politik bestimmt. Ganz im Gegenteil. Aber ebenso wenig bestimmt die Politik die Ökonomie. FĂŒr den Marxismus bedeutet Politik „Klassenkampf“ und Klassenkampf bedeutet die Überwindung des Kapitalismus im Sozialismus – alles andere ist keine wirkliche Politik, kein Kampf um die Richtung unserer Freiheit, sondern darwinistischer Existenzkampf und Gangstertum: fressen und gefressen werden.1

Dementsprechend gibt es keine Übereinstimmung von ökonomischen und politischen Interessen. Es gibt nicht nur eine UnabhĂ€ngigkeit zwischen Politik und Ökonomie, sondern auch innerhalb von Politik. Die marxistische Herangehensweise an den Sozialismus unterscheidet sich wesentlich von kapitalistischer (Pseudo-)„Politik“, insofern erstere – wenn auch nur vorĂŒbergehend in der Revolution – anstrebt, wirtschaftliche und politische Interessen im proletarischen Sozialismus auf einen Nenner zu bringen. Jedoch hat diese Angleichung keinen normativen Charakter, trifft auf keinerlei andere Form der Politik zu und besitzt zudem eine kritische Eigenschaft: Ökonomie und Politik sollen identisch gemacht werden, sodass sie durch ihre wechselseitige WidersprĂŒchlichkeit ĂŒberwunden werden können. Das ist der zentrale Punkt des Marxismus: Im Kapitalismus gleichen sich Ökonomie und Politik nicht nur nicht an, sondern stehen in diametralem Widerspruch zueinander. Die proletarisierte Arbeiterklasse ist das selbstwidersprĂŒchlichste Subjekt des Kapitalismus. Die Arbeiter haben kein anderes objektives Interesse als ihre Selbstaufhebung als Arbeiter, obwohl sie ein subjektives Interesse an ihrer Selbstverwirklichung als Arbeiter haben.2 Individuelle und kollektive Interessen der Arbeiter sind widersprĂŒchlich,3 wohingegen es bei der kapitalistischen Bourgeoisie so scheint, als hĂ€tte sie identische politische und ökonomische Interessen – sowie identische kollektive und individuelle Interessen –, als vertrete sie die Interessen der Gesellschaft als Ganzes auf eine nicht selbstwidersprĂŒchliche Weise.

Dieser Mangel an WidersprĂŒchlichkeit fĂŒhrt uns zum Gemetzel. Es gibt keinerlei Grund zu bezweifeln, dass der aktuelle Konflikt zwischen der Ukraine und Russland stattfindet. Es ergibt unter den gegebenen UmstĂ€nden keinen Sinn zu behaupten, dass wir es mit einem Konflikt zwischen ukrainischen und russischen Kapitalisten zu tun haben, denen ukrainische und russische Arbeiter sowie andere Menschen unterworfen sind. Ebenso wenig ergibt es Sinn zu erklĂ€ren, dass es sich um einen Konflikt zwischen Imperialismus und Antiimperialismus handelt – ob man nun die USA/NATO und/oder Russland als imperialistisch begreifen mag. Dies liegt nicht nur daran, dass der nationale Konflikt verschiedener Bevölkerungsgruppen Ă€lter als die gegenwĂ€rtige Krise ist – die Abspaltung mehrheitlich russischer Gebiete in der ukrainischen Donbass-Region und die Versuche ukrainisch-nationalistischer Milizen sowie der ukrainischen Regierung, diese zu unterdrĂŒcken –, sondern auch daran, dass es im aktuellen Konflikt keine Alternative zu kapitalistischer politischer FĂŒhrung gibt. Erst eine Opposition, die eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen FĂŒhrung wĂ€re, wĂŒrde die derzeitige FĂŒhrung zu einer spezifisch kapitalistischen machen und nicht einfach zu einer nationalistischen.4 Ukrainer und Russen haben schlicht die politische FĂŒhrung, die sie haben, und dieser Umstand prĂ€gt das Wesen und den Charakter des Konflikts. Es bringt nichts, auf entgegengesetzte „zugrunde liegende Ursachen“ dieses Konfliktes außer den offensichtlichen hinzuweisen: Es ist wirklich Putin gegen Selenskyj; und ja, Selenskyj erhĂ€lt UnterstĂŒtzung, wenn auch bedingt, von den USA und der NATO (ebenso wie von der „internationalen Gemeinschaft“ im weiteren Sinne, das heißt von anderen kapitalistischen FĂŒhrern, und auch Putin erhĂ€lt derartige UnterstĂŒtzung, selbst von den USA, zum Beispiel durch den Verkauf von Öl). Dass Krieg eine Horrorshow und eine erbĂ€rmliche Angelegenheit ist, wird in dem Bild rostiger russischer Panzer, die bei ihrem Einmarsch in die Ukraine abschwenken, um fliehende Autos zu vernichten und Wohnblocks in die Luft jagen, gut eingefangen. – In der Tat: ĂŒberflĂŒssige Arbeit, ĂŒberflĂŒssiges Kapital.5

Eine marxistische Herangehensweise hat daher, wenn ĂŒberhaupt, wenig – vielleicht ĂŒberhaupt nichts – ĂŒber das hinaus beizutragen, was in Debatten ĂŒber kapitalistische Politik bereits gesagt wird.6 Beispielsweise kritisiert der „realistische“ Professor fĂŒr Internationale Beziehungen John Mearsheimer den US-amerikanischen politischen Konsens zwischen liberal-humanitĂ€rem Interventionismus und Neokonservatismus, der die Politik seit Jahrzehnten dominiert – Trump ausgenommen.7 Wie Christoph Lichtenberg von der ehemals spartakistischen, „trotzkistischen“ Bolschewistischen Tendenz vor Kurzem beobachtete, hat der konservative Fox News-Moderator Tucker Carlson eine akkuratere Analyse des Ukraine-Kriegs und seiner Ursachen als die meisten vermeintlichen „Marxisten“.8

Die „Linke“ hat sich angesichts der Ukraine entlang der Frage zerstritten, welchen kapitalistischen Politikern sie im gegenwĂ€rtigen Konflikt nacheifern und hinterherlaufen soll, wobei sie in ihrer ĂŒblichen Manier ĂŒbermĂ€ĂŸiger Sportbegeisterung johlend am Spielfeldrand steht. Manche innerhalb der „Linken“ haben sich hinsichtlich Russlands „MilitĂ€roperation zur Entnazifizierung“ der Ukraine als „Antifaschisten“ positioniert – ob aufseiten der Ukraine oder aufseiten Russlands. Andere innerhalb der „antiimperialistischen Linken“ lecken sich die Finger in der Hoffnung auf eine neue Antikriegsbewegung, die aus Angst davor, dass Kritik an der Biden-Regierung die ansonsten unvermeidliche RĂŒckkehr Trumps als US-PrĂ€sident befördern könnte, nicht entstehen wird: Die „Linke“ in all ihren Spielarten wird wie immer dem Bedarf der US-amerikanischen Demokratischen Partei entsprechend ein- und ausgeschaltet. Die Demokratische Partei wiederum rĂŒhrt die Trommel fĂŒr einen Krieg gegen Russland, ĂŒberzeugt von den eigenen LĂŒgen ĂŒber die „Russland-Absprachen“ Trumps und anderer Republikaner; sie versucht ohnehin verzweifelt, ihre bevorstehende Niederlage bei den Zwischenwahlen zum Kongress 2022 abzumildern, die in der endlosen Reihe ihrer Misserfolge von COVID ĂŒber KriminalitĂ€t bis hin zur Inflation begrĂŒndet liegt – und jetzt kommt auch noch die Ukraine dazu.

Die Millennial Linke wurde aus der gegen die Regierung George W. Bushs gerichteten Antikriegsbewegung geboren, die mit Obamas Wahl 2008 verschwand.9 Ihre Neubelebung in Form von Occupy Wall Street und anderen Anti-AusteritĂ€ts-Protesten infolge der Weltwirtschaftskrise mĂŒndete in der Wiedergeburt der Democratic Socialists of America (DSA) unter der FĂŒhrung der Redaktion der Jacobin-Zeitschrift um Bhaskar Sunkara. Diese Entwicklung wurde durch Bernie Sanders‘ PrĂ€sidentschaftskampagne verstĂ€rkt, die Teil desselben historischen Moments wie die Wahl Trumps 2016 war.10 Es ist bezeichnend, dass die DSA heute angesichts des Krieges ambivalent bleibt: Weder sie noch irgendjemand sonst haben etwas Neues zu sagen. Der „Dritte Weltkrieg“ ist nur eine weitere 1980er-Neuverfilmung, die auf zahlreichen Streaming-Plattformen lĂ€uft. Condoleezza Rice hat einmal gesagt, dass sie nicht wolle, dass ein „Atompilz zum schlagenden Beweis“ werde, doch wir wissen, dass es so weit ohnehin nie gekommen wĂ€re. Jetzt, nach dem Tod der Millennial Linken,11 kann 20 Jahre spĂ€ter eine neue Generation wieder zum Ausgangspunkt des furchterregenden Kriegsschauspiels zurĂŒckkehren. Genug Zeit ist vergangen, um den letzten Krieg vergessen zu haben und derselben Lehren erneut zu bedĂŒrfen12 – Lehren, die nicht gezogen wurden und die auch in Zukunft nicht gezogen werden.13 |P

Chris Cutrone ist GrĂŒndungsmitglied und Leitender PĂ€dagoge der Platypus Affiliated Society. Sein Text erschien ursprĂŒnglich in der englischsprachigen Platypus Review #145 (April 2022): https://platypus1917.org/2022/04/01/ukraine-more-of-the-same/. Er wurde von Tobias Rochlitz ins Deutsche ĂŒbersetzt.


1. Siehe meinen Brief „Platypus ‘position‘ on ‘imperialism‘“, veröffentlicht unter dem Titel „Platypus fuss“ im Weekly Worker Nr. 964 (30. Mai 2013) der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Online abrufbar unter: https://weeklyworker.co.uk/worker/964/letters/.

2. Siehe meinen Text „Die Diktatur des Proletariats und der Tod der Linken“, deutschsprachige Platypus Review Nr. 21 (September/Oktober 2022), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2022/08/31/diktatur_des_proletariats_cutrone/.

3. Siehe mein Eingangsstatement „The negative dialectic of Marxism“ fĂŒr die öffentliche Podiumsdiskussion „The Politics of Critical Theory“ der Platypus Affiliated Society, deren Transkript in der englischsprachigen Platypus Review Nr. 140 (Oktober 2021) veröffentlicht wurde. Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/10/01/the-politics-of-critical-theory-2/.

4. Siehe meinen Text „Internationalism fails“, englischsprachige Platypus Review Nr. 60 (Oktober 2013), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2013/10/01/internationalism-fails/.

5. Siehe Moishe Postone: „Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus“, in: Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg 2005, S. 195–212. Online abrufbar unter: https://thecharnelhouse.org/wp-content/uploads/2018/03/Moishe-Postone-Geschichte-und-Ohnmacht-2005.pdf.

6. Siehe Spencer Leonard: „Nothing left to say: a critique of the Guardian’s coverage of the 2008 Mumbai attacks”, englischsprachige Platypus Review Nr. 10 (Februar 2009), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2009/02/03/nothing-left-to-say-a-critique-of-the-guardians-coverage-of-the-2008-mumbai-attacks/.

7. Siehe meinen Text „Warum nicht nochmal Trump?“, deutschsprachige Platypus Review Nr. 13 (Sommer 2020), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2020/07/25/warum-nicht-nochmal-trump/.

8. Siehe die öffentliche Podiumsdiskussion „Crisis in Ukraine! The Left and the Current Crisis” der Platypus Affiliated Society, die am 10. MĂ€rz 2022 in New York City stattfand. Online abrufbar unter: https://youtu.be/Uyoe5ml05LQ.

9. Siehe meinen Text „Iraq and the election: The fog of ‘anti-war’ politics”, englischsprachige Platypus Review Nr. 7 (Oktober 2008), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2008/10/01/iraq-and-the-election-the-fog-of-anti-war-politics/.

10. Siehe meine Texte „The Sandernistas: The final triumph of the 1980s”, englischsprachige Platypus Review Nr. 82 (Dezember 2015/Januar 2016), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2015/12/17/sandernistas-final-triumph-1980s/; „The Sandernistas: Postscript on the March 15 primaries” und „P.P.S. on Trump and the crisis of the Republican Party”, englischsprachige Platypus Review Nr. 85 (April 2016), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2016/03/30/the-sandernistas/.

11. Siehe meinen Text „The Millennial Left is dead”, englischsprachige Platypus Review Nr. 100 (Oktober 2017), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2017/10/01/millennial-left-dead/.

12. Siehe meinen Text „Afghanistan: After 20 and 40 years“, englischsprachige Platypus Review Nr. 139 (September 2021), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/09/02/afghanistan-after-20-and-40-years/.

13. Siehe meinen Text „1914 in the history of Marxism”, englischsprachige Platypus Review Nr. 66 (Mai 2014), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2014/05/06/1914-history-marxism/.