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Was waren die Grünen für die Linke?

Platypus Review Ausgabe #28 | November/Dezember 2023

Am 28. August 2021 veranstaltete die Platypus Affiliated Society eine virtuelle Podiumsdiskussion mit Thomas Ebermann (Publizist und ehemaliges Gründungsmitglied der Grünen), Lotte Mohren (Sprecherin der Grünen Jugend Berlin) und Hans-Christian Ströbele (Gründungsmitglied der Grünen)1 zum Thema: Was waren die Grünen für die Linke?.

Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=vNDUS2TEqdc vollständig angesehen werden kann.

BESCHREIBUNG

Der politische Aufstieg der Grünen seit den 1980er-Jahren ist Ausdruck der Etablierung bestimmter sozialer, häufig als links verstandener Anliegen in weiten Teilen der Gesellschaft: Umweltschutz, Rechte sexueller Minderheiten, Feminismus. Angesichts der Tatsache, dass sich die Grünen in historischer Nachfolge der Neuen Linken gründeten, stellt sich heute unweigerlich die Frage, ob ihr politischer Aufstieg Fortschritt oder Regression, gar einen Sieg oder eine Niederlage für die Linke bedeutet.

Inwiefern stellte die Gründung der Grünen einen Fortschritt oder einen Rückschritt im Vergleich zu Zusammenschlüssen der Neuen Linken der 1960er- (z.B. Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Sozialistisches Zentrum, Initiativ-Ausschuss zur Gründung einer sozialistischen Partei) und 1970er-Jahre (z.B. K-Gruppen, Sponti-Bewegung) dar? Konnten die Grünen Probleme, Fragen und Organisierungsversuche, mit denen die Neue Linke sich im Versuch einer kritischen Wiederaneignung der „Alten“ Linken beschäftigte, vertiefen, weitertreiben oder gar überwinden? Haben die Grünen Fehler und Niederlagen vorheriger gesellschaftlicher Emanzipationsanstrengungen wiederholt? Welches Potenzial hatten die Grünen im Moment ihrer Gründung? Haben die Grünen dieses Potenzial in den vergangenen 40 Jahren ausgeschöpft? Welches Verhältnis hatten die Grünen angesichts eines einflussreichen ökosozialistischen Flügels in den 1980er-Jahren zum Sozialismus? Waren die Grünen – im Ganzen oder in Teilen – eine relevante politische Kraft zur Verwirklichung des Sozialismus? Letztlich: Was waren die Grünen für die Linke?

EINGANGSSTATEMENTS

Thomas Ebermann: Die heutigen Grünen sind Bestandteil der „pluralen Fassung einer Einheitspartei“. Diese Einheitspartei hat den Namen „Konsens der Demokraten“, „Anhänger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, „Anhänger der Marktwirtschaft“ oder meinetwegen auch „Anhänger des Grundgesetzes“. Die einzelnen Parteien unterscheiden sich zwar, aber in keiner signifikanten Frage. Die Grünen haben besondere Verdienste – aus meiner Sicht sind das natürlich keine Verdienste – in zwei Punkten: Erstens haben sie ein eher pazifistisches oder kriegskritisches Milieu an die Notwendigkeiten des wiedervereinigten Deutschlands gewöhnt. Dazu gehörte die Überwindung des Zustandes der begrenzten nationalen Souveränität sowie die Überwindung des Zustandes „ökonomischer Riese, militärischer Zwerg“. Das wurde mit allerlei pseudo-antifaschistischen Formeln begründet, aus Anlass des Jugoslawienkrieges und später des Krieges in Afghanistan. Zweitens haben die Grünen ihre „Verdienste“ bei der Verbilligung der Ware Arbeitskraft und in der Senkung der Alimentation der Nicht-Produktiven, also der Arbeitslosen und Rentner, was zu einem erheblichen Konkurrenzvorteil und zur Senkung der Lohnstückkosten führt. Heute verkörpern die Grünen eine Spielart der objektiven Notwendigkeit von Modernisierung in Übereinstimmung mit den Interessen des Kapitals. Dies sind keine Enthüllungen, sondern wird von den Grünen selbst so ausgedrückt.

Das vorweg geschickt, beziehe ich mich jetzt auf die Vergangenheit und referiere etwas aus der Gründungszeit der sogenannten Wahlbewegung, der ich angehört habe. Zunächst waren die Grünen pauschal nicht links. Das Projekt war umstritten in einer Auseinandersetzung zwischen Bunten und Alternativen auf der einen Seite und Grünen – wie etwa der Grünen Liste Umweltschutz (GLU) in Niedersachsen – auf der anderen Seite. Sie verband eine Unversöhnlichkeit in der Frage, ob die Grünen überhaupt ein progressives Projekt im weitesten Sinne des Wortes waren. Denn politische Figuren wie Herbert Gruhl oder Baldur Springmann und viele andere waren einer reaktionären Ideologie verpflichtet, die an den Club of Rome angelehnt war. Man sieht die Spuren davon noch heute in der Parole: „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn!“. Schlüsselpunkte waren die Stellung zur Abtreibung und damit zur gesamten Frauenbewegung und die Stellung zum Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung, also die Stellung zu linksgewerkschaftlichen Kreisen. Nach der Klärung dieser Fragen sind besonders rechte Kräfte aus den Grünen ausgetreten und man kann davon sprechen, dass im allerweitesten Sinne die Grünen eine progressive Kraft waren und ein Magnet für progressive Menschen.

Aber natürlich waren die Grünen kein Projekt aller Linken: Weder die DKP noch die Autonomen, noch die Links- bzw. Rätekommunisten, noch die Anarchisten, noch ein Teil des Sozialistischen Büros (SB) wollten mit den Grünen etwas zu tun haben. Mit der DKP waren die Differenzen in der Bestimmung der Entwicklung der Produktivkräfte unter der Herrschaft der Bourgeoisie einfach zu groß und natürlich besonders an der Atomkraftfrage zugespitzt. Das SB hingegen war der SPD eng verbunden, ich denke da an den damals sehr maßgeblichen Oskar Negt. Was etwa 1978 entstand – damals bekamen die Bunte Liste in Hamburg und die GLU in Niedersachsen jeweils etwa 3,6 Prozent der Stimmen – war ein Lager, das mit den Imperativen kapitalistischer Selbstverständlichkeiten ein latentes Zerwürfnis hatte. Das reichte von kulturellen Fragen, von Architektur, von der Beurteilung der Ehe bis hin zu Fragen der Produktivkraftentwicklung. Wenn ich das am Beispiel der Großstadt Hamburg bebildere, so war ein linksalternatives Milieu entstanden, das man sehr vorsichtig und informell unter dem Begriff eines „Zusammengehörigkeitsgefühls“ fassen könnte. Durch die Anti-Atomkraft-Bewegung war insgesamt eine Infragestellung der herrschenden Weise des Produzierens entstanden und somit ein ökologisches Lager. Dies verband sich mit Teilen des Feminismus und der Szene der Schwulen und Lesben, den Hausbesetzern, mit künstlerischer Subkultur, mit kritischen Gesundheitsarbeitern, rebellischen Schülerzeitungen, Gewerkschaftlern gegen die Sozialpartnerschaft und für eine gebrauchswertorientierte Produktion, internationalistischen Gruppen, linken migrantischen Kreisen, Antifas und vielen weiteren mehr.

Diese Gruppen trafen sich zum Ersten-Mai-Fest in den hohen 70er-Jahren in Hamburg und es kamen mehr als 10.000 Menschen, hörten sowohl manch schlechten Agitprop und nicht so gelungene kabarettistische Darbietungen als auch den Hamburger Tuntenchor und bildeten ein gewisses „Wir”. Dieses „Wir” spiegelten die Grünen später programmatisch wider in der Ablehnung der marktwirtschaftlichen Verfasstheit oder des strukturierenden Elements des Privateigentums an Produktionsmitteln, etwa im Sindelfinger Programm, das dem Wortlaut nach doch recht antikapitalistisch ist. Der Ausschnitt der Linken, dem ich angehörte, hatte drei Gründe, dafür zu optieren, dass dieses Milieu im Parlament repräsentiert sein sollte. Erstens gab es eine ausgeprägte Ratlosigkeit bei uns – wir waren keineswegs in Feierlaune nach dem Jahr 1977. Dieses Jahr, auch genannt die „bleierne Zeit”, war ein Jahr enormer staatlicher Repression. Wir glaubten zu wissen, dass wir das Konzept, das uns bis dahin ein großes Anliegen war, nicht fortführen konnten: die Schaffung eines militanten und die gesetzlichen Grenzen überschreitenden Lagers der Anti-Atomkraft-Bewegung – „legal, illegal, scheißegal“ oder eben „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, was die bürgerliche Leseart ist. Diese Erkenntnis war Folge der Repressionen und des Erlebnisses von unterbundenen Großdemonstrationen wie der in Kalkar, bei der die Anwesenden in entsicherte Maschinenpistolen geguckt hatten. Zweitens wollten wir die deutsche Besonderheit überwinden, dass es links von der Sozialdemokratie keine Partei im Parlament gab. Und drittens gab es eine Art von größer werdender Zuversicht.

Es war also ein Milieu, ein gesellschaftliches Lager entstanden. Gesellschaftliche Milieus bringen Repräsentanten hervor, nicht die Genialität oder Klugheit der Repräsentanten – wir wissen ja, dass große Männer nicht Geschichte machen –, sondern soziale Bewegungen. So kamen einige ökosozialistische Repräsentanten in den Genuss, Sprecher dieser Bewegung zu werden. Wichtig ist: Unsere Strömung der Ökosozialisten ist weder an eigenen Fehlern, die wir gewiss in größerer Zahl gemacht haben, noch an Intrigen und Machenschaften, Parteitagsstrategien oder Gemeinheiten der Realos gescheitert und an den Rand gedrängt worden, sondern durch die Anpassung, durch die Integrationsbewegung im Milieu selbst. Vielleicht ist das Parlament eine besonders gefährliche, Integration oder Reintegration erzeugende Institution. Aber die Feindschaft zum Bestehenden war auch rückläufig in vielen anderen Sektoren – in der taz, bei sogenannten alternativen Betrieben, bei NGOs oder bei Hausbesetzern, die in „Schöner Wohnen“ mutierten, oder rebellischen Kulturzentren, die zu normalen Einrichtungen des Kulturbetriebes wurden. Die Gefahren des parlamentarischen Weges waren uns nicht unbekannt, ich will uns nachträglich nicht als zu blauäugig stilisieren. Wir kamen aus der Tradition der Verachtung des Postulats des langen Marsches durch die Institutionen, durch den nach 1968 so viel rebellisches Potenzial in die Arme des Staates und die Sozialdemokratie reintegriert wurde.

Lotte Mohren: Ich bin erst seit drei Jahren Mitglied bei den Grünen, das heißt relativ kurz im Vergleich zu meinen Mitdiskutanten. Deswegen werde ich den Fokus eher darauf legen, was wir als Grüne Jugend oder als Grüne uns jetzt vornehmen sollten – was jetzt die Rolle von uns sein muss, da ich schließlich die Hälfte der Parteigeschichte verpasst habe. Angela Merkel ist die einzige Kanzlerin, mit der ich aufgewachsen bin und ich habe bisher nicht erlebt, dass andere Parteien als CDU und SPD an der Regierung sind. Vielen jungen Menschen geht es genauso und das war für sie auch ein Antrieb, in diese Partei einzutreten oder politisch aktiv zu werden: dass es gerade keine Perspektiven gibt für junge Menschen, dass junge Menschen nicht in der Politik vertreten sind und wir Regierungen haben, die nur reagieren, aber gar nicht den Willen haben, aktiv zu gestalten. Das liegt natürlich auch an den ganzen Krisen, die wir in den letzten Jahren hatten – angefangen mit der Klimakrise bis hin zur Coronakrise – und daran, dass Parteien im etablierten Parteiensystem darauf keine Antworten liefern.

In der Pandemie sind viele Probleme offengelegt worden, auf die es auch linke Antworten braucht. Dazu zählt zum Beispiel, dass Menschen mit Migrationshintergrund in der Krise schneller ihre Jobs verlieren. Meine Themen sind insbesondere, dass obdachlose Menschen es viel schwerer haben als noch vor der Pandemie, weil es noch schwerer ist, eine Wohnung zu finden oder an Spenden zu kommen; dass Frauen, Inter- und Transpersonen häuslicher Gewalt viel stärker ausgesetzt sind und dass beispielsweise das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, davon abhängt, wo man wohnt und ob man im Niedriglohnsektor arbeitet. Das sind alles Fragen, die aus einem System entstehen, das Menschen ausbeutet, das Menschen in schlechte Jobverhältnisse bringt, auf die wir Antworten finden müssen. Das bringt viele junge Menschen dazu, politisiert zu werden und zur Grünen Partei zu kommen, weil sie dort noch am ehesten Lösungsansätze sehen. In der Grünen Jugend höre ich von diesen Menschen immer wieder, dass wir in einem Wirtschaftssystem leben, mit dem wir nicht weitermachen können; dass wir ein kapitalistisches System haben, in dem Menschen und die Ressourcen unserer Erde immer ausgebeutet werden müssen; dass wir so nicht weiterleben können, wenn wir wollen, dass auch zukünftige Generationen noch eine lebenswerte Zukunft haben. Auch wenn die Grüne Partei weniger radikale, linke Positionen vertritt als die Grüne Jugend, ist sie trotzdem die einzige Partei, die im Moment eine Alternative für Wählerinnen und Wähler links der Mitte bietet – diejenigen, die von CDU und SPD nicht abgeholt werden und auch die Linkspartei aus verschiedenen Gründen nicht wählen wollen.

Das ist auch auf einige Punkte zurückzuführen, die die Grünen in der Vergangenheit richtig gemacht haben. Zum einen ist das natürlich der Klimaschutz, weil wir als Grüne die einzige Partei sind, die die Klimakrise ernst nimmt, die ein Konzept hat, um auf die Klimakrise zu reagieren und die es auch geschafft hat, dass andere Parteien Forderungen zum Klimaschutz in ihre Parteiprogramme aufgenommen haben. Daran haben natürlich auch die Klimabewegungen wie Fridays for Future einen großen Anteil gehabt. Die Grundlage dazu wurde jedoch auch durch die Grünen gelegt. Grüne kämpfen für eine plurale Gesellschaft. Die Frauenquote ist ein sehr wichtiges Thema und kann auch als Erfolg gesehen werden und ist für mich als junge Frau zum Beispiel ein Grund, zu den Grünen zu gehen. Trotzdem finde ich die Frage sehr spannend, die die Veranstaltung heute aufwirft, nämlich ob die Grünen einen positiven Beitrag für die Linke in Deutschland liefern konnten.

Die Grüne Jugend ist oft der Teil der Partei, der linkere Ansichten vertritt als die alte Partei und diese deswegen auch gerne mal kritisiert. Wir haben auch viele wichtige linke Projekte anzugehen, wie etwa einen Mindestlohn von 15 Euro, die Abschaffung von Hartz IV und einen konsequenten und sozial gerechten Klimaschutz. Zudem denken wir als Grüne Jugend, dass das Wirtschaftsmodell, das wir gerade haben, nicht so funktioniert und dass wir in eine antikapitalistische Gesellschaft kommen müssen. Das steht so natürlich nicht im Parteiprogramm der Grünen, aber ich glaube, es ist trotzdem wichtig, dass linke Kräfte innerhalb der Grünen versuchen, linke Positionen im Parteiprogramm zu verankern und an bisherigen Zielen festzuhalten – wie etwa eine Umverteilung von oben nach unten und ein anderes, besseres Wirtschaftssystem. Es ist nicht leicht, diese Forderungen umzusetzen – vor allem, solange es keine linke Mehrheit in der Gesellschaft gibt, die sagt, dass ein kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht funktioniert. Deshalb ist es auch zu einfach zu sagen, die Grünen seien ihren Ansprüchen nicht gerecht und einfach eine bürgerliche Partei geworden, die sich nur in nebensächlichen Punkten von den anderen Parteien unterscheide. Ich würde mir wünschen, dass es progressive Mehrheiten in der Gesellschaft gibt – die gibt es aber leider gerade nicht. Und während wir versuchen, diese Mehrheiten zu erreichen und Menschen von linken Missionen zu überzeugen, müssen wir auch konkrete Maßnahmen umsetzen und kleine Schritte in Richtung einer gerechteren Gesellschaft machen. Das ist auch die Rolle der Partei und insbesondere der Grünen Jugend: starke linke Bündnisse in unserer Gesellschaft zu finden. In den letzten Jahren sind viele Bündnisbewegungen entstanden, beispielsweise Fridays for Future und Black Lives Matter. In Berlin ist gerade auch die Krankenhausbewegung sehr stark, die unter gewerkschaftlicher Beteiligung für bessere Arbeitsbedingungen eintritt. Wir müssen diese Bündnisse stärken, sie zusammenbringen und damit fördern. Sie alle haben im Kern ein ähnliches Anliegen, nämlich gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse zu durchbrechen und ein Wirtschaftssystem in Frage zu stellen, das auf der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen beruht. Wir können dabei ein wichtiger Bündnispartner sein.

Zusammengefasst glaube ich, dass der Aufstieg der Grünen bereits einige Erfolge mit sich gebracht hat, die für eine solidarischere Gesellschaft sorgen, als es sie vor ein paar Jahrzehnten gab. Dazu zählt zum Beispiel die „Ehe für alle“, die neuen Rechte von Minderheiten und die Diskursverschiebung hin zu einer allgemeinen Anerkennung der Klimakrise. Es wurden gleichzeitig natürlich auch große Fehler wie Hartz IV gemacht. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen im Niedriglohnsektor arbeiten müssen oder in Armut gebracht wurden. Wir müssen uns jetzt dafür einsetzen, Hartz IV so schnell wie möglich zu überwinden. Deswegen muss immer auch die Frage gestellt werden, ob die Forderungen, für die wir eintreten, zum Ziel einer gerechteren Gesellschaft führen. Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass es die richtigen Schritte sind, die wir machen – auch wenn ich das natürlich nicht in Gänze beurteilen kann.

Hans-Christian Ströbele: Ich begrüße vor allen Dingen auch Thomas Ebermann, weil ich mit ihm von 1985 bis 1987 zusammen in der Fraktion im Deutschen Bundestag saß und ihn zuletzt 1987 gesehen habe. Jetzt treffen wir uns hier wieder – das ist immer etwas Nettes.

Ich will mit drei Thesen beginnen. Erstens: Die Grünen waren nie eine linke Partei, sie wollten und konnten auch gar keine linke Partei sein. Zweitens: Die Grünen sind ein gesellschaftliches Erfolgsprojekt, das mitgeholfen hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Werte in Deutschland radikal zu verändern. Drittens: Die Grünen heute sind natürlich auch keine linke Partei, aber sie vertreten wichtige linke Inhalte.

Ich gehe erst einmal zurück in die Anfänge. Ich war an der Gründung der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz – so hieß der Vorläufer der Grünen in West-Berlin – beteiligt. Hier in Berlin setzten sich Ende der 1970er-Jahre Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zusammen, vor allem solche aus den sehr großen sozialen Bewegungen. Da gab es zum Beispiel die Anti-Atomkraft-Bewegung, die Frauenbewegung, die Friedensbewegung, die beispielsweise in Bonn Demonstrationen mit mehr als 100.000 Demonstranten veranstaltet hat. Sie alle beschlossen nach einigem Hin und Her, zusammen eine Möglichkeit zu schaffen, dass die Inhalte, für die sie bisher auf der Straße gewesen waren, nicht nur dort, sondern auch in den Parlamenten vertreten werden.

Es gab damals – zumindest in West-Berlin – das Bild von dem Standbein in den Bewegungen und dem politischen Spielbein in den Parlamenten. Das wollten wir umsetzen und dabei auf gar keinen Fall so werden wie die etablierten Parteien. Wir haben uns also zusammengesetzt und lange über eine gemeinsame Plattform diskutiert. Auch die Ökologie-Bewegungen waren dort als wichtiger Faktor dabei, deshalb hieß die Liste in Berlin Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz. Das hatte mit der Erhaltung der Wälder und der Umwelt, umweltfreundlichen Lebensformen und Ähnlichem zu tun. Es gab damals auch rechte Gruppierungen, die vor allem den „deutschen“ Wald verteidigen wollten – darauf hat Thomas Ebermann zu Recht hingewiesen.

Die linken Bewegungen in West-Berlin setzten sich damals einerseits aus den Undogmatischen, zu denen ich mich gezählt habe und die aus der APO übriggeblieben waren, und andererseits aus Vertretern der K-Gruppen zusammen. Es gab sechs kommunistische Aufbauorganisationen der Neuen Linken aus der APO-Zeit. Auch sie waren an diesen Diskussionen beteiligt und eine der Hauptfragen damals war, ob Mitglieder der KPD/AO, die hier in Berlin sehr stark war, gleichzeitig Mitglieder der Wahlsammelbewegung sein konnten. Kurz vor Gründung wurde dann entschieden, dass K-Gruppen-Mitglieder auch Mitglieder der Partei sein konnten. Ich bin in diese Alternative Liste ebenso wie Otto Schily nach der Gründung nicht eingetreten, obwohl ich an der Gründungsversammlung teilgenommen habe. Otto Schily gehörte auch zu denen, die zwar eine Sammlungsbewegung, aber auf keinen Fall in einen Topf mit den K-Gruppen geworfen werden wollten. Ich dachte damals, dass die KPD/AO in Berlin diese neue Sammlungsbewegung dominieren würde. Das ist dann aber nicht eingetreten, die K-Gruppen sind unter anderem an dieser gemeinsamen Mitgliedschaft zerschellt, es gab sie nach einem halben Jahr gar nicht mehr. So ähnlich war das auch mit anderen K-Gruppen.

Die Inhalte der neuen sozialen Bewegungen, aus denen die Leute stammten, kamen so auch in die grüne Bewegung. Das heißt: Schutz der Umwelt, Schutz anderer Lebensweisen, Gleichstellung der Frauen, Anerkennung der Homosexualität als eine normale Sexualität, Ablehnung von Kriegen und vieles mehr standen im Vordergrund. Wir hatten damals nicht die Vorstellung, dass wir irgendwann mal regieren müssten und unsere – zum Teil ja sehr radikalen – Vorstellungen dann auch in einer Regierung umsetzen könnten, allein oder in Koalitionen. Diese Vorstellung existierte nicht. Aber schon in der Gründungsphase wurden wichtige Inhalte realisiert, z.B. die Quotierung, nach der die Frauen genauso stark vertreten sein müssen wie die Männer – in der Partei, bei den Mandaten und auch in Vorständen. In diesen gesellschaftlichen Bereichen, einer radikalen, fast revolutionären Veränderung der Lebensverhältnisse – nicht der Kapitalverhältnisse – sind die Grünen ein Erfolgsprojekt. Vieles davon ist inzwischen Mehrheitsmeinung in der deutschen Gesellschaft. Insofern ist aufgegangen, was wir gesagt haben: Wir gehen in die Parlamente und propagieren da auch mit allem, was dazugehört, diese Inhalte. Besonders die Schwulenbewegung war ungeheuer erfolgreich – wenn mir damals einer gesagt hätte, dass Homosexuelle mal heiraten dürfen, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Gleiches gilt für die Abschaffung des Züchtigungsrechts gegenüber Kindern und Jugendlichen in den Schulen und Familien und die Gleichstellung der Frauen in der Ehe. In diesem Bereich haben die Grünen die Gesellschaft mit vielen anderen radikal verändert.

Es gibt viele Bereiche, in denen die Grünen schwierige Kompromisse oder sogar für mich untragbare Kompromisse gemacht haben. Das betrifft insbesondere die Frage der Kriegsbeteiligungen, also den Kosovo- und den Afghanistan-Krieg. Deshalb habe ich mich gegen beide gewandt und im Deutschen Bundestag dagegen gestimmt. Aber es gibt eben auch eine ganze Reihe wichtiger gesellschaftlicher Veränderungen, an denen die Grünen beteiligt waren und die heute Allgemeingut geworden sind. Und so sage ich heute: Ich sehe einiges kritisch, ich sehe auch das Wahlprogramm kritisch und das, was Parteivertreter der Grünen sagen, kritisch, aber ich war immer dafür, sich an Regierungen zu beteiligen, nachdem sich die Möglichkeit eröffnet hatte. Bei der rot-grünen Koalition, die dann 1998 etabliert wurde und sieben Jahre gehalten hat, ist das nur zu einem geringen Teil gelungen und wir haben jetzt ein Programm bei den Grünen, das viele der Irrtümer und Fehlentscheidungen von Rot-Grün korrigieren soll, will und muss. Deshalb gehe ich davon aus, dass es sich lohnt, da mitzumachen und wichtige positive Veränderungen der Gesellschaft weiterzutreiben. Den Kapitalismus abschaffen wird man nicht über die Parlamente und auch nicht mit den Grünen allein oder mit den Grünen in irgendwelchen Koalitionen.

ANTWORTRUNDE

TE: Ich kann nichts von dem, was meine Vorredner gesagt haben, substanziell teilen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen und aufhören soll. Die Bundestagswahlen sind ja deswegen so langweilig, weil die den demokratischen Konsens teilenden oder verkörpernden Parteien untereinander koalitionsfähig sind, sich also graduell unterscheiden, aber in allen prinzipiellen Fragen einer Meinung sind. Was soll ich machen? Soll ich jetzt auf die verschiedenen Landesregierungen verweisen? Soll ich fragen, ob der Ministerpräsident in Baden-Württemberg in irgendeiner Weise etwas Progressives verkörpert oder ob er ein enger Bündnispartner der dort ansässigen Automobilindustrie und ihrer Imperative ist? Soll ich aufzählen, dass die Grünen eine sowieso laufende Modernisierung kapitalistischer Produktionsweise zur Reduzierung von CO2-Ausstoß mitbefördern? Wobei doch behauptet wird, dass das kapitalistische Produzieren mit seiner notwendigen Konkurrenz auf dem Weltmarkt, mit seiner notwendigen Entwicklung von Produktivkraft und mit seinem notwendigen Ressourcenhunger die ökologische Krise nicht wird meistern können. Soll ich darauf hinweisen, dass die grünen Repräsentanten selbst ihre starke Verbundenheit mit den Imperativen der Weltmarktkonkurrenz betonen? Betonen, dass sie doch eigentlich das beste Programm für die wirtschaftliche Macht verkörpern und dafür sorgen wollen, dass ohnehin absterbende Industriezweige und Produktionsarten nicht ganz so lange alimentiert werden, wie von anderen Parteien vorgesehen? Dies alles ist wahnsinnig in der Langeweile und Alternativlosigkeit der Sachzwänge von heute gefangen.

Eine Partei transformiert sich, wenn sie kapitalistische Verhältnisse regieren will – und nicht erst, wenn sie es tut. Denn sie fängt an, Programme zu schreiben, die aus der Sicht des ideellen Gesamtkapitalisten eine bessere Realisierung der notwendigen Kapitalakkumulation, an der der Staat bekanntlich partizipiert und ohne die er nicht finanzierbar ist, herstellen will. Dieser Schritt, vernünftig zu werden, führt direkt dahin, den zunächst eigenen illusionären Realismus – wie er frühe Umbauprogramme gekennzeichnet hat – in einen Realismus der Machbarkeit und des Sachzwangs zu überführen. Diesen Prozess haben die Grünen hinter sich. Natürlich gibt es in jeder Partei Bedenkenträger – so wie Hans-Christian einer bei den Grünen ist, war das vielleicht Herr Eppler bei der SPD früher mal oder Peter von Oertzen oder es ist heute Kevin Kühnert. Aber diese Aussagen haben keine echte Wirkkraft in der Partei, die Dinge sind entschieden.

LM: Bei der Beurteilung einiger Landesregierungen sind wir zum Teil einer Meinung. Ich glaube auch nicht, dass wir die Klimakrise lösen können, wenn wir weiterhin in diesem kapitalistischen System leben. Es müssen darin zwangsläufig Menschen ausgebeutet werden und unsere Lebensweise geht zum Teil auf Kosten der Menschen im globalen Süden – da würde ich völlig zustimmen. Trotzdem will ich im Sinne meiner Generation und der Generationen nach uns stark dafür werben, dass wir trotzdem versuchen, Reformen zu erreichen, die auf die Klimakrise Antworten finden, und nicht darauf warten, dass wir das System abschaffen können, um dann dadurch die Klimakrise zu bekämpfen. Dafür haben wir keine Zeit mehr. Das heißt, wir müssen jetzt Maßnahmen beschließen, die uns helfen, wenigstens die Folgen einer Krise abzumindern. Ich will ungern warten, bis das System kollabiert und darunter diejenigen am meisten leiden, die jetzt schon am Existenzminimum leben, die die schlechtesten Voraussetzungen haben, sich vor den Auswirkungen der Klimakrise zu schützen. Das sind vor allem Menschen, die im globalen Süden leben: Frauen, Inter- und Transpersonen, Kinder, Schutzsuchende. Deswegen müssen wir weiterhin für diese wichtigen Projekte kämpfen. Ich sehe meine Verantwortung und die der Grünen Jugend auch darin, im Parteiprogramm der Grünen linke Projekte zu verankern, die Menschen konkret helfen. Dazu gehören Lösungen für die Klimakrise, die Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung einer guten Grundsicherung. Wir müssen uns immer Fragen: Wie können wir eine Umverteilung schaffen? Wie können wir die Symptome des Kapitalismus abmildern und eine lebenswertere Zukunft für alle nachfolgenden Generationen schaffen?

HCS: Ich will mal persönlich werden. Thomas Ebermann hat damals bei der Grünalternativen Liste (GAL) in Hamburg und bei den Grünen mitgemacht. Er ist gewählt und als Kandidat aufgestellt worden und ist dann für zwei Jahre im Bundestag gewesen – da wurde in Hamburg sauber rotiert. Wir haben die Rotation eingeführt, damit die Abgeordneten nicht zu lange im Bundestag sind und von den Zwängen, die dort herrschen, zu sehr beeinflusst werden. Damals warst du nach meiner Erinnerung auch nicht der Meinung – und der Meinung war ich nicht und der Meinung bin ich auch heute nicht –, dass die Grünen den Kapitalismus abschaffen wollen oder werden oder dass wir uns damals auf den Weg begeben hätten, den Kapitalismus abzuschaffen. Stattdessen wollten wir diese Möglichkeit nutzen, in der Öffentlichkeit für unsere Gesellschaftsanalysen und mögliche Fortschritte zu werben. Ich sage mal einen ganz bösen Satz: Wenn viele von den Linken wie Thomas Ebermann nicht nacheinander aus der Partei ausgetreten wären, dann wären die Grünen heute wahrscheinlich inhaltlich anders aufgestellt. Aber viele von denen, gerade auch die, die Einfluss hatten, haben sich dann zurückgezogen und etwas anderes gemacht. Das habe ich ihnen immer vorgeworfen. Ich bin immer dringeblieben, obwohl ich wusste, dass einige Entscheidungen unmöglich sind, aber ich habe mich immer bemüht, diese zu ändern. Beispielsweise habe ich immer für die Einführung der Vermögenssteuer gekämpft. Auf Parteitagen habe ich dafür immer 40 Prozent oder 43 Prozent Zustimmung bekommen, konnte mich aber nicht durchsetzen. Trotzdem habe ich weiter dafür gekämpft, weil ich wusste, wenn ich das den Leuten richtig klar machen kann, dann müssen die auch irgendwann einsehen, dass die Vermögenden mehr zur Gesellschaftsfinanzierung beitragen müssen.

Jutta Ditfurth und andere prominente Linke treten auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen 1991 in Neumünster unter großer Medienaufmerksamkeit aus der Partei aus²

Ein weiterer mir wichtiger Punkt, der jetzt völlig verloren gegangen ist in der Diskussion, ist: Die Grünen heißen ja eigentlich Bündnis 90/Die Grünen. Ich habe die schnelle Wiedervereinigung sehr kritisch gesehen, ich war da eher der Meinung von Lafontaine, dass die DDR noch eine Zeit lang bleiben sollte, bis mit unserer Hilfe einigermaßen gleiche Lebensverhältnisse hergestellt werden, um dann zusammenzukommen. Wir haben uns mit großen Teilen der Oppositionsbewegung, also den Revolutionären in der DDR, zusammengetan und daraus eine Partei gemacht. Das war nicht immer einfach, aber darunter waren auch viele überzeugte Linke, die dann bei den Grünen mitmachten. Einige davon haben sich dann auch zurückgezogen, aber das war ein wichtiger Akt, um Inhalte und Personen aus dieser revolutionären Bewegung in Deutschland zu übernehmen.

Solange ich lebe, werde ich genau aufpassen und bei den Grünen dabei sein, weil ich denke, es lohnt sich. Wir müssen allerdings immer wieder aufpassen, dass wir von den Parlamenten und den dortigen Zwängen weder äußerlich noch inhaltlich angepasst werden, sondern dass wir eine eigenständige politische Bewegung bleiben, die immer eine enge Verbindung zu den sozialen Bewegungen – wie jetzt beispielsweise Fridays for Future – hat. Da lege ich großen Wert drauf. Schon dafür muss es die Grünen geben, damit die sozialen Bewegungen zusätzliche Impulse für die Veränderung der Gesellschaft geben können. Ob dann irgendwann der Kapitalismus abgeschafft werden kann oder Zwischenformen entstehen, das kann ich heute nicht mehr voraussagen.

FRAGERUNDE

Thomas hat sein Statement mit einem Bezug auf Johannes Agnolis Begriff der „pluralen Fassung einer Einheitspartei“ begonnen, den Agnoli spätestens 1967 formulierte. Auch stellte dieser 1983 die Frage: Was machen die Grünen im Parlament? Wieso entschlossen sich Thomas und Hans-Christian, die explizit in Agnolis Tradition standen und offensichtlich heute noch stehen, dennoch für diesen parlamentarischen Weg? Thomas, du warst Teil des Kommunistischen Bundes (KB) und hast dich 1979 zusammen mit deinen Mitstreitern in der Gruppe Z bewusst zu einer Spaltung vom KB und zu einem Eintritt in die Vorgängerorganisationen und später zur Gründung der Grünen entschieden. Was waren dabei eure Beweggründe, welche Lehren hast du zu diesem Zeitpunkt aus der Erfahrung des KB gezogen? Lotte, wie siehst du das Verhältnis zwischen dem Versuch der Grünen Jugend (GJ) heute, innerhalb von Bündnis90/Die Grünen politisch zu wirken, und dem Versuch des ökosozialistischen Flügels in den 1980er-Jahren, innerhalb der Grünen zu wirken? Glaubst du, dass die GJ etwas Ähnliches wie der ökosozialistische Flügel tut oder denkst du, dass man das historisch nicht wirklich vergleichen kann? Hans-Christian, du hast erwähnt, dass sich die Berliner (GAL) 1978 dazu entschieden hat, KPD/AO-Mitglieder auf der GAL kandidieren zu lassen. Wie ordnest du diese Vorgänge im Verhältnis zum Scheitern des Sozialistischen Zentrums (SZ) 1968 ein, das eine Initiative aus Linkssozialisten und einzelnen Mitgliedern der illegalen KPD zum Wahlantritt 1969 war? Das SZ war am Konflikt über die Bewertung des Einmarsches der UdSSR in der Tschechoslowakei gescheitert. Siehst du in den Vorgängen 1978 Parallelen oder Unterschiede zu 1968?

TE: Ich fange an mit Johannes Agnoli, dem Autor einer Schrift, die – wahrscheinlich übertrieben – als die Bibel der APO bezeichnet wurde. Diese Schrift heißt Die Transformation der Demokratie und untersucht, wie die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft über die Pluralität an untergeordneten Fragen in der Parteienlandschaft befestigt wird und der Klassenantagonismus verschleiert wird. Johannes Agnoli war der Meinung, dass die Entwicklung der Grünen hin zu einer angepassten Partei feststehe. Auf einer unserer gemeinsamen Podiumsdiskussionen hat er dann folgende freundliche Gemeinheit in meine Richtung gesagt: „Thomas, erstens wird es so kommen, wie ich gesagt habe, und zweitens wirst du dann die Partei verlassen, weil du ein viel zu ehrlicher Genosse bist.“ Ich habe mich darüber nicht gefreut, sondern geärgert, weil ich dachte, die Grünen bergen mehr Chancen, als er ins Feld führte, aber er hat Recht behalten gegen mich. Johannes Agnoli war nicht der Meinung, dass man grundsätzlich das Parlament meiden sollte, sondern hat erwogen, ob es eine negatorische, den bestehenden Imperativen der Kapitalherrschaft nicht entsprechende Verwendung des Parlaments geben könnte, und das haben wir in der Zeit der ersten Bürgerschaftsfraktion in Hamburg versucht. Wir waren keineswegs reformschmähend. Das ist eine Lüge, die in dem Begriff „Fundamentalisten“ liegt. Wenn es um die Verteidigung von Rechten von gesellschaftlichen Gruppen oder Einzelnen ging, waren wir ganz gut präsent. Wir haben die Idee verfochten, dass eine unangepasste Opposition mehr erreicht als eine Regierungsbeteiligung.

Ich finde es etwas blödsinnig, so zu appellieren: „Du musst bleiben!“ Ich finde, man muss Niederlagen quittieren. Es gehört doch zu vielen linken Biografien, dass man etwas versucht, das fast unmöglich scheint. Man nennt das dann: „Man versucht den Tiger zu reiten“, und wenn man damit auf die Schnauze gefallen ist, dann geht man und man macht was anderes. Ich fordere doch auch keine Sozialdemokraten auf, für immer Sozialdemokraten zu bleiben. Man erlebt also eine biografische Niederlage, die viel Kraft kostet. Ich erinnere mich insbesondere auch an unsere nicht nur politizistischen, sondern theoretischen Anstrengungen. Wir haben wie verrückt über das Thema „Marxismus und Ökologie“ geschrieben und der gesamten Produktivkraftentwicklung und ihrer Destruktivität unter Bedingungen der Kapitalherrschaft auf dem damaligen Niveau unseres Wissens Geltung verschafft. In den 80er-Jahren war ich, bezogen auf Walter Benjamin und die Kritik des Fortschrittsbegriffs, kein belesener Mensch. Ich hoffe, dass ich seitdem klüger geworden bin, aber auf dem Niveau, das uns zur Verfügung stand, haben wir auch theoretisch recht klug publiziert und sind dann gegangen. Das sind biografische Ereignisse ohne historische Tragweite. Von historischer Tragweite ist so etwas wie die deutsche Wiedervereinigung oder der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“. Das hat reingehauen und ist überindividuell, aber doch nicht eine Niederlage bei einem gescheiterten Versuch. Das passiert manchmal im linken Leben und passiert bis heute.

Ein letztes: der Wahrheitsforscher oder Ideologiekritiker muss seine Anstrengungen in Abstraktion vom erwarteten Erfolg machen. Ich behaupte nicht, dass ich heute ein Erfolgsmensch bin. Ich weiß doch, wie viel geringer die Auflagen meiner Bücher sind im Verhältnis zu den 80er- und 90er-Jahren. Ich weigere mich nur anzuerkennen, dass es komplett erfolglos ist. Da wird ein Milieu übersehen und ich habe im Jahr durchschnittlich 50 bis 60 Auftritte. Manchmal ist die Zuhörerzahl größer, manchmal kleiner, aber durch eine trostlose Zeit kluge Gedanken zu tragen, hat doch Vorbilder, ist doch selbsttragend. Und wenn man mir das anheftet, sage ich: Danke! Das ist doch die Stellung der Kritischen Theorie in den 50er- und frühen 60er-Jahren oder die Stellung eines Rätekommunisten wie Paul Mattick mit seinem Werk Marx und Keynes. Das ist die Stellung von Erich Mühsam in der Weimarer Zeit, außenseiterisch zu sein. Und selbstverständlich geht ein Linker wie ich durch diese Gesellschaft als Fremder, als Nicht-Anklang-Findender. Es ist doch selbstverständlich, dass ich in den Wochen und Monaten der deutschen Wiedervereinigung mit dem nationalistischen Taumeln nichts anfangen konnte und es mir kalt den Rücken runtergelaufen ist. Ebenso wenn ich durch das Schanzenviertel, das als linkes Viertel gilt, gegangen bin in Zeiten des Sommermärchens und verzweifelt eine Kneipe suchte, in der nicht der deutschen Nationalmannschaft die Daumen gedrückt wurden. Die Fremdheit oder das Aus-der-Welt-gefallen-Sein ist doch keine Schande, sondern ist der Versuch, durch eine trostlose Zeit kluges, gesellschaftskritisches Denken zu retten, und das hatte mal den Namen Flaschenpost. Auch der Name Flaschenpost ist nichts Schmähendes, sondern stellt lediglich fest: Wir haben gegenwärtig kein Potenzial, das uns das Aufzeigen eines Weges vom bestehenden Falschen zum Besseren ermöglicht. Wir haben kein revolutionäres Potenzial, das wir in der Gesellschaft antreffen. Deswegen ist doch die Feststellung, dass der Kapitalismus heute nicht zu überwinden ist, ebenso trivial wie richtig. Ich tue doch nicht so, als könnte man das.

LM: Zu der Frage, ob die Grüne Jugend vielleicht eine ähnliche Rolle einnimmt wie der ökosozialistische Flügel: Ich kann das ehrlich gesagt nicht so gut einschätzen. Ich hoffe aber doch, dass wir als Grüne Jugend schon unserem eigenen Anspruch gerecht werden, ein kritisches Korrektiv in der Partei zu sein. Genauso wie andere Parteilinke auch. Das heißt zum einen natürlich, dass wir versuchen, auf Parteitagen Partei- und Wahlprogramme zu beeinflussen. Aber es heißt auch, dass wir Dinge zur Abstimmung stellen, die aussichtslos erscheinen, aber es trotzdem vielleicht schaffen, einige Diskussionen anzustoßen. Zur Bündnisarbeit: Das ist ein wichtiger Punkt, in dem die Grüne Jugend auf jeden Fall noch einmal einen Unterschied zu Bündnis 90/Die Grünen bieten kann, weil Bündnisse in unserer Gesellschaft einfach wichtige Aufgaben übernehmen und es auch schaffen, gesellschaftliche Stimmungen zu verändern.

HCS: Zu der Frage, ob bereits 1968 Überlegungen da waren, sich an Wahlen zu beteiligen: Natürlich ist über alles geredet worden, aber ich kann mich nicht erinnern, dass da ernsthafte Versuche unternommen oder propagiert worden sind, und ich war jedenfalls seit dem 2. Juni 1967 eigentlich auf allen wichtigen Veranstaltungen der APO in West-Berlin. Ich weiß, dass wir uns alle einig waren: erstens, dass wir eine Revolution brauchen und zweitens, dass der damals existierende Parlamentarismus zum Abgewöhnen war, gerade auch nachdem die SPD mit in die Große Koalition unter Kiesinger genommen wurde. Da waren wir ziemlich verzweifelt, schließlich war Kiesinger ein Altnazi und Willy Brandt war ein Emigrant, und vor allem schockierend war, was die SPD dann gemacht hat: Sie ist in die Koalition eingetreten, damit die Notstandsgesetze verabschiedet werden können.

Demonstranten, Zuschauer und Polizisten vor der Deutschen Oper in West-Berlin anlässlich des Staatsbesuchs des iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi am 2. Juni 1967³

Zum Parlamentarismus insgesamt kann ich nur sagen: Die vielen Jahre, die ich im Deutschen Bundestag verbracht habe – vor allen Dingen in Untersuchungsausschüssen – möchte ich nicht missen. Ich glaube, da kann man gemeinsam mit einer investigativen Presse einiges an Aufklärung leisten. Man kann viele Missstände, viele Skandale aufdecken, beispielsweise die NSU-Morde. Aber dass die wirkliche Entscheidungsfindung, wie wir in der Schule und an der Universität gelernt haben, im Parlament passiert, wo Leute im Plenum Reden und Gegenreden halten und dann überlegen, wer sie mehr überzeugt hat, ist eine Illusion. Das findet gar nicht statt. Deswegen braucht man da nicht hingehen. Die meisten Abgeordneten lesen das ab, was sie sich selber oder häufig auch ihre Mitarbeiter ihnen aufgeschrieben haben, ohne aufeinander einzugehen. Ich habe auch noch in meiner letzten Rede im Bundestag an die Kolleginnen und Kollegen appelliert, dass der Parlamentarismus, so wie er eigentlich nach dem Grundgesetz und nach den Gesetzen sein sollte, überhaupt nicht funktioniert. Die einen sind Koalition, die anderen Opposition, und das Zusammenspiel der beiden funktioniert nicht so, dass die einen die anderen überzeugen, sondern so, dass die einen sich immer nach der Regierung richten und die anderen nach der Opposition. Es darf nie ein Antrag der Opposition im Bundestag beschlossen werden, selbst wenn er noch so vernünftig ist. Und umgekehrt müssen Koalitionsabgeordnete auch immer für die Vorschläge der Regierung stimmen. Das ist ungeheuer frustrierend. Aber ich muss dazu jetzt selbstkritisch sagen: Wie die Räteregierung, von der viele in der APO- und Nach-APO-Zeit als Regierungsform der Zukunft träumten, funktionieren sollte, das hat mir damals auch keiner gesagt.

In der Geschichte der Linken war die Rolle des Staates immer von besonderer Bedeutung. Hans-Christian Ströbele hat erklärt, wie der Staat Rechte für gewisse Minderheiten in einem Maße hergestellt hat, wie er sich das früher nicht hätte vorstellen können. Thomas Ebermann hat davon gesprochen, dass der Staat die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten übernimmt. Schließlich kam auch die Frage auf, inwiefern der Staat die Bürgerinnen und Bürger in gewisser Weise zügeln muss, weil wir einen Lebensstil führen, unter dem die südliche Hemisphäre leidet. Der Staat scheint also sehr viele Rollen zu übernehmen. Was ist das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft, das eurer Politik zugrunde liegt, und wie seht ihr dieses insbesondere in Bezug auf die Klimakrise und die Maßnahmen, die dabei gesellschaftlich ergriffen werden müssen? Was ist die Rolle des Staates darin, was die Rolle einer linken Partei? Ich meine das explizit nicht eingeschränkt auf die Frage nach dem Parlamentarismus.

HCS: Erstmal zur Klarheit: Der Staat ist gerade auch das Parlament. Wir haben die drei Gewalten des Staates und da gehört das Parlament dazu. Du meinst wahrscheinlich eher die Regierung, also die Exekutive. Was soll und kann sie machen, um beispielsweise in der Klimakrise tätig zu werden? Wie unabhängig ist sie von dem, was Industrie und Kapital vorschreiben, wollen oder brauchen? Es gibt unendlich vieles, was der Staat heute tun muss. Denn wer soll sonst die notwendigen Maßnahmen veranlassen?

TE: Ich wollte darauf hinweisen, wie umfassend und kompliziert die Fragestellung ist, denn Staatstheorie spaltet sich bekanntlich auf in die allerverschiedensten Schulen. Historisch hat die Linke den Staat oder den bürgerlich-demokratischen Staat als bürgerliche Diktatur gefasst, als demokratisch gefasste bürgerliche Diktatur, und damit auf das Zwangsverhältnis, das der Staat ausübt und zusammenhält, hingewiesen. Da gibt es nun eine große Zahl von Modifikationen. Ein großer Modifikator ist Gramsci mit seiner Überlegung, dass der Staatsapparat nicht in erster Linie repressiv ist, sondern in der Gesellschaft um die Hegemonie gerungen wird und dadurch etwas beeinflussbar sei. In jüngerer Zeit sind zudem viele Linke von der Staatstheorie Poulantzas‘ inspiriert, die den Staat nicht als Ausdruck einer Diktatur über die Menschen, sondern als konzentriertes, gesellschaftliches Verhältnis fasst. Sprechen wir von einer verwalteten Welt in der Tradition der Kritischen Theorie und sprechen wir darüber, egal wie fern das ist, dass eine emanzipatorische Gesellschaft eine ist, die den Staat überwunden hat. Da gibt es bekanntlich zwei Auffassungen: die anarchistische Auffassung und die klassisch-kommunistische oder leninistische Auffassung, die sagt, dass eine Phase, die den schrecklichen Titel „Diktatur des Proletariats“ trägt – so hat Marx ja die Pariser Kommune gekennzeichnet – notwendig sei zur partiellen Unterdrückung des Klassenfeindes und dass in diesem Prozess der Staat, der sein Wesen schon verändert hat, abstirbt. Und dann gibt es natürlich eine historisch gewordene, „stalinistische“ Auffassung, die besagt, dass der Staat erstarken muss, um eines Tages absterben zu können. Der stehe ich selbstverständlich nicht nahe. All diese Fragen spielen im Hintergrund eine Rolle und es kommt mir unmöglich vor, sie in diesem Format ausargumentieren zu können.

Ich will deswegen wenigstens ein kritisches Wort sagen zur Ideologie der Zivilgesellschaft als dem entscheidenden Gegengewicht. Die Theorie der Zivilgesellschaft geht davon aus, dass fortwährend eine Korrektur staatlicher und kapitalistischer Maßnahmen durch ein angeblich vom Staat getrenntes zivilgesellschaftliches Milieu stattfinden muss. Sie setzt also die bestehende Gesellschaftsordnung als Konstante und diese müssen wir beeinflussen und kontrollieren. Das finde ich falsch. Die Verstaatlichung von Bewegungen war uns als Problem nicht ganz unbekannt. Du hast auf die Rotation verwiesen, Christian, als ein formales Gegengift dagegen, dass einzelne Menschen so wichtig werden, dass sie Parteien erpressen können. Ein weiteres Gegengift war der Facharbeiterlohn, das heißt das Versprechen, niemand könne sich bereichern durch Parlamentstätigkeit und Reputation. Wir haben das ziemlich rigide eingehalten. Und drittens das imperative Mandat, das heißt der Verzicht auf die Berufungsinstanz des eigenen Gewissens zugunsten der Ansage: „Was die Basis entscheidet, hat die Fraktion zu vollziehen“. Diese Ansage in Kombination mit den hilflosen Worten vom Standbein und Spielbein sollten Momente des Gegengewichts gegen die Integration einer Bewegung bieten. Alles ist in Vergessenheit geraten, zählt nicht mehr. Man wird wohlhabend durch die Tätigkeit, kann sich auf sein Gewissen oder sein Mandat berufen und ist dem imperativen Mandat und erst recht der Rotation keineswegs verpflichtet.

LM: Ich glaube ebenfalls wie Hans-Christian, dass das Parlament die Probleme der Klimakrise lösen muss. Bündnisse sind da wichtige Antriebspartner*innen, die das vorantreiben können. Sie sind außerparlamentarisch und bleiben das auch, aber sind leider notwendig, damit politische Parteien auch mal merken, dass die Klimakrise existiert. Und ich würde mir natürlich wünschen, dass es nach der Wahl eine Regierung gibt, in der Parteien sind, die wissenschaftliche Erkenntnisse ernst nehmen und auch anerkennen, dass wir keine Zeit mehr haben zu warten. Hoffentlich haben wir dafür auch die Mehrheiten nach der Bundestagswahl.

Lotte, haben die vergangenen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Grünen in Bezug auf deren radikalere Ausrichtung irgendeine Bedeutung für deine politische Arbeit? Und nochmal konkreter zum Ökosozialismus und der GJ: Ist heute etwas möglich, was damals nicht möglich war? Thomas, vielleicht ist es untergegangen, deshalb möchte ich noch einmal fragen: Warum seid ihr damals aus dem KB aus- und in die Grünen eingetreten? Was waren die Lehren aus den K-Gruppen, was das Potenzial der Grünen?

LM: Viele Errungenschaften der Grünen haben überhaupt erst dazu geführt, dass ich in der Grünen Jugend gelandet bin. Errungenschaften wie die Frauenquote haben gerade junge Frauen ermutigt, politisch aktiv zu werden. Aber auch Prinzipien wie Basisdemokratie versuchen wir in der Grünen Jugend zu verankern. Dabei nehmen wir auf jeden Fall Rückbezug zu Dingen, die vor uns auch schon diskutiert oder versucht wurden. So haben viele dieser Punkte auch Einfluss auf die Grüne Jugend jetzt. Meine Hoffnung ist, dass in Zukunft mehr jüngere Menschen in Parlamenten sitzen, was hoffentlich nach der Bundestagswahl auch durch Kandidierende der Grünen Jugend der Fall sein wird. Ich kann aber nicht einschätzen, ob es jetzt insgesamt mehr Möglichkeiten für linke Positionen in der Partei gibt als damals. Wir hoffen natürlich auf linke Mehrheiten innerhalb und außerhalb der Partei.

TE: Ich bin so unlustig, Kronzeuge gegen den KB oder gegen eine Vergangenheit zu werden, die von Mängeln behaftet war, aber die ich doch insgesamt, trotz der autoritären Wende nach der antiautoritären Phase des SDS, für eine wertvolle erachte. Wir hatten Mitte der 70er-Jahre in Hamburg mit weit über 100 Betriebsräten den Versuch unternommen, im Proletariat einen nicht sozialpartnerschaftlich, nicht dem Betriebsverfassungsgesetz und seinen Friedenspflichten und Schweigepflichten unterworfenen Pool zu bieten. Das ist zerschlagen worden und untergegangen, aber zeigte schon eine Größe und Dimension, die eine Bedrohung der kompletten sozialdemokratischen Hegemonie in den Gewerkschaften war.

Unser zweites emotionales Standbein, wovon wir rote Wangen bekommen haben, das war der Internationalismus. Wenn man so alt ist wie ich, dann ist sowohl der Vietnamkrieg als auch das vorläufig siegreiche Ende des Vietnamkriegs ein Impuls gewesen, das fälschlicherweise antizipierte mögliche Ende des Kapitalismus in Betracht zu ziehen – so auch die Niederschlagung der emanzipatorischen Bewegung in Chile. Das ging uns bis an die Nieren und wir haben riesige Veranstaltung dazu gemacht und versucht, das analytisch zu begreifen. Gibt es einen friedlichen Übergang zum Sozialismus? Die Nelkenrevolution in Portugal hat unsere Herzen und unseren Verstand ergriffen und selbstverständlich sind wir da hingereist. Mein Arbeitsschwerpunkt war die Entkolonialisierung, besonders der linken Befreiungsbewegung in dem ehemals von Portugal beherrschten Bereichen, also in Mosambik, Angola, Guinea-Bissau und Cabo Verde und einigen anderen Ecken der Welt. Dass mich das damals mit Enthusiasmus und vielleicht auch einem zu großen Vertrauen in den Befreiungsnationalismus ausgestattet hat, will ich gerne sagen, aber ich betrachte hier, wenn ich heute nach Mosambik oder Angola gucke, welthistorische Niederlagen, die mich nicht gut gelaunt sein lassen. Ich finde diese Verpflichtung auf Zuversicht etwas Unerträgliches und ich versuche, den Plauderton unseres Gespräches zu durchbrechen, indem ich immer wieder darauf hinweise: Der bürgerlichen Demokratie – ob mit den Grünen oder ohne die Grünen – wohnt trotz ihrer fortschrittlichen Momente in Form der Schwulenfrage, der Frauenfrage, der Stellung des unehelichen Kindes etc. die Barbarei inne. Ich kann nicht so plaudern über die Tatsache, dass jetzt auf den weltweiten Migrationsrouten Menschen in komplett unerträglichen Situationen leben müssen. Ich verweise darauf, dass die Schüsse an der deutsch-türkischen Grenze, die faktische nochmalige Außerkraftsetzung des Asylrechts, ein unglaublich barbarisches Potenzial aufgezeigt hat. Ich versuche auszudrücken: Ich bin verfeindet mit der bestehenden Gesellschaftsformation.

Ich habe eine Frage zum Thema Integration in die bestehende Ordnung, die man vielleicht auf den Grünen-Parteitag 1989 in Münster datieren kann. Meine Frage ist: Was an dieser Entwicklung war ein quantitativer und was ein qualitativer Wandel? Wie stand die Form, in der man seine Inhalte präsentierte – als „Anti-Parteien-Partei“ oder eben als Koalitionspartner der SPD – im Verhältnis zu den Zwecken, die man verfolgte? Und an Lotte: Wie stellt sich die Frage von grundlegendem Wandel und realpolitischem Agieren heute?

HCS: Ich will zwei Sätze dazu sagen, was Thomas Ebermann vorhin gesagt hat. Es wird heute sehr häufig übersehen, dass die Entwicklung der APO und alles, was sich danach in Deutschland entwickelte – und auch wieder aufgegeben wurde – überhaupt nicht aus einer nationalen Perspektive zu verstehen ist. Wir waren immer eine internationalistische Bewegung, also unendlich emotionalisiert, angetrieben von und beschäftigt mit den bisher hier nur angedeuteten Themen. Der Vietnamkrieg kann gar nicht in seiner Bedeutung überschätzt werden, aber dazu kamen auch die Verhältnisse in Lateinamerika, die dortige Befreiungsbewegung bis hin zu den Tupamaros, also den Stadtguerillas. Das hat so weit geführt, dass ein sehr kleiner Teil der APO dann auch hier meinte, die Stadtguerilla sei notwendig, man müsse also auch die Waffe in die Hand nehmen und militante Politik betreiben. Aber dieser Zusammenhang war immer da. Das war nicht nur die Musik, die international war, das waren die Probleme, das war auch ein großer Austausch und gerade emotional war man ungeheuer nah miteinander verbunden. Heute gibt es Grüne in Schweden, in den Niederlanden, in Österreich und so weiter, aber die verstehen sich nicht mehr als eine Bewegung oder eine Gesellschaft.

Nun zur zuletzt gestellten Frage: Der Unterschied ist ja schon im äußeren Auftreten im Deutschen Bundestag ganz offensichtlich. Also bei den Grünen ist das Argument: „Wir wollen nicht so sein wie die anderen!” völlig abhandengekommen. Diese ganzen Maßnahmen, die wir vorgesehen hatten, haben gerade mal eine Legislaturperiode gehalten. Das Einzige, was erhalten geblieben ist, ist die Quotierung und die Doppelspitze. Trotzdem sind die Unterschiede offensichtlich und man kann keinen Hund mehr bei den Grünen hinter dem Ofen hervorlocken mit dem Argument: „Aber wir wollen doch nicht so sein wie die!”

LM: Zu der Frage, ob man realpolitische Forderungen stellen sollte, nur damit man dadurch vielleicht mehr Wähler*innen gewinnen kann: Ich würde die Frage mit Nein beantworten. Das Ziel ist ja nicht, viele Wählerstimmen zu erhalten, wenn man dadurch seine Inhalte verliert oder seine Ziele nicht mehr umsetzen kann. Ich bin dafür, dass man versucht, mit den Inhalten, die man hat, Leute zu überzeugen. Ich finde, das gehört auch zu einer ehrlichen Politik dazu.

TE: Gefragt ist nach dem qualitativen Moment und ich konnte wegen der Kürze der Zeit nur andeuten, dass qualitativ etwas Neues passiert, wenn Linke glauben, kapitalistische Verhältnisse regieren zu können – wenn sie ihre oppositionellen Momente gegen das Bestehende eintauschen gegen die Behauptung, sie könnten diese Verhältnisse regieren. Wir sehen jetzt, dass Kräfte, die sehr viel Begeisterung, Empathie und Euphorie auf sich gezogen haben, etwas anderes geworden sind, sobald sie regieren wollten und regiert haben. Mein erstes Beispiel wäre SYRIZA in Griechenland. SYRIZA hat doch objektiv betrachtet die Verarmung der unteren Schichten der griechischen Gesellschaft organisiert, entlang des Diktats aus Brüssel und Deutschland. Erinnert euch an die Euphorie um Varoufakis. Erinnert euch daran und beobachtet, wie es jetzt beschrieben wird. Mein zweites Beispiel wäre Podemos in Spanien. Erinnert euch, mit welch großer Euphorie der Aufstieg dieser außerparlamentarischen Kräfte in Spanien, die dann in Parlamentarismus und Regierungsbeteiligung überführt wurden, hier von Linken begleitet wurde. Podemos zerfällt, geht kaputt und ist im Moment im Raum Madrid zur gehobenen Sekte regrediert.

Ich wollte ganz und gar nicht personalisiert diskutieren, aber jetzt traue ich mich das doch einmal, Hans-Christian. Der Moment, als wir wussten, dass wir ausgespielt hatten, war der Moment, als die Berliner Alternative Liste auf dem Duisburger Parteitag 1987 bekannt gegeben hat – und du hast damals den Antrag auf Nichtbefassung formuliert –, sie strebe eine rot-grüne Koalition in Berlin an. Dafür gab es eine große Mehrheit und ich dachte: „Gut, jetzt kannst du auch deinem Hobby frönen.“ Ich habe den Parteitag verlassen und mir ein paar Trabrennen in Dinslaken angeguckt. Wir sind anschließend nicht aufgrund eines Skandals ausgetreten, sondern haben gesagt: Diese Tendenz, kapitalistische Verhältnisse regieren zu wollen, ist in der grünen Partei mehrheitsfähig, und wir konzedieren, dass das der Mehrheit der Wähler der Grünen entspricht. Dass Joschka Fischer und Otto Schily einen größeren Zuspruch genießen als Jutta Ditfurth, Rainer Trampert, Thomas Ebermann und Christian Schmidt – dieser Moment der Niederlage ist von vielen nicht begriffen worden und ich weiß, dass wir unsere alte Ansage von 1980 ganz und gar nicht verwirklicht bekommen haben. Die lautete: „Wir gehen in die Grünen rein, das ist ein Experiment, und wenn sie staatstragend werden, werden wir sie wieder verlassen“ – kombiniert mit einer falschen Prognose: „Dann werden wir allerdings mehr mit rausnehmen, als wir reingebracht haben.“ Es war viel zu viel Beruf und materielle Absicherung im Spiel.

Spielt das Verhältnis von Theorie und Praxis bezüglich der Entwicklung der Partei für die Zukunft bzw. auch bezüglich der Entwicklung der letzten 40 Jahre eine Rolle? Mich würde auch interessieren, warum die Grünen Dinge wie das Rotationsprinzip und die Trennung von Amt und Mandat eingeführt haben – nur um eine Anti-Parteien-Partei zu sein oder gab es da tiefergehende Gründe? Wird die Praxis der Grünen heute in irgendeiner Weise innerhalb der Partei reflektiert? Hans-Christian, inwiefern haben diese Themen in der Vergangenheit eine Rolle gespielt und inwiefern spielt das für die Zukunft eine Rolle? Lotte, du hast Aspekte wie die Abschaffung von Machtstrukturen und Antikapitalismus angesprochen. Gibt es für diese Konzepte eine Grundlage, die irgendwie mit der Praxis in Beziehung steht? Thomas und Hans-Christian, was würdet ihr Lotte als politischen Rat mitgeben?

TE: Soll ich Lotte einen Rat geben? Ist gut, ich versuche es. Lotte, ich würde dich auffordern, für dich und deine Gruppe eine Grenze zu setzen, über die hinaus du nicht mitmachen kannst. Denn das ist die einzige Möglichkeit, die Fessel der Parteiloyalität nicht absolut werden zu lassen. Ich weiß nicht, ob du das jetzt als alt oder bevormundend empfindest, das will ich nicht, sondern ich will sagen: Jeder muss eine Grenze haben von Verbrechen, die dieser Staat begeht, deren Mitverantwortung man nicht teilen will.

Zu Theorie und Praxis möchte ich so wenig sagen wie: Die Theorie ist nicht die Taschenlampe, die die garantiert richtige Praxis beleuchten kann. Theoriebildung ist etwas, das häufig unabhängig von praktischer Möglichkeit gemacht werden muss und dient der Interpretation der Welt. Wir kennen ja die letzte Feuerbachthese: „Es kommt darauf an, die Welt zu verändern und nicht, sie nur zu interpretieren“, aber die Wertschätzung einer der Wahrheit verpflichteten aufklärerischen Interpretation ist ebenfalls sehr wertvoll. Es gibt einen Gedanken von Herbert Marcuse: Das Eingeständnis, dass wir keinen Weg vom bestehenden Falschen zum möglichen Besseren wissen, verpflichtet uns zur Negation. Das heißt zur Kritik und zum Nicht-Unterwerfen unter das Postulat: „Wie würdet ihr es dann besser machen?“ Und so endet Der eindimensionale Mensch, die bekannteste Schrift von Herbert Marcuse, mit einem sehr bedenkenswerten Bekenntnis zu einem Wort von Walter Benjamin: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“ Ich gebe zu, das ist kein großer Mutmacher. Das ist nichts, was die Stimmung hebt und uns zuversichtlich sein lässt, sondern das ist ein Postulat des Wissens, wie viele Menschen Opfer der großen Verweigerung oder des Versuchs, eine klassenlose Gesellschaft zu installieren, geworden sind und wie sehr wir auf deren Schultern stehen. „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“, ist ein sehr wichtiger Satz, der uns unabhängig macht vom täglichen Hin und Her in der politischen Praxis, in das ich selbstverständlich auch verstrickt bin. Ich sage noch einmal: Bei jeder halbwegs sinnvollen Demonstration bin ich dabei. Es geht darum, diese Kraft der Negation zu begreifen als notwendiges Element, auch in Zeiten, in denen es um linke Politik nicht so gut bestellt ist.

LM: Erst einmal zu dem Rat: Ich finde ihn sehr sinnvoll und empfinde ihn nicht als altbacken. Es ist superwichtig, Grenzen zu ziehen, ich werde das auf jeden Fall mitnehmen. Die Frage, wie man Machtverhältnisse durchbrechen kann, ist keine einfache, daran sind auch schon andere gescheitert. Das Wichtigste ist, dass man es schafft, Machtstrukturen zu hinterfragen, offen zu legen und transparent zu machen. So werden sie für weite Teile der Bevölkerung zugänglich und es ist leicht zu sehen, wo Ungerechtigkeiten vorliegen. Ein Beispiel ist, dass ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland 35 Prozent des Vermögens besitzt. Das ist eine große Ungerechtigkeit, die vielen Leuten gar nicht bewusst ist. Wenn man es schafft, ungerechte Machtverhältnisse offen zu legen, erhöht sich auch der Wunsch, etwas daran zu ändern. Daran müssen wir arbeiten.

HCS: Eine Ergänzung zu Thomas Ebermann: Es stimmt, dass die rot-grüne Koalition in Berlin damals ziemlich gescheitert ist. Ich war nachher beim Vollzug der Koalition nicht mehr beteiligt, aber ich habe den Koalitionsvertrag mitverhandelt. Die Gründe, warum dieser Versuch scheiterte, waren erstens, dass dieser Koalitionspartner unter der Führung von Walter Momper völlig abgedreht war, und zweitens die Wende in der DDR, die sich 1989 realisierte. Da geriet alles ins Rutschen.

Ich will mit einem Ratschlag aus der alten APO-Zeit enden, auch als Rat an die liebe Mitdiskutantin. Einem Prinzip versuche ich heute immer noch treu zu bleiben: Wir müssen alle Gewissheiten immer wieder hinterfragen und wenn wir die Gewissheit dann aufrechterhalten, dann sollten wir versuchen, danach zu handeln. Man muss natürlich sehr häufig Kompromisse machen, aber man sollte sich dann entweder mit Leuten, mit denen man das diskutieren kann, zusammen für diese gravierende Veränderung einsetzen oder eben nicht mehr Politik machen. Es darf nicht passieren, dass man sich mitreißen lässt oder aus Bequemlichkeit diese Gewissheiten aufgibt. Man sollte versuchen, standhaft zu bleiben. Die APO hat damit angefangen, dass sie alle Strukturen hinterfragte, zum Beispiel an den Hochschulen, Gerichten und Schulen. Die Frage war: Ist das eigentlich richtig so? Überzeugt mich das? Das sind wichtige Lebensmaximen. Ich glaube, dass die Chance besteht – ich habe riesige Skepsis, ob das so kommt – nach der Wahl wenigstens das Wichtigste, was getan werden muss, zu tun, um diese Gesellschaft in Deutschland und darüber hinaus lebensfähig zu halten. Dazu müssen wir in eine Regierung gehen, uns zusammentun und nicht angeblichen Zwängen unterwerfen, bei unseren Grundüberzeugungen bleiben. Das ist eine große Chance bei den Grünen, weil viele junge Leute gerade in die Partei eintreten, was man ja nur begrüßen kann. |P


1 Hans-Christian Ströbele ist am 29. August 2022 verstorben.

2 © Kasa Fue (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:BDK_Neumünster_Grüne_1991_2.jpg), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.

3 © Stiftung Haus der Geschichte (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ludwig_Binder_Haus_der_Geschichte_Studentenrevolte_1968_2001_03_0275.0140_(17051988346).jpg), „Ludwig Binder Haus der Geschichte Studentenrevolte 1968 2001 03 0275.0140 (17051988346)“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode.