RSS FeedRSS FeedYouTubeYouTubeTwitterTwitterFacebook GroupFacebook Group
You are here: The Platypus Affiliated Society/Ukraine: Mehr vom Immergleichen

Ukraine: Mehr vom Immergleichen

Platypus Review Ausgabe #26 | Juli/August 2023

von Chris Cutrone

Warum gibt es Krieg? Weil der Kapitalismus selbstwidersprüchlich ist, was sich in Konflikten unter Arbeitern wie unter Kapitalisten, zwischen „nationalen“ Arbeiterklassen und kapitalistischen Staaten, zwischen Politikern und politischen Parteien innerhalb von Nationalstaaten wie international ausdrückt. Solche Konflikte sind häufig gewalttätig. Aber daraus sollte man nicht schließen, dass die Ökonomie die Politik bestimmt. Ganz im Gegenteil. Aber ebenso wenig bestimmt die Politik die Ökonomie. Für den Marxismus bedeutet Politik „Klassenkampf“ und Klassenkampf bedeutet die Überwindung des Kapitalismus im Sozialismus – alles andere ist keine wirkliche Politik, kein Kampf um die Richtung unserer Freiheit, sondern darwinistischer Existenzkampf und Gangstertum: fressen und gefressen werden.1

Dementsprechend gibt es keine Übereinstimmung von ökonomischen und politischen Interessen. Es gibt nicht nur eine Unabhängigkeit zwischen Politik und Ökonomie, sondern auch innerhalb von Politik. Die marxistische Herangehensweise an den Sozialismus unterscheidet sich wesentlich von kapitalistischer (Pseudo-)„Politik“, insofern erstere – wenn auch nur vorübergehend in der Revolution – anstrebt, wirtschaftliche und politische Interessen im proletarischen Sozialismus auf einen Nenner zu bringen. Jedoch hat diese Angleichung keinen normativen Charakter, trifft auf keinerlei andere Form der Politik zu und besitzt zudem eine kritische Eigenschaft: Ökonomie und Politik sollen identisch gemacht werden, sodass sie durch ihre wechselseitige Widersprüchlichkeit überwunden werden können. Das ist der zentrale Punkt des Marxismus: Im Kapitalismus gleichen sich Ökonomie und Politik nicht nur nicht an, sondern stehen in diametralem Widerspruch zueinander. Die proletarisierte Arbeiterklasse ist das selbstwidersprüchlichste Subjekt des Kapitalismus. Die Arbeiter haben kein anderes objektives Interesse als ihre Selbstaufhebung als Arbeiter, obwohl sie ein subjektives Interesse an ihrer Selbstverwirklichung als Arbeiter haben.2 Individuelle und kollektive Interessen der Arbeiter sind widersprüchlich,3 wohingegen es bei der kapitalistischen Bourgeoisie so scheint, als hätte sie identische politische und ökonomische Interessen – sowie identische kollektive und individuelle Interessen –, als vertrete sie die Interessen der Gesellschaft als Ganzes auf eine nicht selbstwidersprüchliche Weise.

Dieser Mangel an Widersprüchlichkeit führt uns zum Gemetzel. Es gibt keinerlei Grund zu bezweifeln, dass der aktuelle Konflikt zwischen der Ukraine und Russland stattfindet. Es ergibt unter den gegebenen Umständen keinen Sinn zu behaupten, dass wir es mit einem Konflikt zwischen ukrainischen und russischen Kapitalisten zu tun haben, denen ukrainische und russische Arbeiter sowie andere Menschen unterworfen sind. Ebenso wenig ergibt es Sinn zu erklären, dass es sich um einen Konflikt zwischen Imperialismus und Antiimperialismus handelt – ob man nun die USA/NATO und/oder Russland als imperialistisch begreifen mag. Dies liegt nicht nur daran, dass der nationale Konflikt verschiedener Bevölkerungsgruppen älter als die gegenwärtige Krise ist – die Abspaltung mehrheitlich russischer Gebiete in der ukrainischen Donbass-Region und die Versuche ukrainisch-nationalistischer Milizen sowie der ukrainischen Regierung, diese zu unterdrücken –, sondern auch daran, dass es im aktuellen Konflikt keine Alternative zu kapitalistischer politischer Führung gibt. Erst eine Opposition, die eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Führung wäre, würde die derzeitige Führung zu einer spezifisch kapitalistischen machen und nicht einfach zu einer nationalistischen.4 Ukrainer und Russen haben schlicht die politische Führung, die sie haben, und dieser Umstand prägt das Wesen und den Charakter des Konflikts. Es bringt nichts, auf entgegengesetzte „zugrunde liegende Ursachen“ dieses Konfliktes außer den offensichtlichen hinzuweisen: Es ist wirklich Putin gegen Selenskyj; und ja, Selenskyj erhält Unterstützung, wenn auch bedingt, von den USA und der NATO (ebenso wie von der „internationalen Gemeinschaft“ im weiteren Sinne, das heißt von anderen kapitalistischen Führern, und auch Putin erhält derartige Unterstützung, selbst von den USA, zum Beispiel durch den Verkauf von Öl). Dass Krieg eine Horrorshow und eine erbärmliche Angelegenheit ist, wird in dem Bild rostiger russischer Panzer, die bei ihrem Einmarsch in die Ukraine abschwenken, um fliehende Autos zu vernichten und Wohnblocks in die Luft jagen, gut eingefangen. – In der Tat: überflüssige Arbeit, überflüssiges Kapital.5

Eine marxistische Herangehensweise hat daher, wenn überhaupt, wenig – vielleicht überhaupt nichts – über das hinaus beizutragen, was in Debatten über kapitalistische Politik bereits gesagt wird.6 Beispielsweise kritisiert der „realistische“ Professor für Internationale Beziehungen John Mearsheimer den US-amerikanischen politischen Konsens zwischen liberal-humanitärem Interventionismus und Neokonservatismus, der die Politik seit Jahrzehnten dominiert – Trump ausgenommen.7 Wie Christoph Lichtenberg von der ehemals spartakistischen, „trotzkistischen“ Bolschewistischen Tendenz vor Kurzem beobachtete, hat der konservative Fox News-Moderator Tucker Carlson eine akkuratere Analyse des Ukraine-Kriegs und seiner Ursachen als die meisten vermeintlichen „Marxisten“.8

Die „Linke“ hat sich angesichts der Ukraine entlang der Frage zerstritten, welchen kapitalistischen Politikern sie im gegenwärtigen Konflikt nacheifern und hinterherlaufen soll, wobei sie in ihrer üblichen Manier übermäßiger Sportbegeisterung johlend am Spielfeldrand steht. Manche innerhalb der „Linken“ haben sich hinsichtlich Russlands „Militäroperation zur Entnazifizierung“ der Ukraine als „Antifaschisten“ positioniert – ob aufseiten der Ukraine oder aufseiten Russlands. Andere innerhalb der „antiimperialistischen Linken“ lecken sich die Finger in der Hoffnung auf eine neue Antikriegsbewegung, die aus Angst davor, dass Kritik an der Biden-Regierung die ansonsten unvermeidliche Rückkehr Trumps als US-Präsident befördern könnte, nicht entstehen wird: Die „Linke“ in all ihren Spielarten wird wie immer dem Bedarf der US-amerikanischen Demokratischen Partei entsprechend ein- und ausgeschaltet. Die Demokratische Partei wiederum rührt die Trommel für einen Krieg gegen Russland, überzeugt von den eigenen Lügen über die „Russland-Absprachen“ Trumps und anderer Republikaner; sie versucht ohnehin verzweifelt, ihre bevorstehende Niederlage bei den Zwischenwahlen zum Kongress 2022 abzumildern, die in der endlosen Reihe ihrer Misserfolge von COVID über Kriminalität bis hin zur Inflation begründet liegt – und jetzt kommt auch noch die Ukraine dazu.

Die Millennial Linke wurde aus der gegen die Regierung George W. Bushs gerichteten Antikriegsbewegung geboren, die mit Obamas Wahl 2008 verschwand.9 Ihre Neubelebung in Form von Occupy Wall Street und anderen Anti-Austeritäts-Protesten infolge der Weltwirtschaftskrise mündete in der Wiedergeburt der Democratic Socialists of America (DSA) unter der Führung der Redaktion der Jacobin-Zeitschrift um Bhaskar Sunkara. Diese Entwicklung wurde durch Bernie Sanders‘ Präsidentschaftskampagne verstärkt, die Teil desselben historischen Moments wie die Wahl Trumps 2016 war.10 Es ist bezeichnend, dass die DSA heute angesichts des Krieges ambivalent bleibt: Weder sie noch irgendjemand sonst haben etwas Neues zu sagen. Der „Dritte Weltkrieg“ ist nur eine weitere 1980er-Neuverfilmung, die auf zahlreichen Streaming-Plattformen läuft. Condoleezza Rice hat einmal gesagt, dass sie nicht wolle, dass ein „Atompilz zum schlagenden Beweis“ werde, doch wir wissen, dass es so weit ohnehin nie gekommen wäre. Jetzt, nach dem Tod der Millennial Linken,11 kann 20 Jahre später eine neue Generation wieder zum Ausgangspunkt des furchterregenden Kriegsschauspiels zurückkehren. Genug Zeit ist vergangen, um den letzten Krieg vergessen zu haben und derselben Lehren erneut zu bedürfen12 – Lehren, die nicht gezogen wurden und die auch in Zukunft nicht gezogen werden.13 |P

Chris Cutrone ist Gründungsmitglied und Leitender Pädagoge der Platypus Affiliated Society. Sein Text erschien ursprünglich in der englischsprachigen Platypus Review #145 (April 2022): https://platypus1917.org/2022/04/01/ukraine-more-of-the-same/. Er wurde von Tobias Rochlitz ins Deutsche übersetzt.


1. Siehe meinen Brief „Platypus ‘position‘ on ‘imperialism‘“, veröffentlicht unter dem Titel „Platypus fuss“ im Weekly Worker Nr. 964 (30. Mai 2013) der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Online abrufbar unter: https://weeklyworker.co.uk/worker/964/letters/.

2. Siehe meinen Text „Die Diktatur des Proletariats und der Tod der Linken“, deutschsprachige Platypus Review Nr. 21 (September/Oktober 2022), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2022/08/31/diktatur_des_proletariats_cutrone/.

3. Siehe mein Eingangsstatement „The negative dialectic of Marxism“ für die öffentliche Podiumsdiskussion „The Politics of Critical Theory“ der Platypus Affiliated Society, deren Transkript in der englischsprachigen Platypus Review Nr. 140 (Oktober 2021) veröffentlicht wurde. Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/10/01/the-politics-of-critical-theory-2/.

4. Siehe meinen Text „Internationalism fails“, englischsprachige Platypus Review Nr. 60 (Oktober 2013), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2013/10/01/internationalism-fails/.

5. Siehe Moishe Postone: „Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus“, in: Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg 2005, S. 195–212. Online abrufbar unter: https://thecharnelhouse.org/wp-content/uploads/2018/03/Moishe-Postone-Geschichte-und-Ohnmacht-2005.pdf.

6. Siehe Spencer Leonard: „Nothing left to say: a critique of the Guardian’s coverage of the 2008 Mumbai attacks”, englischsprachige Platypus Review Nr. 10 (Februar 2009), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2009/02/03/nothing-left-to-say-a-critique-of-the-guardians-coverage-of-the-2008-mumbai-attacks/.

7. Siehe meinen Text „Warum nicht nochmal Trump?“, deutschsprachige Platypus Review Nr. 13 (Sommer 2020), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2020/07/25/warum-nicht-nochmal-trump/.

8. Siehe die öffentliche Podiumsdiskussion „Crisis in Ukraine! The Left and the Current Crisis” der Platypus Affiliated Society, die am 10. März 2022 in New York City stattfand. Online abrufbar unter: https://youtu.be/Uyoe5ml05LQ.

9. Siehe meinen Text „Iraq and the election: The fog of ‘anti-war’ politics”, englischsprachige Platypus Review Nr. 7 (Oktober 2008), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2008/10/01/iraq-and-the-election-the-fog-of-anti-war-politics/.

10. Siehe meine Texte „The Sandernistas: The final triumph of the 1980s”, englischsprachige Platypus Review Nr. 82 (Dezember 2015/Januar 2016), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2015/12/17/sandernistas-final-triumph-1980s/; „The Sandernistas: Postscript on the March 15 primaries” und „P.P.S. on Trump and the crisis of the Republican Party”, englischsprachige Platypus Review Nr. 85 (April 2016), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2016/03/30/the-sandernistas/.

11. Siehe meinen Text „The Millennial Left is dead”, englischsprachige Platypus Review Nr. 100 (Oktober 2017), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2017/10/01/millennial-left-dead/.

12. Siehe meinen Text „Afghanistan: After 20 and 40 years“, englischsprachige Platypus Review Nr. 139 (September 2021), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/09/02/afghanistan-after-20-and-40-years/.

13. Siehe meinen Text „1914 in the history of Marxism”, englischsprachige Platypus Review Nr. 66 (Mai 2014), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2014/05/06/1914-history-marxism/.