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PrÀfigurative Politik und die Linke

Platypus Review Ausgabe #25 | Mai/Juni 2023

von J. A. Koster

„Das Endziel des Sozialismus ist der einzige entscheidende Faktor, der die sozialdemokratische Bewegung von der bĂŒrgerlichen Demokratie und vom bĂŒrgerlichen Radikalismus trennt.“

Rosa Luxemburg (1908)

„Die neue Linke [...] versuchte, eine neue Politik der Beteiligung und des Prozesses zu begrĂŒnden.“

Wini Breines (1980)

„Die PrĂ€figuration macht den Prozess und das Ziel untrennbar; der Prozess wird zum Ziel.“

Marianne Maeckelbergh (2009)

Einleitung

In Kapitalistischer Realismus schreibt Mark Fisher, dass die Linke sich romantisch mit einer „Politik des Scheiterns“ identifiziert.1 Mit anderen Worten, die Linke ist nicht nur unfĂ€hig, sondern auch unwillig, sich eine Alternative zum Kapitalismus vorzustellen. Fisher zufolge mĂŒssen wir die „endlose Wiederholung historischer Debatten“ vermeiden und unseren Blick in die Zukunft richten.2 Viele junge Menschen haben Fishers Herausforderung angenommen und versuchen, den „kapitalistischen Realismus“ durch die Vorstellung von Alternativen in Gestalt verschiedener Formen direkter Aktion zu ĂŒberwinden. Dies wird oft als prĂ€figurative Politik bezeichnet. Ganz grundsĂ€tzlich bedeutet prĂ€figurative Politik, selbst die anvisierte VerĂ€nderung zu sein. Es ist das BemĂŒhen, die Gesellschaft zu verĂ€ndern, indem man das gewĂŒnschte Ziel in der Gegenwart umsetzt. Formaler ausgedrĂŒckt kann prĂ€figurative Politik als der Versuch definiert werden, den Widerspruch zwischen Mitteln und Zwecken zu ĂŒberwinden. Wenn das Ziel darin besteht, eine egalitĂ€re Gesellschaft zu schaffen, so das Argument, dann kann es weder eine Beziehung zu einem autoritĂ€ren kapitalistischen Staat noch zu irgendeiner bĂŒrokratischen oder hierarchischen Organisationsform geben. Der Schwerpunkt liegt daher auf direktem Handeln, gegenseitiger Hilfe und Selbstorganisation mit flachen Hierarchien und direkter demokratischer Entscheidungsfindung.

Einige der grĂ¶ĂŸten Proteste des letzten Jahrzehnts hatten prĂ€figurativen Charakter. Darunter Occupy und die Indignados-Bewegung (2011), die französischen zones Ă  dĂ©fendre (ZAD, 2011–18), die Gezi-Park-Proteste in Istanbul (2013), die Regenschirm-Bewegung in Hongkong (2014), die französische Versammlungsbewegung Nuit debout (2016), die Dakota Access Pipeline-Proteste in Standing Rock (2016) und die Capitol Hill Autonomous Zone in Seattle (2020). Hinzu kommen die von Gruppen wie Extinction Rebellion und Ende GelĂ€nde organisierten Klimacamps. Die meisten dieser Proteste nahmen die Form einer Besetzung an und errichteten semi-permanente Protestcamps. Diese Camps dienten einem praktischen Zweck – sie ermöglichten es den Protestierenden, ihren Protest aufrechtzuerhalten –, aber sie dienten auch als Modell fĂŒr eine alternative Gemeinschaft mit ihren eigenen Codes und Werten.

Eine prĂ€figurative Aktion muss nicht unbedingt die Form eines Protestcamps annehmen. Sie kann sich in verschiedenen Formen ausdrĂŒcken: Hausbesetzungen, soziale Zentren, gemeinschaftliche LebensrĂ€ume, Kooperativen, Gemeinschaftsprojekte und so weiter. Die Ziele und Themen, die angesprochen werden, sind ebenso breit gefĂ€chert. Die genannten Proteste richteten sich gegen PolizeibrutalitĂ€t, Klimawandel, Umweltverschmutzung, wirtschaftliche Ungleichheit und Änderungen des Wahlsystems. Es kann sogar rechte Formen der PrĂ€figuration geben. Bastion Social in Frankreich und CasaPound in Italien betreiben neofaschistische Gemeinschaftszentren, in denen verschiedene FreizeitaktivitĂ€ten organisiert werden. CasaPound hat eine eigene Band und Theatergruppe, einen Radiosender, einen Online-TV-Kanal und eine Monatszeitschrift. Beide Organisationen besetzen verlassene GebĂ€ude, in denen sie GemeinschaftsrĂ€ume einrichten, und organisieren Gemeinschaftsprojekte fĂŒr Arme (z. B. Wohnungskampagnen und Lebensmittelbanken), wovon Migranten jedoch ausgeschlossen sind.

Ich erwĂ€hne diese „faschistischen“ Initiativen, um eine Besonderheit der PrĂ€figuration hervorzuheben: Sie gibt kein Ziel vor. Obwohl der Ursprung der prĂ€figurativen Politik in der sozialistischen Tradition liegt, hat sie sich seitdem weit von ihren UrsprĂŒngen entfernt. Am hĂ€ufigsten wird sie mit dem Anarchismus in Verbindung gebracht. Zur Zeit von Occupy erschienen mehrere BĂŒcher, die die prĂ€figurative Politik dieser Bewegung mit dem Anarchismus assoziieren.3 Aber die Politik des Anarchismus ist nicht prĂ€figurativ, sondern anarchistisch. Es handelt sich um eine substanzielle Politik mit einem klar definierten Ziel – dem Sozialismus –, dem die Anarchisten ihre Mittel anzupassen versuchten. Die prĂ€figurative Politik hingegen ist eigentlich gar keine Politik, sondern eher eine Handlungsorientierung. Sie ist ein Anarchismus ohne Anarchismus, d.h. ein Anarchismus ohne Sozialismus. Die Verwirrung und Ungewissheit darĂŒber, was das Ziel eines linken Projekts sein sollte – beispielhaft dargestellt durch prĂ€figurative Politik –, fasst den Zustand großer Teile der post-politischen Linken perfekt zusammen.

Occupy

Das sichtbarste Beispiel fĂŒr prĂ€figurative Politik in jĂŒngster Zeit war die weltweite Occupy-Bewegung. Der unmittelbare Kontext fĂŒr Occupy waren die Folgen der Finanzkrise von 2008. VerĂ€rgert ĂŒber Bankenrettungen und Sparmaßnahmen und angestachelt durch die AufstĂ€nde des Arabischen FrĂŒhlings, besetzten Demonstranten Parks und öffentliche PlĂ€tze in 950 StĂ€dten in Europa und den Vereinigten Staaten.4 Sie lebten in Camps, die auf der Grundlage von radikaler Gleichheit und InklusivitĂ€t organisiert waren. Die meisten dieser Camps verfĂŒgten ĂŒber eine KĂŒche, eine Erste-Hilfe-Station und eine kleine Bibliothek. Die grĂ¶ĂŸeren verfĂŒgten ĂŒber zusĂ€tzliche Annehmlichkeiten. Das Protestcamp in Madrid beispielsweise hatte eine KĂŒche, in der dreimal tĂ€glich warmes Essen serviert wurde, einen Lern- und GesprĂ€chsraum, eine Bibliothek mit Tausenden von katalogisierten BĂŒchern, Wifi-Hotspots, ein Pressezentrum, einen Kindergarten, eine Erste-Hilfe-Station, Recyclingstellen und einen GemĂŒsegarten.5 Die Camps verfĂŒgten auch ĂŒber politische Institutionen. Diese waren die Generalversammlungen, in denen die Menschen Entscheidungen darĂŒber trafen, wie das Camp verwaltet werden und welche Ziele es verfolgen sollte. Die Generalversammlung war ein Instrument der direkten Demokratie, anhand dessen man Entscheidungen im Konsens zu treffen versuchte. Dies stellte sich als ein nahezu unmögliches Unterfangen heraus. Infolgedessen lag die meiste Initiative bei AffinitĂ€ts- und Arbeitsgruppen, die eigenstĂ€ndig arbeiteten. Beispiele fĂŒr Arbeitsgruppen sind die Arbeitsgruppe „Direkte Aktion“, in der sich alle Anarchisten sammelten, und die Arbeitsgruppe „Medien“, die alle Konten in den sozialen Medien verwaltete. Andere Arbeitsgruppen Ă€hnelten Denkfabriken und trugen Namen wie „Langfristige Politische Arbeitsgruppe“ und „Kurzfristige Politische Arbeitsgruppe“.6 Zusammengenommen bildeten diese sozialen und politischen Institutionen eine quasi autarke Gemeinschaft. Ein Journalist beschrieb Occupy Wall Street als eine „Stadt in der Stadt, eine kleine, funktionierende Demokratie“.7

Die Besetzer versuchten, ihre UnabhĂ€ngigkeit vom Staat zu bewahren. In Madrid skandierten die Demonstranten: „PSOE-PP, beides der gleiche Mist!“ (gemeint sind die wichtigsten Parteien der Linken und der Rechten). In New York lautete einer der Slogans: „Occupy everything, demand nothing!“ („Besetzt alles, fordert nichts!“). Sowohl in Spanien als auch in den Vereinigten Staaten lehnten es die Demonstranten ab, sich einer politischen Partei anzuschließen oder Forderungen an den Staat zu stellen. Sie hofften, eine autonome Bewegung zu schaffen, die ihre eigenen „Lösungen“ hervorbringen wĂŒrde, wie es die New Yorker Generalversammlung ausdrĂŒckte.8 Die Forderung nach einem Systemwandel ging jedoch Hand in Hand mit konkreten VorschlĂ€gen zur Reform des Systems. Im Zuccotti Park hingen Plakate mit der Aufschrift „End the Fed“, „Bring Back Glass-Steagall“ (eine Regulierungsvorschrift zur Trennung von Investment- und GeschĂ€ftsbanken) und „Abolish Corporate Personhood“. In Spanien sammelten die Demonstranten 15.000 VorschlĂ€ge, wie die „Demokratie verbessert werden kann“.9

Occupy Wall Street-Demonstranten besetzen den New Yorker Zuccotti Park am 17. September 201110

Die politische Vorstellungskraft von Occupy wurde von der Idee der Demokratie beherrscht. Als die Indignados auf der Straße demonstrierten, riefen sie „echte Demokratie jetzt!“, und in einer von der New Yorker Generalversammlung veröffentlichten ErklĂ€rung forderten die Occupy-Besetzer „wahre Demokratie“ (2011). Damit war die Demokratie aus den Camps gemeint, in welcher jeder zu Wort kommen durfte und alle dasselbe Mitbestimmungsrecht hatten. Occupy definierte sich nicht ideologisch – die Mitglieder sollten ihre Ideen in und durch die Generalversammlung eigenstĂ€ndig klĂ€ren. Der Prozess der konsensualen Entscheidungsfindung sollte „eine Vision fĂŒr eine neue politische Ordnung“ hervorbringen, wie David Graeber es ausdrĂŒckte.11 NatĂŒrlich war es so unmöglich, eine ideologische Einigung zu erzielen. Ein Besetzer berichtet, dass die politische Debatte sich als dermaßen umstritten erwies, dass sie fast sofort nach Beginn der Besetzung in New York eingestellt wurde.12 Occupy wollte ein radikal inklusiver Raum sein, in welchem die Vorstellung einer besseren Welt wachsen sollte. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass alle willkommen waren, unabhĂ€ngig von ihrer Ideologie, solange sie sich an die Regeln des „Prozesses“ hielten. Diese prĂ€figurative Art der Organisation hat sicherlich zum Erfolg (hinsichtlich des rapiden Wachstums) von Occupy beigetragen. Wie ein Besetzer es ausdrĂŒckte: „Was auch immer dein Problem war, du konntest [in den Zuccotti Park] kommen und eine Gemeinschaft mit anderen Menschen bilden, die VerĂ€nderungen sehen wollen.“13 Mit den Worten eines anderen Occupy-Besetzers: „Jeder, der frustriert oder wĂŒtend war oder irgendwelche Probleme hatte, die er angehen wollte, hatte das GefĂŒhl, dass dies seine Bewegung sein könnte.“14 Es war jener offene Charakter des Protests, der die Menschen einerseits in die Parks lockte und sie andererseits letztendlich abstieß. Es wurden nur wenige BeschlĂŒsse gefasst. Die Bewegung litt unter Ziellosigkeit und ideologischer Verwirrung, was eine Zeit lang produktiv gewesen war, sich aber letztlich als Belastung erwiesen hat. DarĂŒber hinaus hat Occupy sein Versprechen von Inklusion und Gleichheit nicht eingelöst. Die volle Teilnahme an den flachen hierarchischen Strukturen von Occupy war denjenigen vorbehalten, die einen flexiblen Zeitplan hatten. Studenten, professionelle Aktivisten und Freiberufler machten den Großteil der Occupy-Teilnehmer aus.15 Und obwohl Occupy behauptete, fĂŒhrerlos zu sein, bildete sich eine informelle FĂŒhrung heraus.16 Es war nur natĂŒrlich, dass Occupy seine eigenen Kader hervorbrachte. Aber da FĂŒhrungspositionen nicht anerkannt wurden, war weder klar, wer die AnfĂŒhrer waren, noch konnte irgendjemand zur Rechenschaft gezogen werden. Und schließlich war das System der direkten Demokratie der Generalversammlung dysfunktional. Viele dieser Lektionen mussten bereits VorgĂ€ngerbewegungen von Occupy erfahren.

Die charakteristischsten Merkmale von Occupy – die Entscheidungsfindung im Konsens, das People’s Mic, die Struktur der AffinitĂ€tsgruppen und des Sprecherrats, die Arbeitsgruppen, die progressive Stack-Kultur und sogar die Slogans – wurden von der Direct-Action-Bewegung ĂŒbernommen, die ihrerseits viele Merkmale von der Neuen Linken geerbt hat. Auf diese Geschichte mĂŒssen wir zurĂŒckblicken, um die Entwicklung der prĂ€figurativen Politik zu verstehen.

Die Neue Linke

Die Neue Linke ist aus dem selbst erklĂ€rten Bankrott des offiziellen Kommunismus hervorgegangen. Demografisch gesehen war sie die Rebellion der Babyboomer, die in einer Gesellschaft heranwuchsen, die ein nie dagewesenes Maß an Wohlstand erreicht hatte, konformistisch und patriarchalisch war und in der die Linke unter Stalins Einfluss konservativ und autoritĂ€r geworden war. Die Neue Linke lehnte daher die Alte Linke ab und verĂ€nderte das Wesen des politischen Widerstandes in entscheidender Weise. Erstens gab die Neue Linke die Vorstellung auf, dass die Masse der arbeitenden Menschen die TrĂ€ger des historischen Wandels sind, und betonte stattdessen die HandlungsfĂ€higkeit von Studenten, Intellektuellen, Frauen und ethnischen Minderheiten. Zweitens ersetzte die Neue Linke die Kritik an der Gesellschaft als Ganzes durch Aktivismus bezĂŒglich einer Vielzahl von Themen – BĂŒrgerrechte, Rechte von Homosexuellen, Frauenrechte, Abtreibungsrechte, der Vietnamkrieg, Meinungsfreiheit, Umwelt usw. Die Kritik an den kapitalistischen KlassenverhĂ€ltnissen wich einer moralischen und kulturellen Kritik der Konsequenzen des kapitalistischen Wohlstands. Drittens legte die Neue Linke im Gegensatz zu ihren VorgĂ€ngern großen Wert auf Kultur und betrachtete den Lebensstil als eine mögliche Form des Widerstands. Dies wurde spĂ€ter als „Gegenkultur“ bezeichnet. Dementsprechend entstanden in den 1960erJahren zahlreiche politisierte kulturelle Bewegungen: die Situationisten in Frankreich, die Provos in den Niederlanden, die Hippies, Yippies und Diggers in den Vereinigten Staaten und die Capelloni in Italien, um nur einige zu nennen.17 Schließlich lehnte die Neue Linke das Organisationsmodell der Parteien ab, welches sie als zu bĂŒrokratisch und hierarchisch ansah – ein Abbild der Gesellschaft, gegen die sie rebellierte. Ein Großteil der AktivitĂ€ten der Neuen Linken wurde von Studenten getragen, die sich in losen, halbautonomen Gruppen auf dem UniversitĂ€tsgelĂ€nde organisierten.

Doch dieses Bild der Neuen Linken ist nicht statisch. Mit dem Versuch, zur marxistischen Orthodoxie zurĂŒckzukehren, entwickelte sich die Neue Linke in Richtung einer Kritik an jedem der oben genannten Merkmale. Die Kategorie der Arbeiterklasse als revolutionĂ€res Subjekt wurde nicht verworfen, sondern erweitert. Die Kritik an spezifischen sozialen Fragen weitete sich zu einer Kritik des Kapitalismus als solchem aus. Teile der Neuen Linken betrachteten die Gegenkultur als eine bĂŒrgerliche Verirrung. Und schließlich fĂŒhrten die losen, horizontalen Organisationen der Studentenbewegung zu dem Versuch, eine Avantgardepartei aufzubauen. Die marxistische Wende der Neuen Linken in den frĂŒhen 1970erJahren entpuppte sich als eine Selbstkritik an vielem, was in der Neuen Linken neu war.

Die frĂŒhe Neue Linke zeichnete sich unter anderem durch ihren prĂ€figurativen Ansatz in der Politik aus. Dies lĂ€sst sich an der Politik und der Organisationsstruktur der Students for a Democratic Society (SDS) ablesen. Die 1960 als Campus-Organisation gegrĂŒndeten SDS versuchten aktiv, die Gesellschaft, die sie zu erreichen hofften, in ihrer Struktur, ihren Formen der Entscheidungsfindung und ihrer Organisationskultur widerzuspiegeln. Anstatt eine traditionelle, von oben nach unten gefĂŒhrte Institution aufzubauen, entschieden sie sich fĂŒr eine konföderale Struktur mit autonomen, auf dem Campus angesiedelten Sektionen, die von einem schwachen nationalen BĂŒro unterstĂŒtzt wurden. Die FĂŒhrer wurden im Konsens gewĂ€hlt und wechselten jĂ€hrlich, um zu verhindern, dass sie zu viel Macht anhĂ€uften. Die SDS versuchten, „MandatstrĂ€ger, Arbeitsteilung [und] zentralisierte Entscheidungsfindung“18 so weit wie möglich zu beseitigen. Der Grundgedanke war, dass eine neue Gesellschaft auf neuen sozialen Beziehungen aufgebaut werden muss, und zwar von neuen Menschen. In der Politik ging es nicht nur um Macht, sondern um die Schaffung einer neuen „Gemeinschaft“. Wie in der ErklĂ€rung von Port Huron bekrĂ€ftigt, bestehe die Aufgabe der Politik darin, die Menschen „aus der Isolation in die Gemeinschaft“ zu bringen und ihnen zu ermöglichen, „einen Sinn“ in ihrem Leben zu finden.19 Mit anderen Worten: Die unmittelbare Umgestaltung der sozialen Beziehungen war ebenso wichtig wie die Frage der Macht – und hatte oft Vorrang vor ihr. Greg Calvert, 1966–67 nationaler SekretĂ€r der SDS, war einer der unverblĂŒmtesten Verfechter der prĂ€figurativen Politik. Er argumentierte, der Kapitalismus zerstöre „die Art von Gemeinschaft, die menschliche Verbundenheit und Liebe möglich macht“.20 Das Ziel war, die „lieblose Anti-Gemeinschaft“ des Kapitalismus durch eine „Gemeinschaft der Liebe“ zu ersetzen: „WĂ€hrend wir fĂŒr die Befreiung der Welt kĂ€mpfen“, verkĂŒndete er, „wĂŒrden wir die befreite Welt in unserer Mitte schaffen“.21

Nach Ansicht von Calvert und anderen muss die Politik selbst umgestaltet werden, wenn das gewĂŒnschte Ziel erreicht werden soll. Die Mittel seien ebenso wichtig wie das Ziel. Anstelle der formalen Demokratie soll eine „partizipative Demokratie“ treten. Diese soll dem Einzelnen die HandlungsfĂ€higkeit zurĂŒckgeben, die der Kapitalismus ihm genommen hat. Sie wĂŒrde auch starke Bindungen schaffen und die Initiative fördern. Die SDS versuchten, die Kluft zwischen Mitteln und Zielen zu schließen, indem sie Gegeninstitutionen grĂŒndeten, die auf egalitĂ€ren Prinzipien beruhten. Sie grĂŒndeten „freie UniversitĂ€ten“, an denen Kurse ĂŒber alles Mögliche angeboten wurden, vom Marxismus ĂŒber Kunstgeschichte bis hin zur Organisation von Gemeinschaften. Einige Mitglieder der SDS lebten in Armenvierteln und organisierten die Bewohner in „Gemeinschaftsgewerkschaften“ (Economic Research and Action Project, kurz ERAP). Hier testeten die Organisatoren „Theorien der ‚partizipativen Demokratie‘ in der RealitĂ€t“.22 Studenten und Bewohner arbeiteten gemeinsam an Projekten, die von der MĂŒllabfuhr bis hin zu Kampagnen fĂŒr bessere Wohnungen reichten. Es gab keine Hierarchien, Entscheidungen wurden im Konsens getroffen. Die Bewohner wurden ermutigt, sich den Mitarbeitern anzuschließen; alle erhielten den gleichen Mindestlohn. Um eine Zentralisierung zu vermeiden, wurden alle Ämter abgeschafft. Damit sollte verhindert werden, dass sich die Macht in den HĂ€nden einzelner Personen oder eines einzelnen Ortes konzentriert. Das Ergebnis war jedoch, dass die Koordination unmöglich wurde. Jedes Projekt war eine Insel, völlig abgeschnitten von den anderen. In dem Rahmen, in dem sie erfolgreich waren, brachten die Projekte einen gewissen Nutzen fĂŒr ihre Mitglieder, aber darĂŒber hinaus erfĂŒllten sie keinen politischen Zweck. Im Sommer 1965 waren die meisten Projekte gescheitert und das Programm wurde eingestellt.

Als PrĂ€sident Johnson 1965 den Krieg in Vietnam verschĂ€rfte, wuchsen die Reihen der SDS. Als die Organisation an GrĂ¶ĂŸe zunahm, wurde das Fehlen einer formalen Struktur zu einem Problem. Immer mehr Mitglieder waren der Meinung, dass direkte Demokratie und Konsensentscheidungen nicht praktikabel seien. Die Hauptkritikpunkte sind uns bereits von Occupy bekannt. Erstens: Da es keine klaren FĂŒhrungsstrukturen gab, bildete sich eine informelle FĂŒhrung heraus, die erheblichen Einfluss ausĂŒbte, aber gegenĂŒber den Mitgliedern nicht rechenschaftspflichtig war. Da die FĂŒhrer hĂ€ufig wechselten, konzentrierte sich die Macht auf das nationale BĂŒro, was die organisatorische KontinuitĂ€t sicherte. Zweitens entdeckten die SDS, dass die direkte Demokratie in großen Gruppen ineffektiv war. Auf dem nationalen Parteitag war es oft unmöglich, einen Konsens in wichtigen Fragen zu erreichen. Das Gleiche galt fĂŒr die Ortsgruppen. „Obwohl viele von uns Abstimmungen fĂŒr undemokratisch halten“, so ein Organisator, „stellt sich wirklich die Frage, ob wir es uns leisten können, acht Stunden zu brauchen, um in jeder Frage einen Konsens zu erreichen“.23

Trotz dieser Kritik aus den eigenen Reihen der Organisation wurde nur sehr wenig unternommen, um sie anzugehen. Versuche der SDS-FĂŒhrung, VerĂ€nderungen herbeizufĂŒhren, wurden von einer Studentenschaft vereitelt, die der AutoritĂ€t misstraute. So wurde beispielsweise festgestellt, dass viele der neuen Rekruten wenig politische Bildung besaßen. Ein Vorschlag fĂŒr ein internes Bildungsprogramm zur Ausbildung neuer FĂŒhrungspersönlichkeiten wurde jedoch kritisiert, weil dies die „Kaderschulen“ der Alten Linken nachahmte, die als „autoritĂ€r“ angesehen wurden.24 Anstatt mehr Struktur einzufĂŒhren, drifteten die SDS in Richtung einer stĂ€rkeren Dezentralisierung. Im Jahr 1967 wurden die Ämter des PrĂ€sidenten und des VizeprĂ€sidenten abgeschafft.

1966 wurden die SDS von Carl Davidsons Prairie Power-Fraktion ĂŒbernommen, die sich selbst als anarcho-syndikalistisch bezeichnete. Auch andere Fraktionen entstanden. Insbesondere die Worker Student Alliance, eine Tarnorganisation der maoistischen Progressive Labor Party. Zum Zeitpunkt des Nationalkonvents 1969 gab es zwei große Fraktionen: das Revolutionary Youth Movement (RYM), zu der auch Prairie Power gehörte; und die Worker Student Alliance. Die SDS spalteten sich in zwei Teile. Doch das RYM spaltete sich sofort wieder, und zwar zwischen dem Weather Underground und den Gruppen, die schließlich die Neue Kommunistische Bewegung bilden sollten, eine Sammlung bekennender Marxisten-Leninisten, die sich an den Aufbau einer Avantgardepartei machten.

PrÀfiguration in der Alten und Neuen Linken

Der Begriff „prĂ€figurative Politik“ wurde von Carl Boggs, einem Professor fĂŒr Politikwissenschaft, geprĂ€gt, der Ende der 1960er-Jahre selbst an der Studentenpolitik auf dem Campus der UC Berkeley beteiligt war. In zwei 1977 veröffentlichten AufsĂ€tzen kritisierte er die Politik der Neuen Linken, die seiner Meinung nach durch zwei gegensĂ€tzliche Tendenzen gekennzeichnet war: Massenprotestpolitik auf der einen Seite und kleine leninistischen Sekten auf der anderen. Er verglich und kontrastierte diese Spaltung der Neuen Linken mit einer Ă€hnlichen Spaltung in der sozialistischen Tradition. RĂŒckblickend stellte er eine etatistische Tendenz (Leninismus, Sozialdemokratie) einer anti-etatistischen oder, wie er es nannte, einer „prĂ€figurativen“ Tendenz (Anarchismus und Linkskommunismus) gegenĂŒber. Boggs argumentierte, dass keine Strategie ihr revolutionĂ€res Versprechen einlösen konnte. Sie reproduzierten entweder den Staatskapitalismus oder fĂŒhrten zu Marginalisierung und politischer Irrelevanz. Daher plĂ€dierte Boggs fĂŒr eine „Synthese“ der beiden Tendenzen,25 d. h. fĂŒr die Integration von sozialer und politischer Aktion, wobei er sich offenbar nicht bewusst war, dass er die ursprĂŒngliche marxistische Position wiederherstellte.26

Boggs weist darauf hin, dass Strukturen der Selbstorganisation des Volkes in Form von Sowjets, Fabrikkomitees, Nachbarschaftsversammlungen usw. die Kontrolle durch die Arbeiter vorwegnehmen, aber auch „eine neue Quelle politischer LegitimitĂ€t“ bieten.27 Einerseits sind die Organe der zivilen Selbstorganisation den Gemeinschaften und Betrieben, in welchen sie verwurzelt sind, direkt rechenschaftspflichtig und antizipieren in diesem Sinne den Sozialismus. Andererseits hinge die politische LegitimitĂ€t einer sozialistischen Partei eben genau von solchen bestehenden Formen der Selbstorganisation der Bevölkerung ab. In diesem Sinne sind sie das Mittel, das die Selbsttransformation (d.h. die Selbstaufhebung) der bĂŒrgerlichen GesellschaftsverhĂ€ltnisse ermöglicht. Die SelbsttĂ€tigkeit der Arbeiterklasse hat also eine doppelte Funktion. Einerseits nimmt sie die Kontrolle der Arbeiter vorweg, indem sie Quellen „demokratischer Gegenmacht“ schafft.28 Andererseits begrĂŒndet sie die politische LegitimitĂ€t einer sozialistischen Partei, deren Ziel es ist, die Staatsmacht zu ergreifen, und macht damit das Problem des Kapitals zum ersten Mal in Theorie und Praxis fassbar (die Diktatur des Proletariats). In der marxistischen Tradition hat die soziale Aktion also einen doppelten Charakter: Sie prĂ€figuriert die Kontrolle der Arbeiter, antizipiert in diesem Sinne Sozialismus und ermöglicht den politischen Kampf um die Staatsmacht. PrĂ€figurative Strukturen – Organe der Selbstverwaltung des Volkes – sind am besten als Quellen sozialer Macht zu verstehen, die sowohl eine freie Gesellschaft antizipieren als auch die fĂŒr ihre Verwirklichung erforderliche politische LegitimitĂ€t liefern.

Es ist jedoch zu beachten, dass diese Formen der Selbstorganisation nicht identisch sind mit der Gesellschaft, die sie antizipieren. Was prĂ€figuriert wird, ist die Kontrolle durch die Arbeiter – die Revolution durch die Diktatur des Proletariats – und nicht der Sozialismus. Sobald die Arbeiter erfolgreich die politische Kontrolle ergriffen und die Produktion demokratisiert haben, kann man nicht mehr von einer Arbeiterklasse sprechen, und die dann entstehenden Gesellschaftsformen sind ungewiss. In dieser Übergangsphase sollen die gesellschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse die Verantwortung fĂŒr die Produktion und bestimmte Funktionen des Staates ĂŒbernehmen. Aber der springende Punkt ist, sich selbst ĂŒberflĂŒssig und Platz fĂŒr eine neue und andere Form der Gesellschaft zu machen, welche sich frei und nicht vorherbestimmt entwickeln soll – nicht eine freie Gesellschaft zu prĂ€figurieren und die Gesellschaft zu einem zuvor festgelegten Idealzustand zu fĂŒhren. Aus diesem Grund muss der Begriff der PrĂ€figuration kritisch betrachtet werden.

Im Mittelpunkt von Boggs’ Kritik steht die Spaltung zwischen sozialer und politischer Aktion. In der Neuen Linken werden diese durch gegensĂ€tzliche Tendenzen reprĂ€sentiert – spontane Massenaktionen versus kleine leninistische Sekten –, die beide an den Rand der Politik verdrĂ€ngt werden. Barbara Epstein bezeichnet dies als die „Spaltung zwischen Gegenkultur und Politicos“.29 WĂ€hrend die Politicos im Niedergang begriffen waren, blĂŒhte die gegenkulturelle Bewegung auf. Sie hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Bewegung der gewaltfreien direkten Aktion in den folgenden Jahrzehnten und schließlich auch auf Occupy. Die soziale Aktion – mit ihrer prĂ€figurativen Dimension – wurde zum dominierenden Element der Protestpolitik der Folgezeit, allerdings nicht im sozialistischen Sinne. Die Neue Linke verĂ€nderte den Charakter sozialer Aktion. Sie bedeutete nicht mehr eine Form sozialer Macht, die sich selbst aufheben wollte, sondern bekam einen positiven Inhalt, formulierte ein bestimmtes Sollen. Das war der sozialistischen Tradition fremd – dem Anarchismus ebenso wie dem Marxismus. Wenn die Sozialisten sich auf der Grundlage dessen organisierten, was ĂŒberwunden werden sollte, verliert die Praxis der 1960er-Jahre allmĂ€hlich diesen (selbst)kritischen Aspekt. Die Neue Linke „brachte einen neuen politischen Inhalt in die prĂ€figurative Tradition ein“ und versuchte, „persönliche und ‚Lifestyle‘-Fragen in die Politik zu integrieren“, sowie eine Reihe anderer Themen: „GesundheitsfĂŒrsorge, Kultur, Ökologie, usw.“.30

PrÀfigurative Politik und die postpolitische Wende

Die Entwicklung der Neuen Linken ist von einer zunehmenden Radikalisierung geprĂ€gt. Sie spaltete sich schließlich in diejenigen, die die Notwendigkeit einer sozialistischen Partei erkannten, und diejenigen, die darin einen RĂŒckfall in eine gescheiterte Tradition sahen und die ersteren, die New Left Marxists, fĂŒr die Zerstörung der SDS verantwortlich machten.31 Aber so wie die politischen Experimente der frĂŒhen SDS durch das Scheitern frĂŒherer Sozialisten motiviert waren, so wurde die marxistische Wende der spĂ€teren SDS durch das Scheitern der partizipativen Demokratie ausgelöst. Die Neue Linke scheiterte nicht nur einmal, sondern zweimal. In sozialer und kultureller Hinsicht war sie jedoch erfolgreich. Aber dieser kulturelle Sieg wird oft als ein politischer Sieg verkauft. Wie Daniel Cohn-Bendit schreibt, war die Neue Linke

ein Experiment, das völlig mit der Gesellschaft bricht, ein Experiment, das nicht von Dauer sein wird, das aber einen Blick auf eine Möglichkeit zulĂ€sst; etwas, das sich fĂŒr einen Moment zeigt und dann verschwindet. Aber das genĂŒgt, um zu beweisen, dass etwas existieren könnte.32

Mit anderen Worten: Nach prĂ€figurativen MaßstĂ€ben hatte die Neue Linke Erfolg. Boggs verwendete den Begriff PrĂ€figuration kritisch, um einen RĂŒckschritt im linken VerstĂ€ndnis von sozialem Handeln bewusst zu machen. In der spĂ€teren Geschichte wird der Begriff jedoch fast immer affirmativ verwendet, um die AktualitĂ€t zukĂŒnftiger sozialer Beziehungen in der Gegenwart zu kennzeichnen.

Wini Breines war die Erste, die das Konzept in dieser Weise verwendete. In den frĂŒhen 1980erJahren versuchte Breines, die politischen Experimente der frĂŒhen SDS fĂŒr eine neue Generation von Aktivisten wiederzubeleben. Die SDS, so argumentierte sie, „versuchte[n], die Saat der Befreiung und der neuen Gesellschaft [...] durch Vorstellungen von partizipatorischer Demokratie auf der Grundlage von Gegeninstitutionen zu entwickeln; das bedeutete den Aufbau von Gemeinschaft“.33 Das Ziel der prĂ€figurativen Politik ist nicht der Aufbau des Sozialismus, sondern der Aufbau der Gemeinschaft. Der Unterschied ist wichtig, weil der Sozialismus einen zukĂŒnftigen Zustand bezeichnet, wĂ€hrend Gemeinschaft „innerhalb der lebendigen Praxis der Bewegung“34 verwirklicht werden kann. Mit „Gemeinschaft“ meint Breines „nicht-kapitalistische“ soziale Beziehungen.35 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kapitalismus und Gemeinschaft sich gegenseitig ausschließen. Gemeinschaft ist ein Effekt des demokratischen Prozesses, argumentiert sie. Sie kann durch die „Abschaffung von FĂŒhrungspersönlichkeiten, Ämtern, [...] [und] zentralisierter Entscheidungsfindung“ erreicht werden.36 Der Kampf fĂŒr eine bessere Gesellschaft findet seine unmittelbare Verwirklichung in der Gemeinschaft der Protestbewegung.

Breines, die an der Schwelle zu den 80er-Jahren steht, artikuliert eine post-politische Politik, die auf menschliche Verbundenheit und persönliche VerĂ€nderung abzielt. Diese Politik ist zwar in der Neuen Linken verwurzelt, reflektiert aber nicht so sehr deren UrsprĂŒnge, sondern naturalisiert deren fragwĂŒrdigste Merkmale. Breines zufolge lag der Erfolg der Neuen Linken darin, dass sie den „Wunsch der Menschen nach Verbundenheit, sinnvollen persönlichen Beziehungen und direkter Beteiligung [an der Entscheidungsfindung]“ befriedigte.37 Es handelt sich um eine Politik der Form, eine Politik, die versucht, formale Arten und Weisen der Interaktion und Entscheidungsfindung zu verĂ€ndern, wĂ€hrend sie ihrem Inhalt, dem Austausch von Arbeit, wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das Ziel der prĂ€figurativen Politik ist es, Gemeinschaft zu schaffen. Folglich ist das Erfolgskriterium der prĂ€figurativen Politik nicht streng genommen politisch, sondern sozial. Dass es der Neuen Linken nicht gelungen ist, das politische System in seiner jetzigen Form partizipativer zu gestalten, gilt als unwichtig. Was als wichtig angesehen wird, ist, dass sie ihren Teilnehmern einen Einblick in eine mögliche Gesellschaft bot und es ihnen ermöglichte, in diesem Prozess sinnvolle Verbindungen zu knĂŒpfen. Breines argumentiert, dass die Neue Linke politischen Erfolg neu definiert hat. Sie fordert uns auf, „die Neue Linke mit ihren Augen zu sehen, mit Augen, die bestimmte Vorstellungen von Politik nicht akzeptierten“.38 Dreißig Jahre spĂ€ter kann man dasselbe ĂŒber Occupy sagen. Marisa Holmes, eine der wichtigsten Organisatorinnen der Bewegung, schreibt, dass die Kritik an Occupy „oft auf ErfolgsmaßstĂ€ben beruht, die nie geteilt wurden. O[ccupy] W[all] S[treet] hat keine großen Reformen erreicht, keine politischen Ämter gewonnen oder die Regierung gestĂŒrzt – all das ist wahr. Aber [...] OWS war ein Erfolg auf seine eigene Art“.39

Breines Darstellung der Neuen Linken ist weniger von den 1960er- als vielmehr von den 1980er-Jahren geprĂ€gt. Die Bewegung der gewaltfreien direkten Aktion der 1980er-Jahre ist stark kultur- und lebensstilorientiert, organisiert sich ausschließlich zu einzelnen Themen, misstraut jeder Form von AutoritĂ€t und gehört ĂŒberwiegend der Mittelschicht an. ZusĂ€tzlich zu den Experimenten der Neuen Linken mit flacher Hierarchie und partizipatorischer Demokratie ist sie von einer bestimmten Art von Anarchismus, Feminismus und verschiedenen Formen der SpiritualitĂ€t (QuĂ€kertum, Heidentum, New Age) inspiriert. Ein Beispiel fĂŒr die gewaltfreie direkte Aktion ist die Anti-Atomkraft-Bewegung, die durch die Eskalation des Kalten Kriegs in den Reagan- und Thatcher-Jahren ausgelöst wurde und zu einer Reihe von Besetzungen und Blockaden von Atomanlagen fĂŒhrte. In den Jahren 1982 und 1983 versuchten Aktivisten beispielsweise, eine Kernwaffenforschungseinrichtung außerhalb von Oakland, Kalifornien (das UC Lawrence Livermore Laboratory), zu schließen, und 1981 marschierte eine Gruppe von Frauen auf den Royal Air Force-LuftwaffenstĂŒtzpunkt Greenham Common, um gegen die Entscheidung zu protestieren, dort amerikanische Atomwaffen zu stationieren. Sie errichteten ein „Frauen-Friedenscamp“ als Symbol des Widerstands gegen die ihrer Meinung nach „von MĂ€nnern beherrschte Welt der Atomwaffen“.40

Die Bewegung der direkten Aktion verfolgt zwei Ziele. Erstens, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ein Thema zu lenken. Zweitens, sich selbst zu reproduzieren, d.h. eine Bewegung zu schaffen, die sich zu weiteren direkten Aktionen verpflichtet. Das zweite Ziel wird durch die Schaffung eines GemeinschaftsgefĂŒhls erreicht. Barbara Epstein stellt fest: „Alle charakteristischen Merkmale der Bewegung fĂŒr direkte Aktionen – die Konzentration auf zivilen Ungehorsam, der Konsensprozess, der nicht-hierarchische Organisationsstil – zielen darauf ab, eine enge Gemeinschaft zu schaffen.“41 Was als „die Bewegung“ bezeichnet wird, ist im Wesentlichen eine Gruppe von Freunden. Dies ist eine ihrer grĂ¶ĂŸten SchwĂ€chen. Da „die Bewegung“ durch persönliche Bindungen zusammengehalten wird, kann es zu plötzlichen BrĂŒchen kommen, wenn sich die Leute zerstreiten oder den Kontakt verlieren. Lehren, die man hĂ€tte ziehen können, werden nicht gezogen, und bei der nĂ€chsten Runde von Aktionen werden die gleichen Fehler gemacht.42 Brooke Lehman, eine Aktivistin bei den Anti-WTO-Protesten in Seattle, beklagte, dass Occupy es versĂ€umt habe, wertvolle Lehren aus der Anti-Globalisierungsbewegung zu ziehen. Dies ist jedoch unvermeidlich, wenn die Notwendigkeit einer formalen Organisation abgelehnt wird. Es besteht eine grundlegende Spannung zwischen dem Wunsch nach einer prĂ€figurativen Gemeinschaft und der Notwendigkeit von Organisationsformen, die den hierarchischen und disziplinierten Organen des Staates entgegentreten können.

Demonstranten der Anti-WTO-Proteste ziehen am 29. November 1999 durch Seattle (USA)43

Die direkte Aktionsbewegung ist davon ĂŒberzeugt, dass das Protestcamp oder die Gemeinschaft eine Alternative prĂ€figuriert. Man könnte sagen, dass sie ein Problem aufgreifen und es innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft performativ lösen. „Seht her“, scheinen die Demonstranten zu sagen, „wir haben ein Modell fĂŒr eine bessere Gesellschaft geschaffen“. Aber was fĂŒr eine Gesellschaft stellen sie sich vor? Eine Gesellschaft ohne klare und Verantwortung tragende FĂŒhrung, in der man nur sich selbst und einer Gruppe von Gleichgesinnten Rechenschaft schuldig ist, in der es wenig Kommunikation ĂŒber Zugehörigkeitsgruppen hinweg gibt, in der Protest ein Ausdruck persönlicher IdentitĂ€t ist, in der die Gesellschaft auf den Status einer Gemeinschaft zurĂŒckgestuft wird – all diese Merkmale weisen auf den Neoliberalismus zurĂŒck: die „Obsoleszenz“ der Gesellschaft und die „Befreiung“ der individuellen IdentitĂ€t.

Der Formalismus prÀfigurativer Politik

Wenn wir uns die Geschichte der Bewegung der direkten Aktion anschauen, sehen wir, dass die Methoden der direkten Demokratie und der antiautoritĂ€ren Organisation im Rahmen einer bestimmten Aktion angewendet werden. Das Ziel – das von der Besetzung einer Baustelle bis zur Blockade einer Straße alles sein kann – wird im Voraus festgelegt. Die direkte Demokratie ist ein Mittel zum Zweck, d.h. ein Mittel zur Koordinierung einer Aktion. Sie ist aber auch insofern ein Selbstzweck, als sie egalitĂ€rere soziale Beziehungen prĂ€figuriert. Da die Aktion fast immer scheitert, liegt der Schwerpunkt auf dem prĂ€figurativen Aspekt. Bei Occupy war dies mehr denn je der Fall. Occupy hat weder ein Kraftwerk noch eine WTO-Tagung lahmgelegt. Die Besetzung von Parks und PlĂ€tzen diente keinem anderen konkreten Zweck als dem, die Unzufriedenheit der Demonstranten zu registrieren. In diesem Sinne brachte Occupy alle WidersprĂŒche der Bewegung der direkten Aktion in gesteigerter Form zum Vorschein, insbesondere ihren ausschließlich formalistischen Charakter.

PrĂ€figurative Politik kritisiert, dass der Staat hierarchisch von oben nach unten eingerichtet und zentralisiert ist. Dem setzt sie ein System entgegen, das von unten nach oben, partizipativ und dezentralisiert ist. Das Problem der Politik ist aus dieser Sicht, dass sie eine breite Beteiligung an der Entscheidungsfindung verhindert. Aus marxistischer Sicht ist jedoch nicht die Regierungsform das Problem, sondern der Selbstwiderspruch der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse, der den Staat notwendig macht. Das Problem des Staates besteht nicht darin, dass er nicht ausreichend integrativ oder partizipativ ist, sondern dass er Ausdruck eines realen gesellschaftlichen Widerspruchs ist. In Was ist revolutionĂ€re FĂŒhrung? kritisierte Cliff Slaughter diese Tendenz zum Formalismus in der libertĂ€ren Linken, die in der BĂŒrokratie den Hauptfeind der Gesellschaft sah. Slaughter konterte:

Es sind nicht bĂŒrokratische oder autoritĂ€tshörige Individuen, die das Leben der Menschen beherrschen [...], sondern die Macht des Kapitals [...] Unser Ziel ist nicht die abstrakte ‚Aufhebung der Unterscheidung zwischen Befehlsgebern und BefehlsempfĂ€ngern‘, sondern der politische Umsturz der [kapitalistischen] Klasse.44

Die prÀfigurative Politik befasst sich mit der Form sozialer Interaktionen, ignoriert aber deren Inhalt, d.h. den Selbstwiderspruch des Austauschs von Arbeit.

Aufgrund ihres Formalismus ist der Anti-Etatismus der prĂ€figurativen Politik nur oberflĂ€chlich. Sobald der Staat anfĂ€llig fĂŒr VerĂ€nderungen zu sein scheint, versöhnen sich die Aktivisten mit ihm. Das erklĂ€rt, warum die Occupy-Besetzer ihre Prinzipien so leicht aufgaben. Nachdem sie aus ihren Lagern vertrieben worden waren, wandten sie sich der elektoralen Politik zu und taten all das, was sie theoretisch abgelehnt hatten. David Graeber, der geschrieben hatte, dass „progressiver Wandel nicht durch Wahlen möglich ist“, stellte sich hinter Jeremy Corbyns Kandidatur fĂŒr die Labour-ParteifĂŒhrung.45 In den Vereinigten Staaten schlossen sich viele Occupy-Mitglieder dem Senator Bernie Sanders an, der „die Interessen der 99% in den Vordergrund stellte“.46 Als es ihnen nicht gelang, innerhalb der kapitalistischen Parteien, in die sie opportunistisch eintraten, greifbare Ergebnisse zu erzielen, kehrten die Occupy-Mitglieder auf die Straße zurĂŒck. Winnie Wong, eine ehemalige Occupy-Aktivistin, die daran scheiterte, Sanders zum Sieg zu fĂŒhren, behauptete: „Es ging nie darum, Bernie Sanders zu wĂ€hlen [...]. Es ging darum, eine Bewegung zu schaffen“.47 Dabei wird ĂŒbersehen, dass „die ‚Bewegung‘ immer nur als eine Drucktaktik auf gewĂ€hlte AmtstrĂ€ger verstanden wird“.48 Wahlkampagnen und Bewegungsaufbau sind einfach zwei Seiten derselben Medaille, komplementĂ€re Werkzeuge im Werkzeugkasten des Aktivisten. Wir haben uns von der dialektischen Wechselwirkung zwischen sozialer und politischer Aktion (im Dienste der Überwindung des Kapitalismus), wie sie der Marxismus vorsieht, zur Antinomie von Bewegung und Elektoralismus (als bloße Drucktaktik auf gewĂ€hlte AmtstrĂ€ger) zurĂŒckentwickelt. Solange dieser Widerspruch nicht kritisch aufgearbeitet wird, wird die Linke weiterhin zwischen diesen Polen pendeln. |P

Der vorliegende Text wurde als Teach-In auf der V. Platypus European Conference am 10. September 2022 an der UniversitĂ€t Wien auf Englisch vorgetragen. Er wurde von Johannes KĂ€mper ins Deutsche ĂŒbersetzt. J. A. Koster ist Mitglied der Platypus Affiliated Society. Das Teach-In einschließlich der darauffolgenden Diskussion kann hier angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=y9ahlk7O5ds.


1. Mark Fisher: Capitalist Realism: Is There No Alternative?. Winchester 2015. [Alle Zitate wurden eigenstĂ€ndig ins Deutsche ĂŒbersetzt].

2. Ebd.

3. Mark Bray: Translating Anarchy: the Anarchism of Occupy Wall Street (epub). Winchester 2013; David Graeber: The Democracy Project: A History, a Crisis, a Movement (epub). New York 2013.

4. Anna Feigenbaum, Fabian Frenzel und Patrick Mc Curdy: Protest Camps. London 2013.

5. StĂ©phane M. Grueso: 15M “Excelente. Revulsivo. Importante”. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Z5fsxKIMDNU&ab_channel=proyecto15Mcc ; Julia RamĂ­rez Blanco: Artistic Utopias of Revolt: Claremont Road, Reclaim the Streets, and the City of Sol. London 2018.

6. 15M: Acampada Sol. 2022. Online abrufbar unter: https://15mpedia.org/wiki/Acampada_Sol.

7. Karen Matthews: „Wall Street Protests Function Like a Small City“, Associated Press (7. Oktober 2011). Online abrufbar unter: http://archive.boston.com/news/nation/articles/2011/10/07/wall_street_protest_functions_like_a_small_city/.

8. NYC General Assembly: „Declaration of the Occupation of New York City” (29. September 2011). Online abrufbar unter: http://uucsj.org/wpcontent/uploads/2016/05/DeclarationoftheOccupationofNewYorkCity.pdf.

9. Grueso: 15M “Excelente. Revulsivo. Importante”, 47:00.

10. Â© David Shankbone creator QS:P170,Q12899557 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Occupy_Wall_Street_Crowd_Size_2011_Shankbone.JPG), „Occupy Wall Street Crowd Size 2011 Shankbone“, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode

11. David Graeber: The Democracy Project: A History, a Crisis, a Movement. London 2014, S. 39.

12. Michael A. Gould-Wartofsky: The Occupiers: The Making of the 99 Percent Movement. Oxford 2015.

13. Zitiert in Gould-Wartofsky: The Occupiers: The Making of the 99 Percent Movement, S. 8.

14. Zitiert in Bray: Translating Anarchy: the Anarchism of Occupy Wall Street, S. 92.

15. Gould-Wartofsky: The Occupiers: The Making of the 99 Percent Movement, S. 218.

16. Ebd.

17. Gerd-Rainer Horn: The Spirit of ’68: Rebellion in Western Europe and North America, 1956–1976. Oxford 2007.

18. Wini Breines: „Community and Organization: the New Left and Michels’ ‘Iron Law’”, Social Problems, Nr. 27 (Jg. 4, 1980), S. 419–29.

19. Students for a Democratic Society (SDS): „Port Huron Statement“ (15. Juni 1962). Online abrufbar unter: https://history.hanover.edu/courses/excerpts/111huron.html.

20. Wini Breines: Community and Organization in the New Left, 19621968: The Great Refusal. New York 1982.

21. Ebd.

22. Richard Rothstein: „A Short History of ERAP”, SDS Bulletin, Nr. 4 (Jg. 2, 1965), S. 40–44. Online abrufbar unter: https://www.jstor.org/stable/community.28044413.

23. zitiert in Breines: Community and Organization in the New Left, 19621968: The Great Refusal, S. 63.

24. Ebd., S. 93.

25. Carl Boggs: „Revolutionary Process, Political Strategy, and the Dilemma of Power”, Theory and Society, Nr. 4 (Jg. 3, 1977), S. 359–93.

26. Chris Cutrone: „Redeeming the 20th Century: Statism and Anarchy Today”, Platypus Review, Nr. 116 (Mai 2019). Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2019/05/01/redeemingthe20thcenturystatismandanarchytoday.

27. Carl Boggs: „Marxism, Prefigurative Communism, and the Problem of Workers’ Control”, Radical America, Nr. 11 (Jg. 6, 1977), S. 99–122, (Hervorh. d. Verf.).

28. Ebd., S. 115.

29. Barbara Epstein: „The Politics of Prefigurative Community: The Non-Violent Direct Action Movement”, in: Reshaping the US Left: Popular Struggles in the 1980s, Hrsg. Mike Davis und Michael Sprinkler, London 1988, S. 6392.

30. Boggs: „Marxism, Prefigurative Communism, and the Problem of Workers’ Control”, S. 119.

31. Spencer Leonard: „‘Through the lens of the national liberation struggle’: An Interview with Carl Davidson“, Platypus Review, Nr. 117 (Juni 2019). Online abrufbar unter: hhttps://platypus1917.org/2019/06/01/through-the-lens-of-the-national-liberation-struggle-an-interview-with-carl-davidson/.

32. zitiert in Breines: Community and Organization in the New Left, 19621968: The Great Refusal, S. 30.

33. Breines: „Community and Organization: the New Left and Michels’ ‘Iron Law’”, S. 421.

34. Ebd.

35. Breines: Community and Organization in the New Left, 19621968: The Great Refusal, S. 7.

36. Breines: „Community and Organization: the New Left and Michels’ ‘Iron Law’”, S. 423.

37. Breines: Community and Organization in the New Left, 19621968: The Great Refusal, S. 7.

38. Ebd., S. 420.

39. Marisa Holmes: „David Graeber’s Real Contribution to Occupy Wall Street Wasn’t a Phrase—It Was a Process”, Novara Media (4. September 2021). Online abrufbar unter: https://novaramedia.com/2021/09/04/david-graebers-real-contribution-to-occupy-wall-street-wasnt-a-phrase-it-was-a-process/.

40. Campaign for Nuclear Disarmament UK (CNDUK): „The History of CND”. Online abrufbar unter: https://cnduk.org/who/thehistoryofcnd.

41. Epstein: „The Politics of Prefigurative Community: The Non-Violent Direct Action Movement”, S. 88.

42. Ebd., S. 90.

43. Â© Seattle Municipal Archives from Seattle, WA (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WTO_protesters_on_7th_Avenue,_1999_(37326739756).jpg), „WTO protesters on 7th Avenue, 1999 (37326739756)“

44. Cliff Slaughter: 1960. „What Is Revolutionary Leadership?”, Labour Review, Nr. 5 (Jg. 3, 1960), S. 9396; 105111. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/history/etol/writers/slaughter/1960/10/leadership.html.

45. Graeber: The Democracy Project: A History, a Crisis, a Movement, S. 79.

46. Facebook Seite von People for Bernie Sanders, 16. Februar 2022.

47. Jesse Myerson: „Occupy Didn’t Just ‘Change the Conversation.’ It Laid the Foundation for a New Era of Radical Protest”, In These Times (17. September 2016). Online abrufbar unter: https://inthesetimes.com/features/occupy-legacy-five-year-anniversary-mayday.html.

48. Cutrone: „Redeeming the 20th Century: Statism and Anarchy Today”.