Kritische Theorie und Orthodoxer Marxismus
Platypus Review Ausgabe #27 | September/Oktober 2023
von Stefan Hain und Jan Schroeder
Kaum ein Klischee über die Kritische Theorie erhält sich in so vielfältigen Formen wie die angebliche Absage an eine weltverändernde Praxis. Vom Elfenbeinturm oder der Veranda des berühmt-berüchtigten „Grand Hotel Abgrund“ aus habe die Frankfurter Schule, so etwa, um nur die alte Spielart dieser Kritik bei Georg Lukács zu nennen, zwar schonungslose Gesellschaftskritik geübt, zugleich aber eine revolutionäre Perspektive hin zu einer befreiten Welt ausgeschlossen.
Angesichts dessen sollte besonders die sogenannte Diskussion über Theorie und Praxis zwischen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, besser bekannt unter dem Titel „Die Küchengespräche“, irritieren. In dem Text diskutieren die Frankfurter die Möglichkeit, das Kommunistische Manifest – noch dazu im Hinblick auf die geschichtlichen Veränderungen „streng leninistisch“1 – neu zu schreiben. Entsprechend wurde die englische Übersetzung mit dem nicht völlig unpassenden Titel „Towards a New Manifesto“ versehen.
Adorno bekennt in dem Gespräch: „Ich wollte immer versuchen das einzuholen, eine Theorie, die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt.“2 Für Horkheimer, der entgegnet: „Wer würde das nicht unterschreiben“, scheint die marxistische Orientierung der Kritischen Theorie selbstverständlich, strittig ist nur, wie Marxismus in der gegebenen politischen Situation der Gespräche von 1956 sinnvoll vertreten werden könnte. Festhalten wollen beide an einem Marxismus, der nicht nur sagt „es ist schlecht“3, sondern gleichzeitig – durch Kritik – Bedingungen auslotet, unter denen eine revolutionäre Veränderung möglich würde.
Wie die Theorie zu einer umwälzenden Praxis beitragen könnte, bleibt Aufgabe der Theorie selbst. Oder, um es mit den Worten von Horkheimer zu sagen: „Wir müssen den Verlust der Partei so aktualisieren, dass wir gewissermaßen sagen, wir sind noch genauso schlimm wie früher, aber wir spielen auf dem Instrument, wie es heute gespielt werden muss.“4 In den Jahren nach der Diskussion von 1956 arbeitet Adorno in Anlehnung an die Kritik des Gothaer Programms von Marx, die 1875 die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) kritisch kommentierte, an einer Kritik des Godesberger Programms der SPD, einer Kritik also an jenem Programm, mit dem die Partei sich 1959 endgültig vom Marxismus distanzierte.
Zu dieser Kritik ebenso wie zu dem im Gespräch verhandelten Aufruf zu einer linkssozialistischen Partei ist es nie gekommen. Dennoch rückt das Verhältnis von Theorie und Praxis insbesondere in den 1960er-Jahren immer stärker in den Fokus der Kritischen Theorie. Adornos Hauptwerk Negative Dialektik von 1962 ebenso wie die kürzeren Essays Marginalien zu Theorie und Praxis und Resignation von 1969 reflektieren das historische Scheitern der Weltrevolution von 1917 bis 1923, ebenso wie das Ausbleiben des Marxismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Scheitern der Revolution am Ende des Ersten Weltkrieges desintegriert die durch den Marxismus hergestellte revolutionäre Dialektik von Partei und Arbeiterklasse in ihre Bestandteile: Während die Partei zum Vehikel des Stalinismus wurde, ging die Arbeiterklasse in den Nationalsozialismus und Faschismus. Das revolutionäre Potenzial schlug geschichtlich um in die sich tatsächlich verwirklichende Konterrevolution.
An die Stelle einer unmittelbar politischen Intervention des orthodoxen Marxismus tritt die philosophische Intervention der Negativen Dialektik als Flaschenpost für eine unbestimmte Zukunft. Was aber hat diese philosophische Intervention mit dem orthodoxen Marxismus zu tun, was mit Lenin und der Partei der Avantgarde?
„Positive“ Dialektik?
Zunächst, und das könnte irritieren, erscheint schon Hegels Dialektik als negative Dialektik, insofern Hegel Denken immer schon als einen Akt der Negation des Gegebenen versteht. Fakten, Tatsachen sind nur Namen für abstrakte Momente eines Prozesses, die gewaltsam isoliert wurden. In Wirklichkeit können sie nicht als Endpunkte, sondern nur als Durchgangsstadien verstanden werden.
Mit anderen Worten: Fakten heben sich auf in einem „Prozess, indem Subjekt und Objekt so eng miteinander verbunden sind, dass Wahrheit nur innerhalb der Subjekt-Objekt Totalität bestimmt werden kann“,5 wie Marcuse in seinem Hegel-Buch Vernunft und Revolution schreibt. Normative Ansprüche sind bereits Teil dieses Subjekt-Objekt-Verhältnisses und kommen nicht von einem Außerhalb oder der Sphäre vermeintlich reiner Subjektivität, ebenso wie Fakten nicht losgelöst von der praktischen und theoretischen Aktivität menschlicher Subjektivität gedacht werden können.
Das Objekt enthält Subjektives, ebenso wie das Subjekt objektiv konstituiert ist – dialektisches Denken kritisiert damit ebenso das Alltagsbewusstsein wie den Objektivitätsbegriff der positivistisch orientierten Wissenschaften. Eine starre Scheidung zwischen Fakten und Normen lässt Dialektik nicht gelten. Da menschliches Bewusstsein durch seine Aktivität an der Produktion des Objekts teilhat, erhebt sich aus dem Prozess immer schon immanent die Frage nach den Möglichkeiten des Werdens. Dieses Werden meint aber keinen abstrakten Prozess, sondern die vor sich gehende Selbsttransformation der Gesellschaft, durch die die Problematik von Theorie und Praxis selbst ins Zentrum der Philosophie rückt. Moderne Dialektik geht somit weit über den Allgemeinplatz, dass „alles seine zwei Seiten hat“, hinaus und gibt sich auch nicht mit Minimaldefinitionen wie der, die Dialektik als „mutuelle Vermitteltheit der Gegensatzpaare“ verstanden wissen will, zufrieden.
Für Hegel entspringt die ganze Notwendigkeit, dialektisch zu denken, aus einem internen Widerspruch von Sache und Begriff, von Subjekt und Objekt. Was den Prozess antreibt, ist keine externe dritte Entität, sondern der Widerspruch der Gegensatzpaare selbst. Das Sein oder Objekt ist dem Subjekt nie angemessen, oder, um es auf Hegeldeutsch zu sagen: beide sind nicht-identisch. Hegels Philosophie gilt als bürgerliche Philosophie par excellence. Sie erfindet das Rad nicht neu, sondern fasst lediglich die bisherige Erfahrung der Epoche der bürgerlichen Revolutionen und der radikalen bürgerlichen Philosophen selbstbewusst zusammen.
Diese Erfahrung ist wesentlich eine von der Widersprüchlichkeit der Welt: Schon Kants ewiger Frieden verwirklicht sich durch Krieg, aus Unfreiheit wird Freiheit; Mandevilles „public Benefits“ entstehen durch „private Vices“; Adam Smiths harmonische Aufwärtsspirale des Wohlstands der Nationen vollzieht sich durch die Erfahrung der Entfremdung der eigenen Arbeit, die sich durch die undurchsichtigen Gesetze des Warentausches auf dem Markt, die „unsichtbare Hand“, in den Wohlstand aller verwandelt; Rousseaus Volonté générale wirkt als Produkt der sich gegenseitig selbstaufhebenden Einzelinteressen der Individuen und schließlich wirkt auch Hegels Weltgeist über die egoistischen Leidenschaften und selbst skandalös-unmoralischen Exzesse derjenigen Individuen, die den Weltgeist repräsentieren. Kurz: Die bürgerliche Welt widerspricht sich. Dialektik heißt das Denken, das sich dem realen dialektischen Widerspruch der Welt anpasst. Dialektik ist also weder eine Methode noch eine Ideologie oder Weltanschauung, die ihren Gegenstand nur im Licht einer bestimmten Absicht betrachtet.
Die Philosophie von Hegel wie von Kant gründet sich auf eine produktive Spannung der Gegensatzpaare. Diese Spannung sollte spekulativ zur Aufhebung des Gegensatzes treiben – insofern lässt sich bei Hegel und auch schon bei Kant von einer positiven Dialektik sprechen: In ihr geht es nicht nur um die mutuelle Vermittlung der Gegensatzpaare Subjekt und Objekt, sondern um einen Prozess der gegenseitigen Annährung und Steigerung: Ein Schritt der Aufklärung ermöglicht und bedingt den nächsten: Kant beschreibt seine Gegenwart als „Zeitalter der Aufklärung“, nicht als „aufgeklärtes Zeitalter“,6 während Hegel ihm nachfolgend mit dem Begriff des Geistes eine Gesellschaft beschreibt, die sich aus innerer Freiheit zur äußeren Freiheit selbsttransformiert. Das Subjekt bearbeitet das Objekt und stößt damit die eigene Veränderung an, in deren Verlauf es ein immer akuteres Selbstbewusstsein seiner selbst wie des Objekts bzw. des Widerspruchs zwischen beiden erlangt. Weil die Fähigkeit von Gesellschaft, sich zu verändern, so mit der Kapazität die Gesellschaft zu erkennen vermittelt ist, legt Hegel die Emphase geschichtlichen Fortschritts auf das Bewusstsein und nicht auf objektiven Fortschritt: Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.
Vom Widerspruch zum Selbstwiderspruch: Negative Dialektik
Wie ist nun die Dialektik bei Marx zu verstehen? Wenn Marx und Engels und später auch Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein davon sprechen, mit Hegel die dialektische Methode gegen das System Hegels zu wenden, so sollte „Methode“ hier ebenfalls nicht mit einem epistemologischen Verfahren oder einer wissenschaftlichen Methode im traditionellen Sinne verwechselt werden. Wie schon bemerkt, befasst sich Dialektik mit der realen gesellschaftlichen Transformation, die sich vor unseren Augen, durch unser Tun, aber nicht notwendig bewusst vollzieht.
Nun müssen wir unterscheiden zwischen der vorindustriellen bürgerlichen Ära, die Marx als Epoche der Kooperation und der Manufaktur kennzeichnet und der späteren Krise der bürgerlichen Gesellschaft im Kapitalismus, die Marx als Epoche der Industrie ausweist. Die positive Dialektik von Kant und Hegel verkehrt sich. Eine negative oder kritische Konzeption wird notwendig. Und mit ihr eine neue Konzeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses. Eben diese Notwendigkeit erfüllt der Marxismus bzw. die negative Dialektik des Marxismus, den Adorno später versuchen würde zu retten.
Hier ist ein kleiner Ausflug in Marxens Kritik der politischen Ökonomie notwendig, um zu klären, was Marx mit dem von ihm festgestellten Widerspruch zwischen den bürgerlichen Produktionsverhältnissen und den industriellen Produktivkräften meint. Bürgerliche Produktionsverhältnisse sind soziale Beziehungen, die auf Arbeit beruhen, in denen die Individuen an der Gesellschaft durch den Verkauf entweder direkt von Arbeitsprodukten oder ihrer eigenen Ware Arbeitskraft, also durch Lohnarbeit, teilhaben. Wie Adam Smith mit seinem berühmten Beispiel der Nadelfabrik versucht hat zu zeigen, hängt aller Fortschritt dieser Gesellschaft am Einsatz menschlicher Arbeitskraft in effizienter Kooperation: Wenn ein Arbeiter die Nadel spitzt, ein anderer den Nadelkopf hämmert, wieder ein anderer das Endprodukt zusammensetzt usw., vervielfacht sich die Produktivität aller.
Schon Adam Smith ging jedoch auch von einem tendenziellen Fall der Profitrate aus, da aller Profit in einer Gesellschaft, die keinen anderen Produktionsfaktor kennt außer menschliche Arbeitskraft, auch nur in diese rückinvestiert werden kann. Verstärktes Investment in Arbeit unter sonst gleichbleibenden Bedingungen erhöht die Nachfrage nach Arbeit, erhöht so ihren Preis und schmälert so tendenziell den Profit des Kapitalisten. Für die Arbeiterklasse hätte das zur Folge, dass die Verhandlungsmacht ihrer ganzen Klasse gegenüber dem Kapital zunimmt. Jeder Produktivitätsfortschritt ihrer Arbeit wäre ein Gewinn für die Arbeiter und die gesamte Gesellschaft, die mehr Waren zur Verfügung hätte.
Mit der Einführung der industriellen Technik jedoch beruht die Gesellschaft nicht mehr ausschließlich auf dem Einsatz menschlicher Arbeit. Das wichtigste Produkt der industriellen Revolution – die Maschine und der Einsatz von Wissenschaft und Technik im Produktionsprozess (Marx nennt das den „general Intellect“) – überholt im Laufe der Zeit die Produktivität menschlicher Arbeit und eliminiert den Arbeiter zunehmend aus der Produktion.
Da die technische Einrichtung der Produktion vom Kapital eingeführt und geformt wurde, um den Profit zu erhöhen, wurden „anstatt der Arbeit die Arbeiter überflüssig gemacht“, wie Max Horkheimer einmal ironisch bemerkte.7 Die menschliche Arbeit wird fortschreitend in absolutem und nicht nur relativem Maßstab aus der Produktion entfernt. Die fortgesetzte Akkumulation und Konzentration des Kapitals führen zu einer Krise des Werts der Lohnarbeit. Arbeit ist immer schwerer zu bekommen in einer Gesellschaft, die auf Arbeit beruht.
Der Widerspruch des bürgerlichen Tausches, der sich nach Gesetzen von Angebot und Nachfrage gestaltet, deren Wechselfälle für den Einzelnen nicht zu durchschauen sind, sich durch die oben angesprochene „unsichtbare Hand“ vollzieht und von Hegel als entfremdet charakterisiert wird, modifiziert sich erheblich. In der industriellen Phase wird der potenziell harmonische Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft zum fatalen Selbstwiderspruch: Die Gesellschaft der Arbeit untergräbt ihre eigene Grundlage, den Wert der Ware Arbeitskraft, und muss, um zu überleben, im Dauerkrisenmodus politisch gegen den Wertverfall ankämpfen: Hieran knüpfen für Marx alle Staatsintervention, alle Fabrikgesetze, Arbeitsbeschaffung und alle Klassenkompromisse an, die dem Erhalt einer Gesellschaft dienen, die auf anachronistische Weise auf der Lohnarbeit beruht.
Doch kehren wir zur philosophischen Terminologie zurück: Das Subjekt transformiert in dieser kapitalistischen Gesellschaft das Objekt zwar immer noch, nur auf eine Art und Weise, die die eigene Existenz des Subjekts untergräbt. Ein Element der Freiheit tritt durch seine Verwirklichung in Widerspruch mit einem anderen Element der Freiheit. Fortschritt ist verschwistert mit Regress. Das Objekt erscheint nun nicht mehr nur als getrennt, gegensätzlich zum Subjekt und von diesem entfremdet (im Sinne von Hegel), sondern als feindselig und widersprechend.
Die marxistischen Kategorien, und darin besteht das wesentliche Anliegen der „negativen“ Dialektik bei Marx, sind insofern keine positiven Kategorien, keine Zustandsbeschreibungen, keine gegebenen Tatsachen: Gebrauchswert und Tauschwert, relativer und absoluter Mehrwert, konstantes und variables Kapital, Überbau und Basis, Arbeiterklasse (an sich) und Proletariat (für sich) stellen nicht mehr nur zwei Seiten einer Sache dar, sondern repräsentieren einen Selbstwiderspruch.
Während die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert ihre Forderungen auf Adam Smith gründete – der französische Anarchist Proudhon beispielsweise anerkannte nur drei Autoritäten: Hegel, Adam Smith und die Bibel – und den gerechten Wert der Arbeit forderte, stand diese Forderung längst im Konflikt mit der Bedeutung des „general Intellect“, der den Wert der Arbeit schmälert und tendenziell sogar gegen null gehen lässt. Effektive Forderungen nach dem gerechten Wert der Arbeit verschärfen den Selbstwiderspruch der Gesellschaft, indem sie das Kapital dazu zwingen, weiter Arbeit durch Maschinen (bzw. allgemeiner den „general Intellect“) zu ersetzen und so letztendlich den Wert der Arbeit weiter drücken. Somit ist das Problem nicht primär, dass die Forderung nach gerechtem Lohn rein Kapitalismus-immanent oder reformistisch ist.
Die orthodoxen Marxisten der Zweiten Internationale waren keine Gegner von Reformen, sondern wiesen darauf hin, dass Reformen die Krise der bürgerlichen Gesellschaft verschärfen und die Notwendigkeit einer politischen Intervention – entweder durch die Machtübernahme des Proletariats, die auf eine Politik zielen würde, das Proletariat samt seines Selbstwiderspruchs aufzuheben oder durch ein autoritäres kapitalistisches Regime – verstärken würde.
In einer durchweg proletarisierten Gesellschaft muss sich jede Herrschaft auch und wesentlich auf die Arbeiterklasse stützen. Auch die Rackets der kapitalistischen Parteien appellieren in demagogischer Weise an das tradeunionistische Interesse der Arbeiter am „gerechten Wert der Arbeit“, um sie für ihren Machterhalt einzuspannen. Die Frage ist daher nicht, ob es eine Partei braucht oder nicht. Unter den Bedingungen des Selbstwiderspruchs des Interesses des Proletariats ist die Frage vielmehr, wer die Klasse als Partei organisiert: das Kapital und seine kleinbürgerlichen Verbündeten oder eine marxistische Linke. Die marxistische Einsicht von der Notwendigkeit einer revolutionären sozialistischen Partei ist insofern weder politisch naiv noch eine Art pragmatischer Kniff. Sie ist vielmehr das wichtigste Resultat von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie. Nur von diesem Standpunkt können nun auch die Äußerungen von Adorno und Horkheimer in der Diskussion über Theorie und Praxis richtig verstanden werden.
Kritische Theorie und „die“ Partei
Die Emphase auf das Negative der Dialektik bei Adorno gründet nicht nur auf dem Wandel der Dialektik von Hegel zu Marx. Ein weiteres Moment kommt hinzu: „der Verlust der Partei“, wie es im Gespräch über Theorie und Praxis heißt. Ihr Marxismus selbst wird negativ, insofern nicht positiv auf eine realexistierende marxistische Partei verwiesen werden kann, die es aus Sicht der Frankfurter in ihrer Gegenwart nicht mehr gibt. Zugleich jedoch ist ihr Problem nicht nur „der Verlust der Partei“, sondern ebenso die „Existenz der Partei“:
Es geht nicht, dass man zu einer linkssozialistischen Partei aufruft. Eine solche Partei würde heute entweder von den Kommunisten ins Schlepptau genommen oder erlitte das Schicksal der SPD oder der Labor Party. Es ist keine politische Frage, dass es keine Partei gibt,8
sagt Adorno in dem Gespräch. Der Zustand der „versperrten Praxis“ erklärt sich also durch die gesellschaftlich-institutionelle Macht der existierenden Parteien sozialdemokratischer und stalinistischer Prägung, in deren Gravitationszentrum die Arbeiterklasse institutionell – man denke an den Wohlfahrtsstaat und den „realexistierenden“ Sozialismus – und ideologisch gefangen war. Dieser Zustand ist selbst widersprüchlich, fragil und damit nur eine vorübergehende geschichtliche Phase, eine „Atempause“, in der die Verhältnisse wie eingefroren seien, wie Adorno sagt.
Über das Verhältnis von Marxismus und Geschichte
Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen aufgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.9
Dieses Zitat von Friedrich Engels ist keine Philosophie der Geschichte, auch wenn es philosophische Elemente enthält. Der Mensch schafft Gesellschaft, um sich seiner inneren und äußeren Natur im Kampf ums Überleben zu bemächtigen. Dabei reproduziert die Menschheit erneut naturhafte Umstände, eine zweite gesellschaftliche Natur.
Das Zitat beschreibt das politische Programm des Marxismus in Bezug auf die Objekte seiner Kritik: einerseits Kapitalismus, den destruktiven Widerspruch, in den Gesellschaft geraten war. Andererseits die Arbeiterbewegung für Sozialismus, die diesen Widerspruch überwinden wollte. Für Marx und Engels konnte dieser Versuch aber nur gelingen, wenn die Sozialistinnen und Sozialisten begriffen, mit welcher Art von Problem und Aufgabe sie es zu tun hatten. Das heißt, welcher Art das geschichtlich-politische Problem war, und was der Zweck des Kampfes für den Sozialismus bedeute.
Und so schrieb Karl Marx 1852 in einem Brief an Joseph Weydemeyer:
Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.10
Es war die von den Bolschewiki geführte Oktoberrevolution von 1917, durch welche Lenin und Leo Trotzki den Beginn einer internationalen Diktatur des Proletariats entzünden wollten und die den bürgerlichen Denker Georg Lukács zum Marxisten machte. Vorausgegangen war dieser Revolution die Zustimmung der SPD, der größten Sektion der Zweiten Internationale, der internationalen sozialistischen Arbeiterpartei, zu den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg am 4. August 1914. Diesen Verrat am Programm internationaler Solidarität der Arbeiterklasse bezeichnete Karl Korsch 1923 in Marxismus und Philosophie als die „entscheidende Krise des Marxismus, in der wir uns noch heute befinden.“11
In Geschichte und Klassenbewusstsein versuchte Lukács, in philosophischer Terminologie zu erläutern, was die praktischen Erkenntnisse dieser Krise und der daraus erwachsenen revolutionären Bestrebungen von Marxisten wie Lenin und Luxemburg gewesen seien.
Im Aufsatz Was ist orthodoxer Marxismus? schrieb Lukács im Rückgriff auf die politischen Diskussionen innerhalb der Zweiten Internationale:
Bei der großen Uneinigkeit, die auch im „sozialistischen“ Lager darüber zu herrschen schien, welche Thesen die Quintessenz des Marxismus ausmachen, welche also kritisiert oder gar verworfen werden „dürfen“, ohne das Anrecht darauf zu verlieren, als „orthodoxer“ Marxist zu gelten, kam es immer „unwissenschaftlicher“ vor, statt sich „unbefangen“ der Erforschung von „Tatsachen“ hinzugeben, Sätze und Aussagen älterer, von der modernen Forschung teilweise „überholter“ Werke wie Sätze der Bibel scholastisch auszulegen, in ihnen und nur in ihnen einen Born der Wahrheit zu suchen.12
Lukács fuhr fort:
[A]ngenommen – wenn auch nicht zugegeben –, die neuere Forschung hätte die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher einzelnen Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte „orthodoxe“ Marxist alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen – ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen. Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen „Glauben“ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines „heiligen“ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugung, daß im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann. Daß aber alle Versuche, sie zu überwinden oder zu „verbessern“ nur zur Verflachung, zur Trivialität, zum Eklektizismus geführt haben und dazu führen mußten.13
Ebenso wie Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein, versuchte Karl Korsch in Marxismus und Philosophie die theoretische Bedeutung der Politik Lenins und Luxemburgs zu fassen, die aus der Krise der Zweiten Internationale erneut einen revolutionären Funken geschlagen und somit die Hoffnung auf eine emanzipierte, freie Gesellschaft, Sozialismus, am Leben erhalten hatten.
Die wissenschaftliche Methode, von der Lukács spricht, definiert Korsch als
vier verschiedene Bewegungen – die revolutionäre Bewegung des Bürgertums; die idealistische Philosophie von Kant bis Hegel; die revolutionäre Klassenbewegung des Proletariats; die materialistische Philosophie des Marxismus – als vier Momente eines einheitlichen geschichtlichen Entwicklungsprozesses.14
Der wissenschaftliche Sozialismus, Marxismus, ist für Korsch der theoretisch formulierte „allgemeine[] Ausdruck der selbständigen revolutionären Klassenbewegung des Proletariats“.15 Korsch zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Kommunistischen Manifest: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Klassenverhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer vor unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“16
Korsch beschreibt, dass orthodoxe Marxisten der Zweiten Internationale in Bereichen der Theorie „viele Jahrzehnte lang getan haben, als läge hier überhaupt kein Problem vor oder doch nur ein solches, dessen Klärung für die Praxis des Klassenkampfes gleichgültig wäre und auch immer bleiben müßte.“17
Doch laut Korsch waren diese Fragen, unabhängig davon, ob Marxistinnen und Marxisten dies für wünschenswert hielten, durch den Ersten Weltkrieg und die Russischen Revolutionen wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Korsch weigerte sich, die Krise des Marxismus durch Dummheit oder Bosheit von Einzelnen oder beteiligten Gruppen zu erklären. Stattdessen meinte Korsch:
[W]ir müssen sämtliche formellen und inhaltlichen Um-, Weiter- und Rückbildungen d[er] marxistischen Theorie seit ihrer ursprünglichen Entstehung aus der Philosophie des deutschen Idealismus als notwendige Produkte ihrer Zeit zu begreifen suchen (Hegel), oder, genauer gesprochen, sie begreifen in ihrer Bedingtheit durch die Totalität desjenigen geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses, dessen allgemeinen Ausdruck sie bilden (Marx).18
Als einen der ersten Höhepunkte dieser theoretischen Kritik der Bedingungen und ihrer Überwindung benennt Korsch das Kommunistische Manifest von Marx und Engels.
Etwa vier Jahre bevor Korschs Marxismus und Philosophie erschien, hielt Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der KPD eine Rede mit dem Titel Unser Programm und die politische Situation, in der sie sich auf die Aktualität eben jenes Kommunistischen Manifests bezog:
Das Kommunistische Manifest behandelte den Sozialismus, die Durchführung der sozialistischen Endziele, wie Sie wissen, als die unmittelbare Aufgabe der proletarischen Revolution. Es war die Auffassung, die Marx und Engels in der Revolution von 1848 vertraten und als die Basis für die proletarische Aktion auch im internationalen Sinne betrachteten. Damals glaubten die beiden und mit ihnen alle führenden Geister der proletarischen Bewegung, man stände vor der unmittelbaren Aufgabe, den Sozialismus einzuführen; es sei dazu nur notwendig, die politische Revolution durchzusetzen, der politischen Gewalt im Staate sich zu bemächtigen, um den Sozialismus unmittelbar zu Fleisch und Blut zu machen. [...]
Zwischen der Zeit, wo jenes [Kommunistische Manifest] als Programm aufgestellt wurde, und dem heutigen Moment liegen 70 Jahre kapitalistischer Entwicklung, und die historische Dialektik hat dahin geführt, daß wir heute zu der Auffassung zurückkehren, die Marx und Engels nachher als irrtümliche aufgegeben hatten. Sie hatten sie mit gutem Grunde damals als eine irrtümliche aufgegeben. Die Entwicklung des Kapitals, die inzwischen vor sich gegangen ist, hat uns dahin gebracht, daß das, was damals Irrtum war, heute Wahrheit geworden ist; und heute ist unmittelbare Aufgabe, das zu erfüllen, wovor Marx und Engels im Jahre 1848 standen. Allein zwischen jenem Punkte der Entwicklung, dem Anfange, und unserer heutigen Auffassung und Aufgabe liegt die ganze Entwicklung nicht bloß des Kapitalismus, sondern auch der sozialistischen Arbeiterbewegung und in erster Linie derjenigen in Deutschland als des führenden Landes des modernen Proletariats. Die Entwicklung hat in einer eigenartigen Form stattgefunden. Nachdem von Marx und Engels nach den Enttäuschungen der Revolution von 1848 der Standpunkt aufgegeben wurde, daß das Proletariat unmittelbar, direkt in der Lage sei, den Sozialismus zu verwirklichen, entstanden in jedem Lande sozialdemokratische, sozialistische Parteien, die einen ganz anderen Standpunkt einnahmen. Als unmittelbare Aufgabe wurde erklärt der tägliche Kleinkampf auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete, um nach und nach erst die Armeen des Proletariats heranzubilden, die berufen sein werden, wenn die kapitalistische Entwicklung heranreift, den Sozialismus zu verwirklichen. Dieser Umschwung, diese völlig andere Basis, auf die das sozialistische Programm gestellt wurde, hat namentlich in Deutschland eine sehr typische Form erhalten. [...]
Parteigenossen, ich gehe auf die Fragen ein nicht aus bloßem historischen Interesse, sondern es ist eine rein aktuelle Frage und eine historische Pflicht, die vor uns steht, indem wir unser Programm heute auf den Boden stellen, auf dem einst 1848 Marx und Engels standen.19
Korsch lehnte für die politische Tendenz, die Lenin und Luxemburg für ihn verkörperten, den Titel einer „Wiederherstellung des Marxismus“ oder einer „Rückkehr zum wahren Marxismus“ ab. Was Lenin und Luxemburg stattdessen geleistet hätten, sei
die durch die praktischen Bedürfnisse der neuen revolutionären Periode des proletarischen Klassenkampfes geforderte Befreiung von jenen hemmenden Traditionen des sozialdemokratischen Marxismus [...], die heute „wie ein Alp“ auf dem Gehirn auch derjenigen Arbeitermassen lasten, deren objektiv revolutionäre ökonomische und gesellschaftliche Lage mit diesen evolutionären Doktrinen schon längst nicht mehr übereinstimmt.20
Etwa 90 Jahre nach Lukács und Korsch schreibt Chris Cutrone in Adornos „Leninismus“:
Für Adorno bedeutete dies, dass der Kampf zur Überwindung der Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft nicht bloß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten war, sondern darüber hinausging. Es ging nicht nur um ihre Ausbeutung. Die sozialen Subjekte waren nämlich nicht bloß Produkte ihrer Klassenposition, sondern vielmehr determinierte die bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals alle ihre Subjekte in einem historischen Zusammenhang der Unfreiheit. Klassenpositionen waren lediglich ein Ausdruck der Struktur dieser universalen Unfreiheit. So schrieb Horkheimer in „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“: „Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darüber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwärtige System den Namen der ‚Freiheit‘ trägt und als liberales angesehen wird.“21
Horkheimer betont in diesem Text, die Interessen „des kleinen Mannes“ verwiesen ihn „auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit“.22
Cutrone fährt in Adornos „Leninismus“ fort mit der Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Unfreiheit:
Im Verlauf des Marxismus im 20. Jahrhundert wurde eine […] Erhellung dessen, was eine progressiv-emanzipatorische Herangehensweise an das Problem des Kapitals konstituieren würde, abgeschnitten. Daher wurde es zunehmend schwierig, die „Ursprünge“ der fortdauernden sozialen Bedingungen der Unfreiheit „ans Tageslicht zu bringen“. In vielerlei Hinsicht war die Krise des Marxismus als eine Funktion der revolutionären Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, sondern verstärkt, wodurch sich die Krise der Menschheit vertiefte.23
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sah sich mit der Fortsetzung der von Korsch beschriebenen Krise des Marxismus unter neuen Vorzeichen konfrontiert. Adorno und sein Freund und Mentor Walter Benjamin gaben an, durch die Lektüre von Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein zu Marxisten geworden zu sein.
Walter Benjamin griff die von Luxemburg, Lenin, Korsch und Lukács formulierten Probleme und Aufgaben in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte aus dem Jahre 1940 erneut auf:
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.24
Benjamin fasste historischen Materialismus als dialektische Theorie: Sie hebt ein Bild der Vergangenheit ins Bewusstsein, um im Moment der Gefahr den nächsten Schritt machen zu können. Doch dafür muss „sich einer Erinnerung bemächtig[t]“ werden. Unmittelbare Identifikation der aktuellen Situation mit der Erinnerung würde historischen Materialismus und dessen Vertreter „zum Werkzeug der herrschenden Klasse“ machen. Es gibt keine revolutionäre Theorie, die ein Gelingen in der Praxis garantieren könnte. Das Bild der Vergangenheit muss kritisch betrachtet und „gegen den Strich“ gelesen werden.25
Benjamin versuchte, die Verdinglichung des Marxismus in der Zweiten Internationale als Ausgangspunkt für eine kritische Neuaneignung des Marxismus nutzbar zu machen, sich der „Erinnerung zu bemächtigen“. In der dreizehnten These zitiert Benjamin den Hausphilosophen der SPD, Josef Dietzgen, um die geschichtliche Essenz des metaphysischen Begriffs des Fortschritts genauer zu untersuchen:
„Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.“
- Josef Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie
Die sozialdemokratische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte. Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokraten malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens, ein unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer (als ein selbsttätig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender). Jedes dieser Prädikate ist kontrovers, und an jedem könnte die Kritik ansetzen. Sie muß aber, wenn es hart auf hart kommt, hinter all diese Prädikate zurückgehen und sich auf etwas richten, was ihnen gemeinsam ist. Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.26
Mit dieser These kehrt Benjamin zurück zum einführenden Zitat von Friedrich Engels, dass er und Marx nur eine Wissenschaft kannten: die der Geschichte. Benjamin verwirft nicht die Idee des Fortschritts, sondern versucht, die Idee des Fortschritts über ihre eigenen Grenzen und Hindernisse hinaus zu treiben, indem er sie kritisiert. Dabei betont er, dass Theorie keine autonome Existenz besitzt, sondern Ausdruck der praktischen Potenziale der Transformation und Umwälzung der Wirklichkeit sind.
Benjamin sah im Grauen des Ersten Weltkriegs eine kosmologische Transformation. Darin käme zur Anschauung, welche Potenziale zur Transformation Gesellschaft in sich trage. Eine Transformation des Verhältnisses des Menschen zu sich, zu anderen Menschen, zu seiner Arbeit und auch zur inneren und äußeren Natur. Benjamin schreibt dazu im Text Zum Planetarium:
Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde. Dies große Werben um den Kosmos vollzog zum ersten Male sich in planetarischem Maßstab […]
Der Schauer echter kosmischer Erfahrung ist nicht an jenes winzige Naturfragment gebunden, das wir „Natur“ zu nennen gewohnt sind. In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl, das dem Glück der Epileptiker gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung.27
Was als überdauernd verklärt wird, sei es Natur oder Metaphysik – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Aufklärung, Fortschritt: Geschichte selbst –, wird stattdessen erkannt als historisches Produkt der ihre eigene Natur produzierenden Menschheit.
In welcher Form die Gattung Mensch ihre gesellschaftliche und natürliche Geschichte produzieren würde, hing für Benjamin, im Kapitalismus, allein von der Möglichkeit des Proletariats, die Macht über den Staat zu gewinnen, ab. Ohne die freie politische Tat des Proletariats wäre die Menschheit dazu verdammt, unter naturhaften Bedingungen universeller Unfreiheit den immerselben Kampf ums nackte Überleben zu führen.
In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Adorno in Negative Dialektik programmatisch schreibt, es gelte:
alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur, „das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein begreifen, oder die Natur, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, begreifen als ein geschichtliches Sein“.28
Die Kritische Theorie wollte nach dem Zerfall des orthodoxen Marxismus den neuen Naturzustand der Gesellschaft begreifen. Aber nicht deskriptiv und kontemplativ, sondern kritisch, als das Produkt des tragischen Scheiterns des Marxismus und der Gesellschaft als ganzer.
Nicht nur war der Versuch der Weltrevolution von 1917 gescheitert, sondern der Marxismus desintegrierte weiter, sowohl in Form der konterrevolutionär gewordenen Sozialdemokratie als auch der sich stalinisierenden Dritten Internationale. Während diese von Trotzki, Lenin und Luxemburg zum Zweck der Weltrevolution begründet worden war, ersetzte sie ab den späten 1920er-Jahren die Idee internationaler Revolution durch die nationalistische Doktrin des „Sozialismus in einem Lande“. Stalinismus darf dabei nicht als reine Clique, nicht als Set von Ideen oder Politiken, und auch nicht einfach als das Verbrechen, das er auch war, verstanden werden. Stalinismus war kein Ding, sondern materieller Ausdruck der Beziehung von Marxismus und Revolution. Stalinismus ist die Folge, nicht die Ursache dieser Regression. Dies führte aber nicht nur zur Degeneration des Marxismus und seiner Parteien, sondern schnitt damit auch die potenzielle revolutionäre Führung vom revolutionären Potenzial der Gesellschaft selbst ab. Die revolutionäre Theorie und die revolutionäre Praxis standen sich fremd gegenüber. Und der Marxismus war nicht mehr in der Lage, diese Fremdheit als Entfremdung zu erkennen: als das Produkt ihrer eigenen Arbeit.
Die Vertreter der Kritischen Theorie, die von den Ideen Lenins, Luxemburgs und Trotzkis gelernt hatten, verstanden, dass der Marxismus sich selbst untergrub, die praktische Bewegung für den Sozialismus von den theoretischen Einsichten des Marxismus getrennt worden, die Nabelschnur zwischen Theorie und Praxis zerrissen war. Gleichzeitig erkannten die Kritischen Theoretiker, dass ihre Erkenntnis alleine nicht in der Lage sei, die Welt zu verändern. Die Kritische Theorie verweist darauf, dass die Niederlage des Marxismus und das Problem des Kapitalismus nicht einfach übersprungen werden oder komplett neu gedacht werden können. Stattdessen wäre es notwendig, dass Theorie wie Praxis des Marxismus selbst einer marxistischen Kritik unterworfen werden.
Und so war es die Kritische Theorie, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen den offiziellen „Marxismus“ an den Ideen der Revolution und der Diktatur des Proletariats als den nächsten Schritt in die Freiheit festhielt – im vollen Bewusstsein dessen, dass diese theoretische Erinnerung alleine keine Politik ersetzen könne.
Die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit wurde pervertiert und schließlich nahezu vergessen: im Namen von Marxismus und Sozialismus. Die Vertreter der Kritischen Theorie sahen auch nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Idee des Sozialismus und die Aufgabe, die der Marxismus benannt hatte, unabtrennbar mit der Idee der Parteien verknüpft waren: als geschichtliches Produkt des Scheiterns des Marxismus im 20. Jahrhundert. Als solches waren sie keine Beute, kein Triumphzug, sondern eine Wunde und eine Last für den Kampf um den Sozialismus.
Wie die politische Praxis des Marxismus im 20. Jahrhundert, so ist auch die Intervention der Kritischen Theorie eine Last und eine Wunde. Sie sind schmerzliche Erinnerungen an eine Aufgabe, die vor mehr als 100 Jahren als der nächste Schritt für die Menschheit und ihre Freiheit gesehen und in die Tat umzusetzen versucht wurde. Heute scheint diese Aufgabe eine Utopie von vorvorgestern. Weder Kritische Theorie noch orthodoxer Marxismus sind politische Optionen unserer Zeit; wer anderes behauptet, versteht nicht, wovon er redet.
Orthodoxer Marxismus stand ein für eine revolutionäre Utopie, die mit Marx meinte: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss auch selbst zum Gedanken drängen.“29 Marxismus und Kapitalismus sind in Geschichte unauflösbar miteinander verschmolzen. Und dennoch gibt es nichts, was im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft weiter voneinander weg drängte als die Erinnerung an den Marxismus und die gesellschaftliche Realität, in der wir leben.
Im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb Marx:
[D]ie Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.30
Korsch fügte diesem Zitat in Marxismus und Philosophie bei:
Und hieran ändert sich auch dadurch nichts, daß die für die nunmehrigen Verhältnisse transzendente Aufgabe in einer früheren Epoche theoretisch schon einmal formuliert gewesen ist. Eine Auffassung, welche der Theorie eine selbständige Existenz außerhalb der realen Bewegung zusprechen wollte, wäre selbstverständlich weder materialistisch noch auch nur hegelisch-dialektisch, sie wäre einfache idealistische Metaphysik.31
Wenn Gesellschaft sich nicht progressiv weiterentwickelt, sondern beständig regrediert, hinter ihre eigenen Ansprüche zurückfällt, dann ist der Weg nach vorne vielleicht der Weg zurück. |P
Der Text beruht auf einem Vortrag, der am 29. Mai 2023 in Frankfurt am Main gehalten wurde. Die beiden Autoren sind Mitglieder der Platypus Affiliated Society.
1 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: „Diskussion über Theorie und Praxis“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 13): Nachgelassene Schriften 1949–1972, Frankfurt am Main 1989 [1956], S.33 und S.66.
2 Ebd., S. 69.
3 Ebd., S. 53.
4 Ebd., S. 53f.
5 Herbert Marcuse (1962): „A Note on Dialectic”, in: The Essential Frankfurt School Reader, New York 1985, S. 445. Übersetzung des Zitats durch JS.
6 Vgl. Immanuel Kant: „Was ist Aufklärung“, in: Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, Ditzingen 2017, S. 14.
7 Max Horkheimer: „Autoritärer Staat“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 5): ‚Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940–1950, Frankfurt am Main 1987, S. 293.
8 Adorno und Horkheimer: „Diskussion über Theorie und Praxis“, S.33 und S.70f.
9 Friedrich Engels und Karl Marx: „Die deutsche Ideologie“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 3), Berlin 1958, S. 17–18.
10 Karl Marx: „Brief an Joseph Weydemeyer“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 28), Berlin 1963, S. 507–508.
11 Karl Korsch: „Marxismus und Philosophie“, in: Karl Korsch Gesamtausgabe (Bd. 3), Amsterdam 1993, S. 335.
12 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Darmstadt/Neuwied 1968, S. 58–59.
13 Ebd.
14 Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 316-317.
15 Ebd.
16 Friedrich Engels und Karl Marx: „Manifest der Kommunistischen Partei“, Marx-Engels-Werke (Bd. 4), Berlin 1974, S. 475.
17 Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 323.
18 Ebd., S. 326-327.
19 Rosa Luxemburg: „Unser Programm und die politische Situation“, in: Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke (Bd. 4), Berlin 2000, S. 486–511.
20 Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 125f.
21 Chris Cutrone: „Adorno’s ‘Leninism’“, Eingangsstatement für die öffentliche Podiumsdiskussion „The politics of Critical Theory“, Platypus Review Nr. 37 (Juli 2011). Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2011/07/09/the-politics-of-critical-theory/#cutrone.
22 Max Horkheimer: „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 2): Philosophische Frühschriften 1922–1932, Frankfurt am Main 1987, S. 360–363.
23 Cutrone: „Adorno’s ‘Leninism’“.
24 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Bd. 1), Frankfurt am Main 1974, S. 695.
25 Ebd., S. 697.
26 Ebd., S. 714–715.
27 Walter Benjamin: „Zum Planetarium“, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Bd. 4), Frankfurt am Main 1972, S. 147–148.
28 Theodor W. Adorno: „Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit“, in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften (Bd. 6), Frankfurt am Main 1970, S. 353.
29 Karl Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 1), Berlin 1958, S. 386.
30 Karl Marx: „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 13), Berlin 1971, S. 9.
31 Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 328-329.