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Kritische Theorie und Orthodoxer Marxismus

Platypus Review Ausgabe #27 | September/Oktober 2023

von Stefan Hain und Jan Schroeder

Kaum ein Klischee ĂŒber die Kritische Theorie erhĂ€lt sich in so vielfĂ€ltigen Formen wie die angebliche Absage an eine weltverĂ€ndernde Praxis. Vom Elfenbeinturm oder der Veranda des berĂŒhmt-berĂŒchtigten „Grand Hotel Abgrund“ aus habe die Frankfurter Schule, so etwa, um nur die alte Spielart dieser Kritik bei Georg LukĂĄcs zu nennen, zwar schonungslose Gesellschaftskritik geĂŒbt, zugleich aber eine revolutionĂ€re Perspektive hin zu einer befreiten Welt ausgeschlossen.

Angesichts dessen sollte besonders die sogenannte Diskussion ĂŒber Theorie und Praxis zwischen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, besser bekannt unter dem Titel „Die KĂŒchengesprĂ€che“, irritieren. In dem Text diskutieren die Frankfurter die Möglichkeit, das Kommunistische Manifest – noch dazu im Hinblick auf die geschichtlichen VerĂ€nderungen „streng leninistisch“1 – neu zu schreiben. Entsprechend wurde die englische Übersetzung mit dem nicht völlig unpassenden Titel „Towards a New Manifesto“ versehen.

Adorno bekennt in dem GesprĂ€ch: „Ich wollte immer versuchen das einzuholen, eine Theorie, die Marx, Engels und Lenin die Treue hĂ€lt, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurĂŒckfĂ€llt.“2 FĂŒr Horkheimer, der entgegnet: „Wer wĂŒrde das nicht unterschreiben“, scheint die marxistische Orientierung der Kritischen Theorie selbstverstĂ€ndlich, strittig ist nur, wie Marxismus in der gegebenen politischen Situation der GesprĂ€che von 1956 sinnvoll vertreten werden könnte. Festhalten wollen beide an einem Marxismus, der nicht nur sagt „es ist schlecht“3, sondern gleichzeitig – durch Kritik – Bedingungen auslotet, unter denen eine revolutionĂ€re VerĂ€nderung möglich wĂŒrde.

Wie die Theorie zu einer umwĂ€lzenden Praxis beitragen könnte, bleibt Aufgabe der Theorie selbst. Oder, um es mit den Worten von Horkheimer zu sagen: „Wir mĂŒssen den Verlust der Partei so aktualisieren, dass wir gewissermaßen sagen, wir sind noch genauso schlimm wie frĂŒher, aber wir spielen auf dem Instrument, wie es heute gespielt werden muss.“4 In den Jahren nach der Diskussion von 1956 arbeitet Adorno in Anlehnung an die Kritik des Gothaer Programms von Marx, die 1875 die GrĂŒndung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) kritisch kommentierte, an einer Kritik des Godesberger Programms der SPD, einer Kritik also an jenem Programm, mit dem die Partei sich 1959 endgĂŒltig vom Marxismus distanzierte.

Zu dieser Kritik ebenso wie zu dem im GesprĂ€ch verhandelten Aufruf zu einer linkssozialistischen Partei ist es nie gekommen. Dennoch rĂŒckt das VerhĂ€ltnis von Theorie und Praxis insbesondere in den 1960er-Jahren immer stĂ€rker in den Fokus der Kritischen Theorie. Adornos Hauptwerk Negative Dialektik von 1962 ebenso wie die kĂŒrzeren Essays Marginalien zu Theorie und Praxis und Resignation von 1969 reflektieren das historische Scheitern der Weltrevolution von 1917 bis 1923, ebenso wie das Ausbleiben des Marxismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Scheitern der Revolution am Ende des Ersten Weltkrieges desintegriert die durch den Marxismus hergestellte revolutionĂ€re Dialektik von Partei und Arbeiterklasse in ihre Bestandteile: WĂ€hrend die Partei zum Vehikel des Stalinismus wurde, ging die Arbeiterklasse in den Nationalsozialismus und Faschismus. Das revolutionĂ€re Potenzial schlug geschichtlich um in die sich tatsĂ€chlich verwirklichende Konterrevolution.

An die Stelle einer unmittelbar politischen Intervention des orthodoxen Marxismus tritt die philosophische Intervention der Negativen Dialektik als Flaschenpost fĂŒr eine unbestimmte Zukunft. Was aber hat diese philosophische Intervention mit dem orthodoxen Marxismus zu tun, was mit Lenin und der Partei der Avantgarde?

„Positive“ Dialektik?

ZunĂ€chst, und das könnte irritieren, erscheint schon Hegels Dialektik als negative Dialektik, insofern Hegel Denken immer schon als einen Akt der Negation des Gegebenen versteht. Fakten, Tatsachen sind nur Namen fĂŒr abstrakte Momente eines Prozesses, die gewaltsam isoliert wurden. In Wirklichkeit können sie nicht als Endpunkte, sondern nur als Durchgangsstadien verstanden werden.

Mit anderen Worten: Fakten heben sich auf in einem „Prozess, indem Subjekt und Objekt so eng miteinander verbunden sind, dass Wahrheit nur innerhalb der Subjekt-Objekt TotalitĂ€t bestimmt werden kann“,5 wie Marcuse in seinem Hegel-Buch Vernunft und Revolution schreibt. Normative AnsprĂŒche sind bereits Teil dieses Subjekt-Objekt-VerhĂ€ltnisses und kommen nicht von einem Außerhalb oder der SphĂ€re vermeintlich reiner SubjektivitĂ€t, ebenso wie Fakten nicht losgelöst von der praktischen und theoretischen AktivitĂ€t menschlicher SubjektivitĂ€t gedacht werden können.

Das Objekt enthĂ€lt Subjektives, ebenso wie das Subjekt objektiv konstituiert ist – dialektisches Denken kritisiert damit ebenso das Alltagsbewusstsein wie den ObjektivitĂ€tsbegriff der positivistisch orientierten Wissenschaften. Eine starre Scheidung zwischen Fakten und Normen lĂ€sst Dialektik nicht gelten. Da menschliches Bewusstsein durch seine AktivitĂ€t an der Produktion des Objekts teilhat, erhebt sich aus dem Prozess immer schon immanent die Frage nach den Möglichkeiten des Werdens. Dieses Werden meint aber keinen abstrakten Prozess, sondern die vor sich gehende Selbsttransformation der Gesellschaft, durch die die Problematik von Theorie und Praxis selbst ins Zentrum der Philosophie rĂŒckt. Moderne Dialektik geht somit weit ĂŒber den Allgemeinplatz, dass „alles seine zwei Seiten hat“, hinaus und gibt sich auch nicht mit Minimaldefinitionen wie der, die Dialektik als „mutuelle Vermitteltheit der Gegensatzpaare“ verstanden wissen will, zufrieden.

FĂŒr Hegel entspringt die ganze Notwendigkeit, dialektisch zu denken, aus einem internen Widerspruch von Sache und Begriff, von Subjekt und Objekt. Was den Prozess antreibt, ist keine externe dritte EntitĂ€t, sondern der Widerspruch der Gegensatzpaare selbst. Das Sein oder Objekt ist dem Subjekt nie angemessen, oder, um es auf Hegeldeutsch zu sagen: beide sind nicht-identisch. Hegels Philosophie gilt als bĂŒrgerliche Philosophie par excellence. Sie erfindet das Rad nicht neu, sondern fasst lediglich die bisherige Erfahrung der Epoche der bĂŒrgerlichen Revolutionen und der radikalen bĂŒrgerlichen Philosophen selbstbewusst zusammen.

Diese Erfahrung ist wesentlich eine von der WidersprĂŒchlichkeit der Welt: Schon Kants ewiger Frieden verwirklicht sich durch Krieg, aus Unfreiheit wird Freiheit; Mandevilles „public Benefits“ entstehen durch „private Vices“; Adam Smiths harmonische AufwĂ€rtsspirale des Wohlstands der Nationen vollzieht sich durch die Erfahrung der Entfremdung der eigenen Arbeit, die  sich durch die undurchsichtigen Gesetze des Warentausches auf dem Markt, die „unsichtbare Hand“, in den Wohlstand aller verwandelt; Rousseaus VolontĂ© gĂ©nĂ©rale wirkt als Produkt der sich gegenseitig selbstaufhebenden Einzelinteressen der Individuen und schließlich wirkt auch Hegels Weltgeist ĂŒber die egoistischen Leidenschaften und selbst skandalös-unmoralischen Exzesse derjenigen Individuen, die den Weltgeist reprĂ€sentieren. Kurz: Die bĂŒrgerliche Welt widerspricht sich. Dialektik heißt das Denken, das sich dem realen dialektischen Widerspruch der Welt anpasst. Dialektik ist also weder eine Methode noch eine Ideologie oder Weltanschauung, die ihren Gegenstand nur im Licht einer bestimmten Absicht betrachtet.

Die Philosophie von Hegel wie von Kant grĂŒndet sich auf eine produktive Spannung der Gegensatzpaare. Diese Spannung sollte spekulativ zur Aufhebung des Gegensatzes treiben – insofern lĂ€sst sich bei Hegel und auch schon bei Kant von einer positiven Dialektik sprechen: In ihr geht es nicht nur um die mutuelle Vermittlung der Gegensatzpaare Subjekt und Objekt, sondern um einen Prozess der gegenseitigen AnnĂ€hrung und Steigerung: Ein Schritt der AufklĂ€rung ermöglicht und bedingt den nĂ€chsten: Kant beschreibt seine Gegenwart als „Zeitalter der AufklĂ€rung“, nicht als „aufgeklĂ€rtes Zeitalter“,6 wĂ€hrend Hegel ihm nachfolgend mit dem Begriff des Geistes eine Gesellschaft beschreibt, die sich aus innerer Freiheit zur Ă€ußeren Freiheit selbsttransformiert. Das Subjekt bearbeitet das Objekt und stĂ¶ĂŸt damit die eigene VerĂ€nderung an, in deren Verlauf es ein immer akuteres Selbstbewusstsein seiner selbst wie des Objekts bzw. des Widerspruchs zwischen beiden erlangt. Weil die FĂ€higkeit von Gesellschaft, sich zu verĂ€ndern, so mit der KapazitĂ€t die Gesellschaft zu erkennen vermittelt ist, legt Hegel die Emphase geschichtlichen Fortschritts auf das Bewusstsein und nicht auf objektiven Fortschritt: Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.

Vom Widerspruch zum Selbstwiderspruch: Negative Dialektik

Wie ist nun die Dialektik bei Marx zu verstehen? Wenn Marx und Engels und spĂ€ter auch Georg LukĂĄcs in Geschichte und Klassenbewusstsein davon sprechen, mit Hegel die dialektische Methode gegen das System Hegels zu wenden, so sollte „Methode“ hier ebenfalls nicht mit einem epistemologischen Verfahren oder einer wissenschaftlichen Methode im traditionellen Sinne verwechselt werden. Wie schon bemerkt, befasst sich Dialektik mit der realen gesellschaftlichen Transformation, die sich vor unseren Augen, durch unser Tun, aber nicht notwendig bewusst vollzieht.

Nun mĂŒssen wir unterscheiden zwischen der vorindustriellen bĂŒrgerlichen Ära, die Marx als Epoche der Kooperation und der Manufaktur kennzeichnet und der spĂ€teren Krise der bĂŒrgerlichen Gesellschaft im Kapitalismus, die Marx als Epoche der Industrie ausweist. Die positive Dialektik von Kant und Hegel verkehrt sich. Eine negative oder kritische Konzeption wird notwendig. Und mit ihr eine neue Konzeption des Theorie-Praxis-VerhĂ€ltnisses. Eben diese Notwendigkeit erfĂŒllt der Marxismus bzw. die negative Dialektik des Marxismus, den Adorno spĂ€ter versuchen wĂŒrde zu retten.

Hier ist ein kleiner Ausflug in Marxens Kritik der politischen Ökonomie notwendig, um zu klĂ€ren, was Marx mit dem von ihm festgestellten Widerspruch zwischen den bĂŒrgerlichen ProduktionsverhĂ€ltnissen und den industriellen ProduktivkrĂ€ften meint. BĂŒrgerliche ProduktionsverhĂ€ltnisse sind soziale Beziehungen, die auf Arbeit beruhen, in denen die Individuen an der Gesellschaft durch den Verkauf entweder direkt von Arbeitsprodukten oder ihrer eigenen Ware Arbeitskraft, also durch Lohnarbeit, teilhaben. Wie Adam Smith mit seinem berĂŒhmten Beispiel der Nadelfabrik versucht hat zu zeigen, hĂ€ngt aller Fortschritt dieser Gesellschaft am Einsatz menschlicher Arbeitskraft in effizienter Kooperation: Wenn ein Arbeiter die Nadel spitzt, ein anderer den Nadelkopf hĂ€mmert, wieder ein anderer das Endprodukt zusammensetzt usw., vervielfacht sich die ProduktivitĂ€t aller.

Schon Adam Smith ging jedoch auch von einem tendenziellen Fall der Profitrate aus, da aller Profit in einer Gesellschaft, die keinen anderen Produktionsfaktor kennt außer menschliche Arbeitskraft, auch nur in diese rĂŒckinvestiert werden kann. VerstĂ€rktes Investment in Arbeit unter sonst gleichbleibenden Bedingungen erhöht die Nachfrage nach Arbeit, erhöht so ihren Preis und schmĂ€lert so tendenziell den Profit des Kapitalisten. FĂŒr die Arbeiterklasse hĂ€tte das zur Folge, dass die Verhandlungsmacht ihrer ganzen Klasse gegenĂŒber dem Kapital zunimmt. Jeder ProduktivitĂ€tsfortschritt ihrer Arbeit wĂ€re ein Gewinn fĂŒr die Arbeiter und die gesamte Gesellschaft, die mehr Waren zur VerfĂŒgung hĂ€tte.

Mit der EinfĂŒhrung der industriellen Technik jedoch beruht die Gesellschaft nicht mehr ausschließlich auf dem Einsatz menschlicher Arbeit. Das wichtigste Produkt der industriellen Revolution – die Maschine und der Einsatz von Wissenschaft und Technik im Produktionsprozess (Marx nennt das den „general Intellect“) – ĂŒberholt im Laufe der Zeit die ProduktivitĂ€t menschlicher Arbeit und eliminiert den Arbeiter zunehmend aus der Produktion.

Da die technische Einrichtung der Produktion vom Kapital eingefĂŒhrt und geformt wurde, um den Profit zu erhöhen, wurden „anstatt der Arbeit die Arbeiter ĂŒberflĂŒssig gemacht“, wie Max Horkheimer einmal ironisch bemerkte.7 Die menschliche Arbeit wird fortschreitend in absolutem und nicht nur relativem Maßstab aus der Produktion entfernt. Die fortgesetzte Akkumulation und Konzentration des Kapitals fĂŒhren zu einer Krise des Werts der Lohnarbeit. Arbeit ist immer schwerer zu bekommen in einer Gesellschaft, die auf Arbeit beruht.

Der Widerspruch des bĂŒrgerlichen Tausches, der sich nach Gesetzen von Angebot und Nachfrage gestaltet, deren WechselfĂ€lle fĂŒr den Einzelnen nicht zu durchschauen sind, sich durch die oben angesprochene „unsichtbare Hand“ vollzieht und von Hegel als entfremdet charakterisiert wird, modifiziert sich erheblich. In der industriellen Phase wird der potenziell harmonische Widerspruch der bĂŒrgerlichen Gesellschaft zum fatalen Selbstwiderspruch: Die Gesellschaft der Arbeit untergrĂ€bt ihre eigene Grundlage, den Wert der Ware Arbeitskraft, und muss, um zu ĂŒberleben, im Dauerkrisenmodus politisch gegen den Wertverfall ankĂ€mpfen: Hieran knĂŒpfen fĂŒr Marx alle Staatsintervention, alle Fabrikgesetze, Arbeitsbeschaffung und alle Klassenkompromisse an, die dem Erhalt einer Gesellschaft dienen, die auf anachronistische Weise auf der Lohnarbeit beruht.

Doch kehren wir zur philosophischen Terminologie zurĂŒck: Das Subjekt transformiert in dieser kapitalistischen Gesellschaft das Objekt zwar immer noch, nur auf eine Art und Weise, die die eigene Existenz des Subjekts untergrĂ€bt. Ein Element der Freiheit tritt durch seine Verwirklichung in Widerspruch mit einem anderen Element der Freiheit. Fortschritt ist verschwistert mit Regress. Das Objekt erscheint nun nicht mehr nur als getrennt, gegensĂ€tzlich zum Subjekt und von diesem entfremdet (im Sinne von Hegel), sondern als feindselig und widersprechend.

Die marxistischen Kategorien, und darin besteht das wesentliche Anliegen der „negativen“ Dialektik bei Marx, sind insofern keine positiven Kategorien, keine Zustandsbeschreibungen, keine gegebenen Tatsachen: Gebrauchswert und Tauschwert, relativer und absoluter Mehrwert, konstantes und variables Kapital, Überbau und Basis, Arbeiterklasse (an sich) und Proletariat (fĂŒr sich) stellen nicht mehr nur zwei Seiten einer Sache dar, sondern reprĂ€sentieren einen Selbstwiderspruch.

WĂ€hrend die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert ihre Forderungen auf Adam Smith grĂŒndete – der französische Anarchist Proudhon beispielsweise anerkannte nur drei AutoritĂ€ten: Hegel, Adam Smith und die Bibel – und den gerechten Wert der Arbeit forderte, stand diese Forderung lĂ€ngst im Konflikt mit der Bedeutung des „general Intellect“, der den Wert der Arbeit schmĂ€lert und tendenziell sogar gegen null gehen lĂ€sst. Effektive Forderungen nach dem gerechten Wert der Arbeit verschĂ€rfen den Selbstwiderspruch der Gesellschaft, indem sie das Kapital dazu zwingen, weiter Arbeit durch Maschinen (bzw. allgemeiner den „general Intellect“) zu ersetzen und so letztendlich den Wert der Arbeit weiter drĂŒcken. Somit ist das Problem nicht primĂ€r, dass die Forderung nach gerechtem Lohn rein Kapitalismus-immanent oder reformistisch ist.

Die orthodoxen Marxisten der Zweiten Internationale waren keine Gegner von Reformen, sondern wiesen darauf hin, dass Reformen die Krise der bĂŒrgerlichen Gesellschaft verschĂ€rfen und die Notwendigkeit einer politischen Intervention – entweder durch die MachtĂŒbernahme des Proletariats, die auf eine Politik zielen wĂŒrde, das Proletariat samt seines Selbstwiderspruchs aufzuheben oder durch ein autoritĂ€res kapitalistisches Regime – verstĂ€rken wĂŒrde.

In einer durchweg proletarisierten Gesellschaft muss sich jede Herrschaft auch und wesentlich auf die Arbeiterklasse stĂŒtzen. Auch die Rackets der kapitalistischen Parteien appellieren in demagogischer Weise an das tradeunionistische Interesse der Arbeiter am „gerechten Wert der Arbeit“, um sie fĂŒr ihren Machterhalt einzuspannen. Die Frage ist daher nicht, ob es eine Partei braucht oder nicht. Unter den Bedingungen des Selbstwiderspruchs des Interesses des Proletariats ist die Frage vielmehr, wer die Klasse als Partei organisiert: das Kapital und seine kleinbĂŒrgerlichen VerbĂŒndeten oder eine marxistische Linke. Die marxistische Einsicht von der Notwendigkeit einer revolutionĂ€ren sozialistischen Partei ist insofern weder politisch naiv noch eine Art pragmatischer Kniff. Sie ist vielmehr das wichtigste Resultat von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie. Nur von diesem Standpunkt können nun auch die Äußerungen von Adorno und Horkheimer in der Diskussion ĂŒber Theorie und Praxis richtig verstanden werden.

Kritische Theorie und „die“ Partei

Die Emphase auf das Negative der Dialektik bei Adorno grĂŒndet nicht nur auf dem Wandel der Dialektik von Hegel zu Marx. Ein weiteres Moment kommt hinzu: „der Verlust der Partei“, wie es im GesprĂ€ch ĂŒber Theorie und Praxis heißt. Ihr Marxismus selbst wird negativ, insofern nicht positiv auf eine realexistierende marxistische Partei verwiesen werden kann, die es aus Sicht der Frankfurter in ihrer Gegenwart nicht mehr gibt. Zugleich jedoch ist ihr Problem nicht nur „der Verlust der Partei“, sondern ebenso die „Existenz der Partei“:

Es geht nicht, dass man zu einer linkssozialistischen Partei aufruft. Eine solche Partei wĂŒrde heute entweder von den Kommunisten ins Schlepptau genommen oder erlitte das Schicksal der SPD oder der Labor Party. Es ist keine politische Frage, dass es keine Partei gibt,8

sagt Adorno in dem GesprĂ€ch. Der Zustand der „versperrten Praxis“ erklĂ€rt sich also durch die gesellschaftlich-institutionelle Macht der existierenden Parteien sozialdemokratischer und stalinistischer PrĂ€gung, in deren Gravitationszentrum die Arbeiterklasse institutionell – man denke an den Wohlfahrtsstaat und den „realexistierenden“ Sozialismus – und ideologisch gefangen war. Dieser Zustand ist selbst widersprĂŒchlich, fragil und damit nur eine vorĂŒbergehende geschichtliche Phase, eine „Atempause“, in der die VerhĂ€ltnisse wie eingefroren seien, wie Adorno sagt.

Über das VerhĂ€ltnis von Marxismus und Geschichte

Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen aufgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.9

Dieses Zitat von Friedrich Engels ist keine Philosophie der Geschichte, auch wenn es philosophische Elemente enthĂ€lt. Der Mensch schafft Gesellschaft, um sich seiner inneren und Ă€ußeren Natur im Kampf ums Überleben zu bemĂ€chtigen. Dabei reproduziert die Menschheit erneut naturhafte UmstĂ€nde, eine zweite gesellschaftliche Natur.

Das Zitat beschreibt das politische Programm des Marxismus in Bezug auf die Objekte seiner Kritik: einerseits Kapitalismus, den destruktiven Widerspruch, in den Gesellschaft geraten war. Andererseits die Arbeiterbewegung fĂŒr Sozialismus, die diesen Widerspruch ĂŒberwinden wollte. FĂŒr Marx und Engels konnte dieser Versuch aber nur gelingen, wenn die Sozialistinnen und Sozialisten begriffen, mit welcher Art von Problem und Aufgabe sie es zu tun hatten. Das heißt, welcher Art das geschichtlich-politische Problem war, und was der Zweck des Kampfes fĂŒr den Sozialismus bedeute.

Und so schrieb Karl Marx 1852 in einem Brief an Joseph Weydemeyer:

Was mich nun betrifft, so gebĂŒhrt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. BĂŒrgerliche Geschichtsschreiber hatten lĂ€ngst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bĂŒrgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats fĂŒhrt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.10

Es war die von den Bolschewiki gefĂŒhrte Oktoberrevolution von 1917, durch welche Lenin und Leo Trotzki den Beginn einer internationalen Diktatur des Proletariats entzĂŒnden wollten und die den bĂŒrgerlichen Denker Georg LukĂĄcs zum Marxisten machte. Vorausgegangen war dieser Revolution die Zustimmung der SPD, der grĂ¶ĂŸten Sektion der Zweiten Internationale, der internationalen sozialistischen Arbeiterpartei, zu den Kriegskrediten fĂŒr den Ersten Weltkrieg am 4. August 1914. Diesen Verrat am Programm internationaler SolidaritĂ€t der Arbeiterklasse bezeichnete Karl Korsch 1923 in Marxismus und Philosophie als die „entscheidende Krise des Marxismus, in der wir uns noch heute befinden.“11

In Geschichte und Klassenbewusstsein versuchte Lukåcs, in philosophischer Terminologie zu erlÀutern, was die praktischen Erkenntnisse dieser Krise und der daraus erwachsenen revolutionÀren Bestrebungen von Marxisten wie Lenin und Luxemburg gewesen seien.

Im Aufsatz Was ist orthodoxer Marxismus? schrieb LukĂĄcs im RĂŒckgriff auf die politischen Diskussionen innerhalb der Zweiten Internationale:

Bei der großen Uneinigkeit, die auch im „sozialistischen“ Lager darĂŒber zu herrschen schien, welche Thesen die Quintessenz des Marxismus ausmachen, welche also kritisiert oder gar verworfen werden „dĂŒrfen“, ohne das Anrecht darauf zu verlieren, als „orthodoxer“ Marxist zu gelten, kam es immer „unwissenschaftlicher“ vor, statt sich „unbefangen“ der Erforschung von „Tatsachen“ hinzugeben, SĂ€tze und Aussagen Ă€lterer, von der modernen Forschung teilweise â€žĂŒberholter“ Werke wie SĂ€tze der Bibel scholastisch auszulegen, in ihnen und nur in ihnen einen Born der Wahrheit zu suchen.12

LukĂĄcs fuhr fort:

[A]ngenommen – wenn auch nicht zugegeben –, die neuere Forschung hĂ€tte die sachliche Unrichtigkeit sĂ€mtlicher einzelnen Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte „orthodoxe“ Marxist alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sĂ€mtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen – ohne fĂŒr eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu mĂŒssen. Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen „Glauben“ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines „heiligen“ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugung, daß im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer BegrĂŒnder ausgebaut, weitergefĂŒhrt und vertieft werden kann. Daß aber alle Versuche, sie zu ĂŒberwinden oder zu „verbessern“ nur zur Verflachung, zur TrivialitĂ€t, zum Eklektizismus gefĂŒhrt haben und dazu fĂŒhren mußten.13

Ebenso wie Lukåcs in Geschichte und Klassenbewusstsein, versuchte Karl Korsch in Marxismus und Philosophie die theoretische Bedeutung der Politik Lenins und Luxemburgs zu fassen, die aus der Krise der Zweiten Internationale erneut einen revolutionÀren Funken geschlagen und somit die Hoffnung auf eine emanzipierte, freie Gesellschaft, Sozialismus, am Leben erhalten hatten.

Die wissenschaftliche Methode, von der LukĂĄcs spricht, definiert Korsch als

vier verschiedene Bewegungen – die revolutionĂ€re Bewegung des BĂŒrgertums; die idealistische Philosophie von Kant bis Hegel; die revolutionĂ€re Klassenbewegung des Proletariats; die materialistische Philosophie des Marxismus – als vier Momente eines einheitlichen geschichtlichen Entwicklungsprozesses.14

Der wissenschaftliche Sozialismus, Marxismus, ist fĂŒr Korsch der theoretisch formulierte „allgemeine[] Ausdruck der selbstĂ€ndigen revolutionĂ€ren Klassenbewegung des Proletariats“.15 Korsch zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Kommunistischen Manifest: „Die theoretischen SĂ€tze der Kommunisten sind nur allgemeine AusdrĂŒcke tatsĂ€chlicher KlassenverhĂ€ltnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer vor unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“16

Korsch beschreibt, dass orthodoxe Marxisten der Zweiten Internationale in Bereichen der Theorie „viele Jahrzehnte lang getan haben, als lĂ€ge hier ĂŒberhaupt kein Problem vor oder doch nur ein solches, dessen KlĂ€rung fĂŒr die Praxis des Klassenkampfes gleichgĂŒltig wĂ€re und auch immer bleiben mĂŒĂŸte.“17

Doch laut Korsch waren diese Fragen, unabhĂ€ngig davon, ob Marxistinnen und Marxisten dies fĂŒr wĂŒnschenswert hielten, durch den Ersten Weltkrieg und die Russischen Revolutionen wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden.

Korsch weigerte sich, die Krise des Marxismus durch Dummheit oder Bosheit von Einzelnen oder beteiligten Gruppen zu erklÀren. Stattdessen meinte Korsch:

[W]ir mĂŒssen sĂ€mtliche formellen und inhaltlichen Um-, Weiter- und RĂŒckbildungen d[er] marxistischen Theorie seit ihrer ursprĂŒnglichen Entstehung aus der Philosophie des deutschen Idealismus als notwendige Produkte ihrer Zeit zu begreifen suchen (Hegel), oder, genauer gesprochen, sie begreifen in ihrer Bedingtheit durch die TotalitĂ€t desjenigen geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses, dessen allgemeinen Ausdruck sie bilden (Marx).18

Als einen der ersten Höhepunkte dieser theoretischen Kritik der Bedingungen und ihrer Überwindung benennt Korsch das Kommunistische Manifest von Marx und Engels.

Etwa vier Jahre bevor Korschs Marxismus und Philosophie erschien, hielt Rosa Luxemburg auf dem GrĂŒndungsparteitag der KPD eine Rede mit dem Titel Unser Programm und die politische Situation, in der sie sich auf die AktualitĂ€t eben jenes Kommunistischen Manifests bezog:

Das Kommunistische Manifest behandelte den Sozialismus, die DurchfĂŒhrung der sozialistischen Endziele, wie Sie wissen, als die unmittelbare Aufgabe der proletarischen Revolution. Es war die Auffassung, die Marx und Engels in der Revolution von 1848 vertraten und als die Basis fĂŒr die proletarische Aktion auch im internationalen Sinne betrachteten. Damals glaubten die beiden und mit ihnen alle fĂŒhrenden Geister der proletarischen Bewegung, man stĂ€nde vor der unmittelbaren Aufgabe, den Sozialismus einzufĂŒhren; es sei dazu nur notwendig, die politische Revolution durchzusetzen, der politischen Gewalt im Staate sich zu bemĂ€chtigen, um den Sozialismus unmittelbar zu Fleisch und Blut zu machen. [...]

Zwischen der Zeit, wo jenes [Kommunistische Manifest] als Programm aufgestellt wurde, und dem heutigen Moment liegen 70 Jahre kapitalistischer Entwicklung, und die historische Dialektik hat dahin gefĂŒhrt, daß wir heute zu der Auffassung zurĂŒckkehren, die Marx und Engels nachher als irrtĂŒmliche aufgegeben hatten. Sie hatten sie mit gutem Grunde damals als eine irrtĂŒmliche aufgegeben. Die Entwicklung des Kapitals, die inzwischen vor sich gegangen ist, hat uns dahin gebracht, daß das, was damals Irrtum war, heute Wahrheit geworden ist; und heute ist unmittelbare Aufgabe, das zu erfĂŒllen, wovor Marx und Engels im Jahre 1848 standen. Allein zwischen jenem Punkte der Entwicklung, dem Anfange, und unserer heutigen Auffassung und Aufgabe liegt die ganze Entwicklung nicht bloß des Kapitalismus, sondern auch der sozialistischen Arbeiterbewegung und in erster Linie derjenigen in Deutschland als des fĂŒhrenden Landes des modernen Proletariats. Die Entwicklung hat in einer eigenartigen Form stattgefunden. Nachdem von Marx und Engels nach den EnttĂ€uschungen der Revolution von 1848 der Standpunkt aufgegeben wurde, daß das Proletariat unmittelbar, direkt in der Lage sei, den Sozialismus zu verwirklichen, entstanden in jedem Lande sozialdemokratische, sozialistische Parteien, die einen ganz anderen Standpunkt einnahmen. Als unmittelbare Aufgabe wurde erklĂ€rt der tĂ€gliche Kleinkampf auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete, um nach und nach erst die Armeen des Proletariats heranzubilden, die berufen sein werden, wenn die kapitalistische Entwicklung heranreift, den Sozialismus zu verwirklichen. Dieser Umschwung, diese völlig andere Basis, auf die das sozialistische Programm gestellt wurde, hat namentlich in Deutschland eine sehr typische Form erhalten. [...]

Parteigenossen, ich gehe auf die Fragen ein nicht aus bloßem historischen Interesse, sondern es ist eine rein aktuelle Frage und eine historische Pflicht, die vor uns steht, indem wir unser Programm heute auf den Boden stellen, auf dem einst 1848 Marx und Engels standen.19

Korsch lehnte fĂŒr die politische Tendenz, die Lenin und Luxemburg fĂŒr ihn verkörperten, den Titel einer „Wiederherstellung des Marxismus“ oder einer „RĂŒckkehr zum wahren Marxismus“ ab. Was Lenin und Luxemburg stattdessen geleistet hĂ€tten, sei

die durch die praktischen BedĂŒrfnisse der neuen revolutionĂ€ren Periode des proletarischen Klassenkampfes geforderte Befreiung von jenen hemmenden Traditionen des sozialdemokratischen Marxismus [...], die heute „wie ein Alp“ auf dem Gehirn auch derjenigen Arbeitermassen lasten, deren objektiv revolutionĂ€re ökonomische und gesellschaftliche Lage mit diesen evolutionĂ€ren Doktrinen schon lĂ€ngst nicht mehr ĂŒbereinstimmt.20

Etwa 90 Jahre nach Lukács und Korsch schreibt Chris Cutrone in Adornos „Leninismus“:

FĂŒr Adorno bedeutete dies, dass der Kampf zur Überwindung der Herrschaft des Kapitals ĂŒber die Gesellschaft nicht bloß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten war, sondern darĂŒber hinausging. Es ging nicht nur um ihre Ausbeutung. Die sozialen Subjekte waren nĂ€mlich nicht bloß Produkte ihrer Klassenposition, sondern vielmehr determinierte die bĂŒrgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals alle ihre Subjekte in einem historischen Zusammenhang der Unfreiheit. Klassenpositionen waren lediglich ein Ausdruck der Struktur dieser universalen Unfreiheit. So schrieb Horkheimer in „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“: „Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darĂŒber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwĂ€rtige System den Namen der ‚Freiheit‘ trĂ€gt und als liberales angesehen wird.“21

Horkheimer betont in diesem Text, die Interessen „des kleinen Mannes“ verwiesen ihn „auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit“.22

Cutrone fĂ€hrt in Adornos „Leninismus“ fort mit der Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Unfreiheit:

Im Verlauf des Marxismus im 20. Jahrhundert wurde eine [
] Erhellung dessen, was eine progressiv-emanzipatorische Herangehensweise an das Problem des Kapitals konstituieren wĂŒrde, abgeschnitten. Daher wurde es zunehmend schwierig, die „UrsprĂŒnge“ der fortdauernden sozialen Bedingungen der Unfreiheit „ans Tageslicht zu bringen“. In vielerlei Hinsicht war die Krise des Marxismus als eine Funktion der revolutionĂ€ren Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges nicht ĂŒberwunden, sondern verstĂ€rkt, wodurch sich die Krise der Menschheit vertiefte.23

Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sah sich mit der Fortsetzung der von Korsch beschriebenen Krise des Marxismus unter neuen Vorzeichen konfrontiert. Adorno und sein Freund und Mentor Walter Benjamin gaben an, durch die LektĂŒre von Georg LukĂĄcs’ Geschichte und Klassenbewusstsein zu Marxisten geworden zu sein.

Walter Benjamin griff die von Luxemburg, Lenin, Korsch und Lukács formulierten Probleme und Aufgaben in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte aus dem Jahre 1940 erneut auf:

Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Es heißt, sich einer Erinnerung bemĂ€chtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren EmpfĂ€ngern. FĂŒr beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu ĂŒberwĂ€ltigen.24

Benjamin fasste historischen Materialismus als dialektische Theorie: Sie hebt ein Bild der Vergangenheit ins Bewusstsein, um im Moment der Gefahr den nĂ€chsten Schritt machen zu können. Doch dafĂŒr muss „sich einer Erinnerung bemĂ€chtig[t]“ werden. Unmittelbare Identifikation der aktuellen Situation mit der Erinnerung wĂŒrde historischen Materialismus und dessen Vertreter „zum Werkzeug der herrschenden Klasse“ machen. Es gibt keine revolutionĂ€re Theorie, die ein Gelingen in der Praxis garantieren könnte. Das Bild der Vergangenheit muss kritisch betrachtet und „gegen den Strich“ gelesen werden.25

Benjamin versuchte, die Verdinglichung des Marxismus in der Zweiten Internationale als Ausgangspunkt fĂŒr eine kritische Neuaneignung des Marxismus nutzbar zu machen, sich der „Erinnerung zu bemĂ€chtigen“. In der dreizehnten These zitiert Benjamin den Hausphilosophen der SPD, Josef Dietzgen, um die geschichtliche Essenz des metaphysischen Begriffs des Fortschritts genauer zu untersuchen:

„Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klĂŒger.“

- Josef Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie

Die sozialdemokratische Theorie, und noch mehr die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte. Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokraten malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens, ein unabschließbarer (einer unendlichen PerfektibilitĂ€t der Menschheit entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer (als ein selbsttĂ€tig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender). Jedes dieser PrĂ€dikate ist kontrovers, und an jedem könnte die Kritik ansetzen. Sie muß aber, wenn es hart auf hart kommt, hinter all diese PrĂ€dikate zurĂŒckgehen und sich auf etwas richten, was ihnen gemeinsam ist. Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts ĂŒberhaupt bilden.26

Mit dieser These kehrt Benjamin zurĂŒck zum einfĂŒhrenden Zitat von Friedrich Engels, dass er und Marx nur eine Wissenschaft kannten: die der Geschichte. Benjamin verwirft nicht die Idee des Fortschritts, sondern versucht, die Idee des Fortschritts ĂŒber ihre eigenen Grenzen und Hindernisse hinaus zu treiben, indem er sie kritisiert. Dabei betont er, dass Theorie keine autonome Existenz besitzt, sondern Ausdruck der praktischen Potenziale der Transformation und UmwĂ€lzung der Wirklichkeit sind.

Benjamin sah im Grauen des Ersten Weltkriegs eine kosmologische Transformation. Darin kĂ€me zur Anschauung, welche Potenziale zur Transformation Gesellschaft in sich trage. Eine Transformation des VerhĂ€ltnisses des Menschen zu sich, zu anderen Menschen, zu seiner Arbeit und auch zur inneren und Ă€ußeren Natur. Benjamin schreibt dazu im Text Zum Planetarium:

Menschenmassen, Gase, elektrische KrĂ€fte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man OpferschĂ€chte in die Muttererde. Dies große Werben um den Kosmos vollzog zum ersten Male sich in planetarischem Maßstab [
]

Der Schauer echter kosmischer Erfahrung ist nicht an jenes winzige Naturfragment gebunden, das wir „Natur“ zu nennen gewohnt sind. In den VernichtungsnĂ€chten des letzten Krieges erschĂŒtterte den Gliederbau der Menschheit ein GefĂŒhl, das dem GlĂŒck der Epileptiker gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser seiner Gesundung.27

Was als ĂŒberdauernd verklĂ€rt wird, sei es Natur oder Metaphysik – Freiheit, Gleichheit, BrĂŒderlichkeit, AufklĂ€rung, Fortschritt: Geschichte selbst –, wird stattdessen erkannt als historisches Produkt der ihre eigene Natur produzierenden Menschheit.

In welcher Form die Gattung Mensch ihre gesellschaftliche und natĂŒrliche Geschichte produzieren wĂŒrde, hing fĂŒr Benjamin, im Kapitalismus, allein von der Möglichkeit des Proletariats, die Macht ĂŒber den Staat zu gewinnen, ab. Ohne die freie politische Tat des Proletariats wĂ€re die Menschheit dazu verdammt, unter naturhaften Bedingungen universeller Unfreiheit den immerselben Kampf ums nackte Überleben zu fĂŒhren.

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Adorno in Negative Dialektik programmatisch schreibt, es gelte:

alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur, „das geschichtliche Sein in seiner Ă€ußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein begreifen, oder die Natur, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, begreifen als ein geschichtliches Sein“.28

Die Kritische Theorie wollte nach dem Zerfall des orthodoxen Marxismus den neuen Naturzustand der Gesellschaft begreifen. Aber nicht deskriptiv und kontemplativ, sondern kritisch, als das Produkt des tragischen Scheiterns des Marxismus und der Gesellschaft als ganzer.

Nicht nur war der Versuch der Weltrevolution von 1917 gescheitert, sondern der Marxismus desintegrierte weiter, sowohl in Form der konterrevolutionĂ€r gewordenen Sozialdemokratie als auch der sich stalinisierenden Dritten Internationale. WĂ€hrend diese von Trotzki, Lenin und Luxemburg zum Zweck der Weltrevolution begrĂŒndet worden war, ersetzte sie ab den spĂ€ten 1920er-Jahren die Idee internationaler Revolution durch die nationalistische Doktrin des „Sozialismus in einem Lande“. Stalinismus darf dabei nicht als reine Clique, nicht als Set von Ideen oder Politiken, und auch nicht einfach als das Verbrechen, das er auch war, verstanden werden. Stalinismus war kein Ding, sondern materieller Ausdruck der Beziehung von Marxismus und Revolution. Stalinismus ist die Folge, nicht die Ursache dieser Regression. Dies fĂŒhrte aber nicht nur zur Degeneration des Marxismus und seiner Parteien, sondern schnitt damit auch die potenzielle revolutionĂ€re FĂŒhrung vom revolutionĂ€ren Potenzial der Gesellschaft selbst ab. Die revolutionĂ€re Theorie und die revolutionĂ€re Praxis standen sich fremd gegenĂŒber. Und der Marxismus war nicht mehr in der Lage, diese Fremdheit als Entfremdung zu erkennen: als das Produkt ihrer eigenen Arbeit.

Die Vertreter der Kritischen Theorie, die von den Ideen Lenins, Luxemburgs und Trotzkis gelernt hatten, verstanden, dass der Marxismus sich selbst untergrub, die praktische Bewegung fĂŒr den Sozialismus von den theoretischen Einsichten des Marxismus getrennt worden, die Nabelschnur zwischen Theorie und Praxis zerrissen war. Gleichzeitig erkannten die Kritischen Theoretiker, dass ihre Erkenntnis alleine nicht in der Lage sei, die Welt zu verĂ€ndern. Die Kritische Theorie verweist darauf, dass die Niederlage des Marxismus und das Problem des Kapitalismus nicht einfach ĂŒbersprungen werden oder komplett neu gedacht werden können. Stattdessen wĂ€re es notwendig, dass Theorie wie Praxis des Marxismus selbst einer marxistischen Kritik unterworfen werden.

Und so war es die Kritische Theorie, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen den offiziellen „Marxismus“ an den Ideen der Revolution und der Diktatur des Proletariats als den nĂ€chsten Schritt in die Freiheit festhielt – im vollen Bewusstsein dessen, dass diese theoretische Erinnerung alleine keine Politik ersetzen könne.

Die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit wurde pervertiert und schließlich nahezu vergessen: im Namen von Marxismus und Sozialismus. Die Vertreter der Kritischen Theorie sahen auch nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Idee des Sozialismus und die Aufgabe, die der Marxismus benannt hatte, unabtrennbar mit der Idee der Parteien verknĂŒpft waren: als geschichtliches Produkt des Scheiterns des Marxismus im 20. Jahrhundert. Als solches waren sie keine Beute, kein Triumphzug, sondern eine Wunde und eine Last fĂŒr den Kampf um den Sozialismus.

Wie die politische Praxis des Marxismus im 20. Jahrhundert, so ist auch die Intervention der Kritischen Theorie eine Last und eine Wunde. Sie sind schmerzliche Erinnerungen an eine Aufgabe, die vor mehr als 100 Jahren als der nĂ€chste Schritt fĂŒr die Menschheit und ihre Freiheit gesehen und in die Tat umzusetzen versucht wurde. Heute scheint diese Aufgabe eine Utopie von vorvorgestern. Weder Kritische Theorie noch orthodoxer Marxismus sind politische Optionen unserer Zeit; wer anderes behauptet, versteht nicht, wovon er redet.

Orthodoxer Marxismus stand ein fĂŒr eine revolutionĂ€re Utopie, die mit Marx meinte: „Es genĂŒgt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drĂ€ngt, die Wirklichkeit muss auch selbst zum Gedanken drĂ€ngen.“29 Marxismus und Kapitalismus sind in Geschichte unauflösbar miteinander verschmolzen. Und dennoch gibt es nichts, was im gegenwĂ€rtigen Zustand der Gesellschaft weiter voneinander weg drĂ€ngte als die Erinnerung an den Marxismus und die gesellschaftliche RealitĂ€t, in der wir leben.

Im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb Marx:

[D]ie Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.30

Korsch fĂŒgte diesem Zitat in Marxismus und Philosophie bei:

Und hieran Ă€ndert sich auch dadurch nichts, daß die fĂŒr die nunmehrigen VerhĂ€ltnisse transzendente Aufgabe in einer frĂŒheren Epoche theoretisch schon einmal formuliert gewesen ist. Eine Auffassung, welche der Theorie eine selbstĂ€ndige Existenz außerhalb der realen Bewegung zusprechen wollte, wĂ€re selbstverstĂ€ndlich weder materialistisch noch auch nur hegelisch-dialektisch, sie wĂ€re einfache idealistische Metaphysik.31

Wenn Gesellschaft sich nicht progressiv weiterentwickelt, sondern bestĂ€ndig regrediert, hinter ihre eigenen AnsprĂŒche zurĂŒckfĂ€llt, dann ist der Weg nach vorne vielleicht der Weg zurĂŒck. |P

Der Text beruht auf einem Vortrag, der am 29. Mai 2023 in Frankfurt am Main gehalten wurde. Die beiden Autoren sind Mitglieder der Platypus Affiliated Society.


1       Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: „Diskussion ĂŒber Theorie und Praxis“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 13): Nachgelassene Schriften 1949–1972, Frankfurt am Main 1989 [1956], S.33 und S.66.

2       Ebd., S. 69.

3       Ebd., S. 53.

4       Ebd., S. 53f.

5       Herbert Marcuse (1962): „A Note on Dialectic”, in: The Essential Frankfurt School Reader, New York 1985, S. 445. Übersetzung des Zitats durch JS.

6       Vgl. Immanuel Kant: „Was ist AufklĂ€rung“, in: Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten UnmĂŒndigkeit, Ditzingen 2017, S. 14.

7       Max Horkheimer: „AutoritĂ€rer Staat“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 5): ‚Dialektik der AufklĂ€rung‘ und Schriften 1940–1950, Frankfurt am Main 1987, S. 293.

8       Adorno und Horkheimer: „Diskussion ĂŒber Theorie und Praxis“, S.33 und S.70f.

9       Friedrich Engels und Karl Marx: „Die deutsche Ideologie“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 3), Berlin 1958, S. 17–18.

10     Karl Marx: „Brief an Joseph Weydemeyer“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 28), Berlin 1963, S. 507–508.

11     Karl Korsch: „Marxismus und Philosophie“, in: Karl Korsch Gesamtausgabe (Bd. 3), Amsterdam 1993, S. 335.

12     Georg LukĂĄcs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien ĂŒber marxistische Dialektik. Darmstadt/Neuwied 1968, S. 58–59.

13     Ebd.

14     Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 316-317.

15     Ebd.

16     Friedrich Engels und Karl Marx: „Manifest der Kommunistischen Partei“, Marx-Engels-Werke (Bd. 4), Berlin 1974, S. 475.

17     Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 323.

18     Ebd., S. 326-327.

19     Rosa Luxemburg: „Unser Programm und die politische Situation“, in: Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke (Bd. 4), Berlin 2000, S. 486–511.

20     Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 125f.

21     Chris Cutrone: „Adorno’s ‘Leninism’“, Eingangsstatement fĂŒr die öffentliche Podiumsdiskussion „The politics of Critical Theory“, Platypus Review Nr. 37 (Juli 2011). Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2011/07/09/the-politics-of-critical-theory/#cutrone.

22     Max Horkheimer: „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (Bd. 2): Philosophische FrĂŒhschriften 1922–1932, Frankfurt am Main 1987, S. 360–363.

23     Cutrone: „Adorno’s ‘Leninism’“.

24     Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Bd. 1), Frankfurt am Main 1974, S. 695.

25     Ebd., S. 697.

26     Ebd., S. 714–715.

27     Walter Benjamin: „Zum Planetarium“, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften (Bd. 4), Frankfurt am Main 1972, S. 147–148.

28     Theodor W. Adorno: „Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit“, in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften (Bd. 6), Frankfurt am Main 1970, S. 353.

29     Karl Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: Marx-Engels-Werke (Bd. 1), Berlin 1958, S. 386.

30     Karl Marx: „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in:  Marx-Engels-Werke (Bd. 13), Berlin 1971, S. 9.

31     Korsch: „Marxismus und Philosophie“, S. 328-329.