Verbindende Klassenpolitik in Zeiten unterentwickelter Kämpfe
Ein Interview mit Bernd Riexinger über die Gründungsgeschichte der Linkspartei, die Aktualität der Einheitsfront-Politik und die Notwendigkeit eines linken New Deals
Platypus Review Ausgabe #27 | September/Oktober 2023
von Salim A.
Bernd Riexinger war von 2012 bis 2021 einer der beiden Vorsitzenden der Linkspartei. Als Gewerkschafter organisierte er die Proteste gegen die Agenda 2010 mit und war ein Gründungsmitglied der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG). Er hat Bücher und Artikel zu den Themen linker Green New Deal und neue Klassenpolitik publiziert. Das Interview wurde von Platypus-Mitglied Salim A. am 20. August 2021 geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.
Salim A.: Was hat dich politisiert?
Bernd Riexinger: Ich bin stark durch Lehrer politisiert worden, die Ende der 60er-Jahre aus der Studentenbewegung an die Schulen kamen und dort kritisches, linkes und anti-autoritäres Denken beförderten. Ich bin schon früh in meinem Heimatdorf Teil einer Kindergruppe gewesen und von dort aus zum Bund Deutscher Pfadfinder gekommen. Er war damals wie heute eine linke Jugendorganisation und hat mit der traditionellen Pfadfinderei nichts zu tun. Im Zuge der Studentenbewegung wurden für neue pädagogische Konzepte Studenten reingeholt, damit überhaupt wieder Leute kommen. Die traditionellen Pfadfinder sind ausgetreten, haben einen neuen Verband gegründet und wir wurden wegen kommunistischer Umtriebe aus dem Weltpfadfinderbund ausgeschlossen. Wir lernten die ganzen Grundlagen: den dialektischen Materialismus, die Entwicklung der Gesellschaften von der Jagdgesellschaft bis zum Spätkapitalismus und die marxistische Wirtschaftstheorie von Ernest Mandel. Dadurch konnten wir uns eine gute theoretische Bildung aneignen und lernen, wie man Gruppen organisiert. Parallel habe ich dann mit der Ausbildung angefangen, wo ich schnell Jugendvertreter geworden bin und mich in der Gewerkschaftsjugend engagierte. In Weil der Stadt gründeten wir ein selbstverwaltetes Jugendzentrum, das heute noch existiert. Der Bund Deutscher Pfadfinder hat dort eine große Rolle für die Politisierung gespielt.
Von den verschiedenen K-Gruppen und ihren Strömungen haben wir uns eher ferngehalten. Ich habe erst spät Zugang zur Tradition der Kommunistischen Partei-Opposition um Thalheimer und Brandler erhalten, sowie zu deren Nachfolgeorganisation Gruppe Arbeiterpolitik. Die beiden haben schon in den 20er-Jahren vor dem aufkommenden Faschismus gewarnt, was leider von der KPD-Führung nicht ernst genommen wurde. Sie hat den eher linksradikalen Kurs der Sozialfaschismus-Theorie bekämpft, die praktisch besagt, die Sozialdemokraten seien die schlimmeren Faschisten, weil sie sich unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie verstecken. Thalheimer und Brandler haben sehr früh den Aufbau einer Einheitsfront gegen den Faschismus gefordert. Sie lehnten die Neugründung eigener revolutionärer Gewerkschaften durch die KPD ab, weil das den Einfluss der Linken in den Gewerkschaften erheblich schwächen würde. Das hat mich sehr geprägt und bis heute bin ich eher ein Einheitsfront-Politiker geblieben.
Was bedeutet diese Einheitsfront-Politik heute für dich?
Die ist natürlich nicht vergleichbar mit der aus den 20er-Jahren, wo man auf die Gemeinsamkeiten in der Arbeiterbewegung noch stärker Bezug nehmen konnte. Sowohl die KPD als auch die SPD hatten in ihrer grundlegenden Positionierung eine sozialistische Orientierung, wenn auch bei der SPD nicht immer in der Praxis. Heute haben wir eine SPD, die die Agenda 2010 gemacht hat und vieles andere mehr. Trotzdem hat sie an ihrer Basis sehr viele Betriebsräte, Vertrauensleute in den Gewerkschaften, aufrechte Kolleginnen und Kollegen, die wirklich für soziale Verbesserungen kämpfen. Natürlich sind diese Leute nicht unsere Gegner, sondern es geht darum, mit ihnen gemeinsam eine verbindende Klassenpolitik zu machen, in Bewegungen oder in außerparlamentarischen Bündnissen zusammenzuarbeiten. Da geht es gar nicht so sehr ums Regieren. Diese Zusammenarbeit kann aber nicht funktionieren, wenn man ihre Organisation verdammt. Das war in den 20er-Jahren genauso, wo die KPD-Führung eine Trennung zwischen Führung und Basis vollzog. Die Basis wollte man ansprechen, aber die Führung war sozialfaschistisch. Sowas wird nicht funktionieren, die Partei muss in Gänze angesprochen werden. Man kann die Politik der 20er-Jahre nicht auf heute übertragen, aber durchaus etwas lernen.
Du warst lange gewerkschaftlich aktiv und wurdest 2004 Gründungsmitglied der WASG. Wie kam es dazu nach der langen gewerkschaftlichen Arbeit?
Ich war ja immer ein linker und politischer Gewerkschafter und habe nie nur Gewerkschaftsarbeit gemacht. In den 90er-Jahren stellte ich eine Verbindung zwischen der Gewerkschaft und der damals globalisierungskritischen Bewegung her, organisierte die sozialen Proteste Anfang der 2000er-Jahre mit und versuchte immer die Gewerkschaftsbewegung mit verschiedenen anderen fortschrittlichen außerparlamentarischen Bewegungen in Berührung zu bringen. Ich hatte nie das Bedürfnis, in die SPD zu gehen oder zu den Grünen. Ich habe immer davon geträumt, dass wir sowas wie eine demokratisch-sozialistische Partei deutlich links von der SPD brauchen, aber so eine zu gründen und dafür zu sorgen, dass sie auch überleben kann, muss natürlich erstmal fertiggebracht werden. Vor der WASG war ich nie in einer partei-ähnlichen Organisation, weil ich die verschiedenen politischen Splittergruppen und Ansätze zur Parteigründung als zu sektiererisch angesehen habe. Die WASG dagegen war das erste Mal ein Ansatz, der nicht im luftleeren Raum entstanden ist. Parteigründungen haben immer etwas mit sozialen Bewegungen zu tun, mit gesellschaftlichen Umbrüchen. Denn spätestens Ende der 90er-Jahre war klar geworden, dass die Gewerkschaften völlig mit dem Rücken zur Wand standen. Das war ein großer Umbruch, so wie der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus oder wie man diese Staaten auch nennen mag. Die Schwäche der Gewerkschaften zu Beginn der neoliberalen Ära lag zum Teil darin begründet, dass sie diesen Umbruch nicht richtig begriffen und darauf reagiert hatten. Sie haben an der Sozialpartnerschaft festgehalten, nachdem die Gegenseite sie längst aufgekündigt hatte. Es war aber auch klar, dass sie mit dieser Schwächung und ohne politische Unterstützung nicht von der Wand wegkommen und in der Defensive bleiben würden. Deswegen war es dringend notwendig, eine linke Partei zu gründen. Die Agenda 2010 hat dann den letzten großen Anstoß gegeben, dass auch für linke Sozialdemokraten, zu denen ich nie gehört habe, klar wurde, dass es etwas anderes als die SPD braucht. Dadurch gab es ein historisches Zeitfenster, in dem man eine neue politische Formation gründen konnte. Der Meinung war ich auch und habe deswegen insbesondere in Baden-Württemberg an der Gründung der WASG mitgewirkt, wo ich schnell Landesvorsitzender wurde. Schnell wurde uns aber klar, dass wir das als WASG alleine nicht schaffen und bei zwei zur Wahl antretenden linken Parteien – PDS und WASG – nicht genügend Stimmen erreichen würden. Von daher war der Zusammenschluss in gewisser Weise logisch, obwohl wir alle bei der Gründung der WASG daran gar nicht gedacht hatten. Ohne die Bewegungen gegen die Agenda 2010 wäre die Linkspartei also nie entstanden oder sie wäre keine Partei geworden, die deutlich über fünf Prozent kommt. Insofern gehören außerparlamentarische Bewegungen und Ansätze zu Parteigründungen dazu.
Die WASG hat damals explizit auf den Begriff des Sozialismus verzichtet, während die Linkspartei das Konzept des demokratischen Sozialismus im aktuellen Parteiprogramm stehen hat. Was bedeutet demokratischer Sozialismus und wogegen grenzt er sich eigentlich ab?
Erstmal bedeutet Sozialismus, dass man eine fortschrittliche Alternative zum kapitalistischen System sucht und daran arbeitet. Das heißt, dass die Gesellschaft von der Mehrheit ihrer Akteure, insbesondere von den Lohnabhängigen (auch wenn heute zusätzlich andere Kreise dazu zählen), bewusst angeeignet wird und die wesentlichen Produktionsmittel im Prinzip gesellschaftlich organisiert sind. Dazu gehören heute nicht mehr nur Fabriken, sondern auch die ganze IT- und Dienstleistungsbranche.
Der Begriff „demokratisch“ ist notwendig, weil er eine klare Abgrenzung zum bürokratisierten, zentralwirtschaftlichen Sozialismus darstellt und den Gedanken einer demokratischen Organisation mit gewählten Strukturen beinhaltet, zum Beispiel mit Wirtschafts- und Sozialräten. Es wird keinen Sozialismus mehr ohne Erweiterung der bürgerlichen Demokratie geben. Es war nicht immer selbstverständlich, dass der Sozialismus die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie, also die Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie Wahlen, nicht zurückentwickeln darf. Vielmehr muss er sie auf die Bereiche der Gesellschaft übertragen, wo es die bürgerliche Demokratie selbst nicht macht: auf die Ökonomie.
Wie kommt man zu dieser Demokratisierung?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Es wird sicher nicht auf einen Schlag einen Aufstand oder eine Revolution geben, die so ein System herbeiführen kann. Rosa Luxemburg hat schon gesagt, dass es nicht Reform oder Revolution heißt, sondern Reform und Revolution. Gerade Linke dürfen den Kampf um Reformen, also um alltägliche Verbesserungen und die Demokratisierung der Gesellschaft, nicht als identisch mit Reformismus verstehen. Ein Kapitalismus mit Renten- und Krankenversicherung unterscheidet sich von einem ohne. Wenn er also sozialstaatliche Errungenschaften beinhaltet, ist er ein anderer als ohne. Das sind Fortschritte, die immer wieder verteidigt und erkämpft werden müssen. Reformismus wird es dagegen, wenn man dabei stehen bleibt und keine grundlegende Veränderung herbeiführen will. Deswegen muss man im Kampf um Reformen und Verbesserungen die Teile praktisch verbinden. Wir haben keine revolutionäre Bewegung in Deutschland, aber mit Einstiegen, die über die Grenzen der kapitalistischen Verwertungslogik praktisch hinausgehen, können wir heute beispielsweise in der Frage des Wohnraums die Eigentumsfrage stellen. Wir müssen nicht nur mehr bezahlbaren Wohnraum fordern, sondern wir können durchaus verlangen, Vonovia und Deutsche Wohnen zu enteignen oder in öffentliche Hand zu überführen. Das wäre vor 20 Jahren nicht möglich gewesen. Es gibt also bestimmte Bereiche, bei denen es den Konsens in der Gesellschaft oder bei der Mehrheit gibt (nicht bei FDP und CDU), die Dinge in öffentlicher Hand unter öffentlichem Eigentum zu organisieren. Und das sind Ansatzpunkte für Einstiege in eine sozialistische Gesellschaftsordnung.
Bei Rosa Luxemburg ist als Marxistin die Diktatur des Proletariats ein zentraler Begriff. Was verstehst du darunter?
Ich habe den Begriff der Diktatur des Proletariats immer ungern oder gar nicht verwendet. Nach der Geschichte der DDR und der Sowjetunion ist es heute nicht mehr möglich, ihn zu verwenden. Menschen verbinden mit Diktatur autoritäre Systeme. Ursprünglich war damit gemeint, dass, wenn die Arbeiterklasse erst die Macht errungen hat, die Kapitalistenklasse zu einem konterrevolutionären Aufstand aufrufen wird und sich die Arbeiterklasse entsprechend verteidigen muss. Alle Revolutionsbegriffe der 20er-Jahre haben sich letzten Endes an der Revolutionsmethode der Französischen Revolution orientiert. Diese war immer mit bewaffneten Aufständen und entsprechenden Kämpfen verbunden.
Wenn wir heute über grundsätzliche Umbruchprozesse reden, wird es viel wichtiger sein, dass die IT-Leute auf unserer Seite sind. Die Methoden, ein neues System zu kreieren, sind nicht mehr die gleichen wie vor 200 Jahren. Wenn die Linke nicht begreift, dass gesellschaftliche Prozesse heute anders verändert werden müssen, dann wird sie an einem veralteten revolutionären Begriff festhalten und das wäre ein Fehler. Den Begriff der Diktatur zu verwenden, würde jeden Zugang der Linken zu den außerparlamentarischen demokratischen Bewegungen komplett versperren.
Du hast gesagt, dass die Begriffe an einem älteren Modell der Revolution festhalten und dadurch überholt sind. Seit wann ist das eigentlich der Fall und wie ist es dazu gekommen?
Die Arbeiterbewegung in den 20er-Jahren, speziell in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, hätte mit einer Einheitsfront-Politik den Faschismus verhindern können. Wäre das gelungen, wäre das unweigerlich verbunden gewesen mit einem sozialistischen Gesellschaftsmodell. Die damalige Konfrontation war folgende: Entweder wird es eine faschistische Diktatur oder eine sozialistische Alternative geben. Die extreme Unterordnung der KPD unter die Vorherrschaft von Stalin war ein großer Fehler, ein doppelter Fehler. Einerseits war damit ein Links-Sektierertum mit dem Aufbau eigener Gewerkschaften und der Sozialfaschismus-Theorie verbunden, andererseits wurde jede kontroverse innerparteiliche Debatte unterdrückt. Die freie Meinungsäußerung sowie die innerparteiliche Demokratie der Komintern wurden dadurch stark beschädigt, was letztendlich auch zu ihrer geschichtlichen Bedeutungslosigkeit führte.
Auf die Krisensituation der 20er-Jahre reagierte auch der historische New Deal. In welcher Linie steht der heutige linke New Deal zu seinem historischen Vorbild in den 30er-Jahren?
Die Gemeinsamkeit liegt im sozialen Bereich, da der New Deal von Roosevelt zu einer großen Investitionsoffensive im sozialen Bereich und auch zur Entwicklung bestimmter Infrastrukturen auf dem Land geführt hat. Ein Grundelement des linken Green New Deals oder des sozialökologischen Systemwechsels, ist – etwas ungenau – Infrastruktur-Sozialismus. Der Zugang aller Menschen zu Bildung, Erziehung, Gesundheit, Mobilität, bezahlbarem Wohnraum etc. muss einen großen Teil der Ökonomie und einen neuen Wohlstandsbegriff ausmachen; weniger dagegen die immer stärkere Ausdehnung des individuellen und schnell verschleißbaren Warenkonsums. Diese Güter sind grundsätzlich in öffentlicher oder genossenschaftlicher Hand zu organisieren, wodurch eine regionale Ökonomie entstehen kann. Das wäre dann eine stärkere gesellschaftliche Organisation und eine Anlehnung am historischen New Deal sowie seine extreme Weiterentwicklung zugleich. Natürlich hat damals das Thema Ökologie keine Rolle gespielt, während wir heute schnell zu einer emissionsfreien Wirtschaft kommen müssen. Das stellt einen gewaltigen Umbauprozess dar, der unter bestehenden Eigentums- und Demokratieverhältnissen nicht gelingen wird. Deswegen brauchen wir sowohl neue Eigentumsformen wie auch eine Demokratieoffensive. In dem Buch zum neuen Ansatz für Wirtschaftsdemokratie1 habe ich ein Konzept mit ausgearbeitet, das Wirtschafts- und Sozialräte auf regionaler Ebene vorsieht, die auch über Investitionen in der Region entscheiden. Dies gilt auch auf der nationalen Ebene, wo in demokratischer Form entsprechende Investitionsrahmenpläne gemacht werden müssen. Wir brauchen auch eine neue Regulierung der Arbeitsbeziehungen mit Löhnen, die zum Leben reichen, mit Arbeitszeitverkürzungen und Tarifverträgen, die wieder zur Regel werden sollen sowie mit einer Aufwertung der Berufsbranchen, deren Belegschaften überwiegend weiblich sind. Das ist im Kern ein integrierendes Konzept und wird verbunden mit einer Umverteilungsoffensive. All das wird nicht finanzierbar sein, wenn Reiche und Vermögende nicht deutlich mehr Steuern bezahlen. Das findet dann sein Gegenstück in der Frage: Wie können wir das umsetzen? Das heißt, wie können wir außerparlamentarische gesellschaftliche Bündnisse aufbauen, die die verschiedenen Ansätze miteinander verbinden? Deswegen finden sich darin sowohl keynesianische wie ökosozialistische Ansätze, die über die Grenzen der kapitalistischen Logik hinausgehen. Es ist damit auch geeignet, die verschiedenen linken Kräfte in der Gesellschaft stärker zusammenzubringen.
Ist der Neoliberalismus in eine Krise geraten? Wenn ja, wie reagiert die neue Form des New Deals darauf?
In den 30er-Jahren gab es in den USA eine deutlich stärkere Arbeiterbewegung sowie radikalisiertere Teile im sozialistischen und anarcho-syndikalistischen Bereich. Roosevelts New Deal war zugleich eine Reaktion auf die Stimmungen in der Arbeiterbewegung. Das kam nicht nur von oben, sondern auch durch die Forderungen von unten – was beweist, dass man grundlegende Veränderungen nur erreichen kann, wenn es auch starke gesellschaftliche Bewegungen und Klassenkämpfe gibt. Ohne sie werden nicht mal kleine Reformfortschritte erzielt. Aber natürlich entwickle ich kein Konzept, wie man praktisch die Leute beruhigen kann, sondern das Gegenteil: wie in Zeiten unterentwickelter Kämpfe überhaupt diese Kämpfe verbreitet und miteinander verbunden werden können. Das ist ein völlig anderer Ansatz als Roosevelts New Deal. Wir haben ein Zukunftsprojekt entwickelt, das breite Kämpfe ermöglicht und ein Angebot zu starken außerparlamentarischen Auseinandersetzungen und Bündnissen liefert.
Der Neoliberalismus ist tatsächlich an eine Grenze gekommen. Selbst von den herrschenden Kräften wird er – zumindest in der momentanen Form – nicht fortgeführt. Natürlich wirken viele neoliberale Elemente wie die Agenda 2010 unter der Hand gesellschaftlich weiter, aber wir sind an einem Scheideweg, an dem völlig offen ist, was kommt. Der Kapitalismus wird so oder so modernisiert werden: entweder von den klassischen bürgerlichen Kräften oder in Form eines autoritären Kapitalismus, der schnell in offen faschistische Tendenzen umschlagen kann – Trump und Erdogan haben ein Element der Massenmobilisierung. Eine dritte Option stellt die grüne Modernisierung des Kapitalismus dar.
Du hast gesagt, dass es aktuell keine besonders revolutionäre Situation gibt. Was ist die Aufgabe der Linkspartei in diesem Fall und auch ihre Perspektive?
Alle diese Lösungen sind Formationen im Kapitalismus, die sich in Kämpfen zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen herausbilden. Sie hängen aber auch von den verschiedenen Klassenkämpfen und gesellschaftlichen Bewegungen ab, also von der Stärke der Gewerkschaften, von der Frage des Streiks und vielem anderen mehr. In so einer Situation ist es extrem wichtig, dass die Linkspartei zusammen mit anderen Akteuren in der Gesellschaft ein eigenes Zukunftsmodell einbringt, das über das Bestehende hinausweist – egal, wie wir das am Ende nennen. Sie muss sich grundsätzlich als engagierter Teil der verschiedenen fortschrittlichen Bewegungen begreifen und versuchen diese zu verbinden.
Wo siehst du den Unterschied zwischen Partei und Bewegung?
Die Partei ist eine Formation, die es auch gibt, wenn keine Bewegungen da sind, sie erkalten oder im Rückbau sind. Dann hat sie trotzdem Mitglieder, engagierte Ortsgruppen, einen gewerkschaftlichen Flügel und vieles andere mehr. Sie spielt eine kontinuierliche Rolle, die linke Vorschläge und linke Forderungen in die Gesellschaft hineinträgt und umgekehrt auch Ansätze der Bewegungen in den politischen Raum bringt, also zum Beispiel ins Parlament. In diesem Sinne haben Parteien wie die Linkspartei eine andere Funktion als Bewegungen, sie geht darüber hinaus. Aber sie ist auch Bestandteil von Bewegungen und hat organisierende Aufgaben. Wir machen auch selbst Kampagnen, aber viel wichtiger ist, dass wir Bündnisse verbreitern. Nicht inhaltslos, sondern auf Basis konkreter Inhalte und dass wir selbst darin eine klassenorientierte Position vertreten. Wir vertreten nicht einfach nur ein System und hoffen, dass die Vernunft es irgendwie durchsetzt und die anderen es einfach nur begreifen müssen, dass wir nicht so weitermachen können. Stattdessen haben wir ausgemacht, dass die großen Konzerne, dass die kapitalistische Verwertungslogik einem Prozess des Aufbruches im Wege stehen, und dass man auch klar benennen muss, gegen wen wir eigentlich solche Vorstellungen und Positionen durchsetzen. Das unterscheidet uns auch stark von den Grünen oder anderen Akteuren.
In seiner Autobiografie Links und frei. Mein Weg 1930–1950 beschreibt Willy Brandt, dass die SPD nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst von dem Ziel einer vom Staat unabhängig organisierten Arbeiterklasse abgerückt war, was sie zuvor von bürgerlichen Parteien unterschied: „Zu dem Versuch, neu anzufangen, gehörte die Entscheidung, nicht mehr notwendigerweise auf ‚sozialistische‘ Art zu turnen, zu wandern, zu singen oder Briefmarken zu sammeln. Dies bedeutete den Verzicht auf jene ‚Subkultur‘, die Überzeugungen befestigte und der politischen Arbeiterbewegung wichtige Rekrutierungsfelder geboten hatte.“ Wäre es deiner Meinung nach notwendig, diese Trennung zwischen Arbeiterparteien und bürgerlichen Parteien wiederherzustellen?
Es gibt ja die Trennung. Die Linkspartei ist keine bürgerliche Partei und versteht sich auch nicht so. Die SPD hat damals die Entscheidung bewusst getroffen, eine Volks- und keine klassenorientierte Partei mehr zu sein. Das heißt, man spricht alle Kräfte in der Bevölkerung an, also auch die Kapitalseite, und will im Prinzip alle vertreten. Das macht die Linkspartei bewusst nicht, sondern sie vertritt klare Interessen – überwiegend von Lohnabhängigen in dieser Gesellschaft. Nur haben wir den Begriff der Klasse erheblich verändert, wozu ich auch einen Beitrag geleistet habe. Es war ein großes Manko, die ArbeiterInnenklasse so stark auf den produktiven Bereich und damit auf die Industriearbeit und die klassischen Arbeiter zu verengen. Heute haben wir eine gesellschaftliche Organisation, in der nur noch rund 18 Prozent überhaupt in der Industrie beschäftigt sind, aber deutlich über 70 Prozent in den Dienstleistungsbranchen ihre Arbeitskraft verkaufen, häufig sogar mit geringerem Lohn und schlechteren Arbeitsbedingungen. Das war auch die Grundlage für den Begriff der verbindenden Klassenpolitik, weil wir schon kurz nach 2012 gesehen haben, dass die Prekarisierung und Spaltung der Lohnabhängigen ein großes Problem ist. Es war ein Kerninhalt der Agenda 2010, die Leute zu spalten: in befristet und unbefristet, in Kern- und Leiharbeiter, Subunternehmen oder Werkverträge in vielerlei Formen, womit auch die Gewerkschaften und die Möglichkeiten der Organisierung erheblich geschwächt wurden. Wir brauchten ein Konzept, dem entgegenzuarbeiten und praktisch das Verbindende, die gemeinsamen Interessen gegen die Kapitalinteressen, zu formulieren. Und es war wichtig, dass eine linke Partei die klare Aufgabe hat, soziale Fragen nicht gegen andere Fragen auszuspielen, sondern sie als Teil der gleichen Grundauseinandersetzungen zu betrachten. Damit haben wir auch gedanklich einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Klassenbegriffs geleistet.
Warum haben die Gewerkschaften so eine zentrale Rolle in der Verbindung zwischen Bewegungen, Gewerkschaften und Partei in der verbindenden Klassenpolitik?
Die Gewerkschaften sind notwendige Organisationen, die die Interessen der Lohnabhängigen vertreten und ohne die keine gesellschaftlichen Veränderungen möglich sind. Sie tragen mit ihren Aktivitäten zur Bewusstseinsentwicklung bei – ob bei Arbeitskämpfen oder im Alltäglichen. Deswegen kann man sie nicht mit anderen Bewegungen vergleichen, die ich aber überhaupt nicht geringschätzen will, sondern im Gegenteil sehr wichtig finde.
Welche Rolle hatten die Gewerkschaften, die traditionell ein SPD-Milieu waren, im Zuge der Agenda 2010. Wie hat sich das bis heute verändert?
Die CDU hätte die Agenda 2010 nicht durchsetzen können. Der Widerstand der Gewerkschaften, aber auch anderer Akteure in der Gesellschaft, auch der Sozialdemokratie, wäre viel größer gewesen. Die enge Verbindung von Gewerkschaften, insbesondere zwischen der Führung und der Sozialdemokratie, hat den Widerstand gegen die Agenda 2010 eingehegt und sie anfangs eher auf eine passive Rolle beschränkt. Es waren ja gar nicht die Gewerkschaften, die zuerst den Widerstand gegen die Agenda 2010 organisiert haben. Das waren die Montagsdemonstrationen im Osten und die sozialen Gegenbewegungen am Anfang der 2000er-Jahre. Erst dann haben sie reagiert und ein Jahr später zu Großdemonstrationen aufgerufen, als dann 500.000 Leute auf der Straße waren, um sie danach aber wieder abklingen zu lassen. Die enge Verbindung der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie ist eher mobilisierungshemmend. Es ist die Aufgabe der Linkspartei, in den Gewerkschaften stärker auf eine konfliktorientierte Gewerkschaftsarbeit, aber auch auf ihre Politisierung hinzuwirken – nicht im Sinne einer Missionierung, aber es muss im Interesse der Gewerkschaften selbst sein, andere politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Das haben sie in Gänze noch nicht begriffen.
Mit Blick auf die Probleme der europäischen linken Parteien, was hat die Linkspartei anders gemacht?
Die Linkspartei verfolgt ja nicht den Ansatz einer sozialistischen Kaderpartei, sondern den einer links-pluralistischen Partei. Das ist der Versuch, die verschiedenen Strömungen und Richtungen innerhalb der Linken in eine Parteiformation zu bringen. Das heißt, es müssen Kompromisse gemacht werden und man ist nicht immer eine einwandfreie sozialistische Partei, sondern hat auch andere Elemente drin. Das war die einzige Möglichkeit, eine nennenswerte Partei links von der SPD aufzubauen. Dort, wo das gemacht wurde, also insbesondere auch in nordischen Ländern wie Dänemark und Schweden, zum Teil aber auch in den Niederlanden, sind sie in einer Größenordnung, wie wir auch. Dort, wo die Linke aus den klassischen kommunistischen Formationen oder Abspaltungen hervorgegangen ist, ist das nicht gelungen. Das muss man deutlich sagen. Wir hatten in Italien eine kommunistische Partei von über 30 Prozent mit massiven Spaltungen. Ich empfehle jedem das Buch Der Schneider von Ulm von Lucio Magri, in dem beschrieben wird, wie diese einstmals mächtige linke Partei in einer biederen sozialdemokratischen aufgegangen ist und der linke Flügel sich so aufgespalten hat, dass er bedeutungslos geworden ist. Man kann daraus lernen, dass Spaltungen kein geeignetes Instrument sind, um die linke Bewegung voranzubringen. Deswegen war es immer schwere Arbeit, diese linke Partei zusammenzuhalten. Das ist der Kern und man muss akzeptieren, dass sich in einer links-pluralistischen Partei eben nie nur eine Linie durchzieht.
War die WASG eine Spaltung von der SPD?
Nein. Ich würde sogar sagen, dass der kleinste Teil der Mitglieder der WASG von der SPD kam. Das war eine Sammlung auch vieler verwaister Linker, die mal in verschiedenen Gruppen waren und eine neue Heimat gesucht haben. Es waren Leute, die längst bei den Grünen nach ihrer Kriegspolitik ausgetreten sind und ein Teil, der über die Agenda 2010 mit der SPD gebrochen hat. Insgesamt ist, glaube ich, eine sechsstellige Zahl von SPD-Mitgliedern ausgetreten. Davon ist nur ein Bruchteil bei der Linkspartei gelandet, die meisten sind gar nicht mehr organisiert. Im Prinzip ist eine neue Linkspartei mit eigener sozialer Basis entstanden. Heute noch mehr, da rund 70 Prozent der Mitglieder im Westen sind. Im Osten gab es ja eine ungebrochene Kontinuität der SED-PDS zur Linkspartei, während es im Westen wirklich eine Neugründung gab und heute nur noch eine Minderheit vorher in der WASG oder in der PDS war. Dadurch ist es in der Summe ganz klar gelungen, eine neue Partei aufzubauen – wenn auch nicht überall gleichermaßen und im Westen stärker als im Osten.
Was bedeutet diese veränderte Mitgliederstruktur für die Linkspartei?
Die Linkspartei macht längst nicht nur Wahlkampagnen, sondern sie hat eigene Methoden und Ansätze der politischen Arbeit entwickelt. Das hat eine Umorientierung der Partei mit sich gebracht. Natürlich wissen wir, dass, wenn wir bei Wahlen schlecht abschneiden, unsere Bedeutung geringer wird. Aber der Schwerpunkt ist die Orientierung auf außerparlamentarische Organisierung. Und auf eine Mitgliederpartei, in der die Mitglieder das Sagen haben und nicht die Parlamentsfraktionen. Das klappt nicht immer, aber der Kern der Entscheidungsstrukturen muss in der Partei liegen. Das ist natürlich nicht völlig neu. Aber dass wir den Begriff von so einer Art Partei haben, wozu auch der Begriff der verbindenden Partei gehört und die ja durchaus an Ansätze der italienischen Linken in den 60er- und 70er-Jahren anknüpft, das ist schon eine neue Parteientwicklungstheorie. Auch vieles von Gramsci wurde aufgegriffen, beispielsweise was es bedeutet, dass eine Partei hegemonial ist. Das ist sie nicht durch autoritäre Führungsstrukturen, sondern dadurch, dass sie sich tatsächlich verankert und dass sie politisch bewusste Mitglieder hat, die vor Ort der politischen Arbeit und der Partei ein Gesicht geben. Er hat erkannt, dass die herrschende Klasse sehr viele Institutionen und Strukturen in der Gesellschaft aufgebaut hat, die diese bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zusammenhalten. Eine linke Partei muss ähnlich aufgestellt sein und beispielsweise auch im kulturellen Bereich eine Rolle spielen.
Sollte also wieder sozialistisch gewandert werden?
Ich glaube schon, dass wir eigene kulturelle, aber nicht separate Ansätze hervorbringen müssen. Die Arbeiterkultur hatte ja auch einen eigenen separaten Ansatz gehabt, weil die Arbeiter in den bürgerlichen Kultureinrichtungen gar nicht teilnehmen konnten. Da haben wir heute eine andere Kulturlandschaft. Aber Kultur heißt ja mehr als nur Musikmachen und vieles andere mehr, sondern bedeutet auch Lebens- und Umgangsformen. Natürlich muss die Linkspartei Kulturformen entwickeln, die von Solidarität geprägt sind, von Offenheit, auch Neugier auf Neues und sie muss versuchen aufzunehmen, dass wir zum Beispiel eine stark migrantische Gesellschaft sind und auch eine starke feministische Entwicklung haben, die alle auch ihre eigene Kultur, ihre eigenen Ausdrucksformen mit sich bringen. Sie darf keinen verengten Begriff von Kultur haben. Dieser Kulturbegriff muss aber fortschrittlich und Teil des Emanzipationsprozesses sein, indem wir Räume schaffen, in denen sich Leute bewegen und politisch aktivieren können. Sie muss Bildungsarbeit aufbauen. All das sind Elemente einer linken Partei, die wir versuchen aufzubauen und weiterzuentwickeln. Es geht nicht immer nur aufwärts. Es gibt auch die Mühen der Ebenen. Aber im Großen und Ganzen sind wir da auf dem richtigen Weg. |P
1 Alex Demirović (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie neu denken. Münster 2018. Online abrufbar unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Wirtschaftsdemokratie_Demirovic.pdf