RSS FeedRSS FeedYouTubeYouTubeTwitterTwitterFacebook GroupFacebook Group
You are here: The Platypus Affiliated Society/Antifaschismus und die Linke

Antifaschismus und die Linke

von Lucas Burisch

Die Platypus Review Ausgabe #19 | Mai/Juni 2022

Platypus als Organisation hat sich die Aufgabe gestellt, einen Beitrag zur Auflösung ideologischer Hindernisse innerhalb der Linken zu leisten. „Die Linke ist tot, lang lebe die Linke!“ ist unser Slogan. „Die Linke ist tot!“, das heißt sie ist gescheitert, gefangen in einer Sackgasse, aus der sie keinen Ausweg findet. „Lang lebe die Linke!“, das heißt wir wollen dazu beitragen, dass sie einen Ausweg findet, durch Aufklärung über die Geschichte des Marxismus und der Linken. Beide Teile des Slogans machen Platypus aus. Würden wir unsere Aktivität einseitig auf die Verkündung des Versagens der Linken reduzieren, so würden wir unserer Aufgabe nicht gerecht. Der ganze Ballast dieser missglückten Geschichte lässt sich nicht einfach abwerfen.1 So entkommt man nicht dem ewigen Teufelskreis linker Praxis, die zwischen hektischer Euphorie und resignierter Niedergeschlagenheit hin und her schwankt. Man schaue nur darauf, wie oft sich Linke in den letzten ca. 60 Jahren von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt verabschiedet haben, nur um sie einige Jahre später wieder für sich zu entdecken. Ähnlichen Schwankungen ist die antifaschistische Praxis unterworfen. Auf die amorphe, antiautoritär und antifaschistisch motivierte Studentenrebellion in den 60er-Jahren gegen Notstandsgesetze und Altnazis folgt ein Antifaschismus, der streng dem Aufbau disziplinierter proletarisch-revolutionärer Organisationen untergeordnet ist. Da diese nirgendwo hinführten, folgte auf die zeitweilige Erschöpfung in den 80er-Jahren und der Resignation nach 1989 das Projekt Autonome Antifa. Heute aber scheint man sogar in den ideologiekritischsten Reihen die Abscheu vor den rassistischen Proleten als ein Relikt der 90er- und 00er-Jahre abgelegt zu haben, während gleichzeitig enttäuschte Autonome an die Grenzen ihrer Praxis stoßen, das Scheitern der Antifa verkünden, um nun den Aufbau revolutionärer Organisationen in Angriff zu nehmen. Es gilt nach den spaßigen Jahren in der Szene zur ernsthaften praktischen Politik überzugehen.

Das Gesagte soll hier nur als äußerst kurzer und grober Überblick über die jüngere Geschichte dienen. Der demonstrativ vorgetragene Bruch mit der Vergangenheit bricht eben nicht den Wiederholungszwang.

Die Ohnmacht der Linken lässt sich nachverfolgen bis in die 30er-Jahre, zu den sozialistischen und kommunistischen Massenparteien in Europa im Angesicht des Faschismus. Auf das Wachstum faschistischer Bewegungen antworteten sie mit Panik und Kapitulation, ihre Politik resultierte in ihrer Selbstaufgabe als unabhängige politische und soziale Vertretungsorgane des Proletariats. Revolutionäre Parteien verwandelten sich in Stützen des bürgerlich-demokratischen Regimes.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki begleitete diesen Prozess als letzter Radikaler der II. Internationale, als letzter Vertreter einer Theorie und Praxis, die als ihren Ausgangspunkt die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, inklusive der revolutionären Bewegung selbst, nahm. Die politischen Krisen der 30er-Jahre begriff er als Ausdruck eines grundlegenden Widerspruchs: Auf der einen Seite konstituierten die nach dem Ersten Weltkrieg ungelösten Krisen des Imperialismus, des zerfallenden Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie die überreifen objektiven Bedingungen. Auf der anderen Seite bestimmte die Krise der revolutionären Führung den ungenügend entwickelten Zustand des subjektiven Faktors. Die Intention von Trotzkis Kritik war nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so wirken mag, die Bereitstellung unfehlbarer Rezepte zur Bekämpfung des Faschismus. Vielmehr drehte sich bei ihm alles um die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins, das heißt eines adäquaten Bewusstseins der Arbeiterklasse um die Bedingungen der Möglichkeit der sozialen Revolution. Denn Massen, welche ihr Heil in einem unfehlbaren Führer suchen, von dem sie sich bereitwillig kommandieren lassen, oder die von Vertrauen auf den kapitalistischen Staat erfüllt von diesem ihre Rettung erwarten, werden niemals in der Lage sein, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden. Ihre Aktion führt mit Notwendigkeit zur Rekonstitution des Kapitalverhältnisses. Eine Politik, welche die Massen in ihren Vorurteilen bloß bestätigt, ist keine revolutionäre, sondern eine konterrevolutionäre Politik.

Trotzkis Kritik des Stalinismus bezog sich darauf, dass dieser die Partei im marxistischen Sinne – die politische Organisation der Arbeiterklasse für die sozialistische Revolution – liquidierte. Übrig bleibt ein Apparat, dessen Bewusstsein befangen ist in der unmittelbaren Gegenwart, dessen Politik völlig darauf ausgerichtet ist, seiner Selbsterhaltung zu dienen. Blicken wir zur Veranschaulichung ein wenig genauer auf Trotzkis Schriften zu Deutschland und Frankreich.

Es ist ja schon längst ein Gemeinplatz unter Linken aller Schattierungen, dass die KPD mit ihrer Weigerung, eine Einheitsfront mit der SPD zu bilden, dem Sieg Hitlers Beihilfe leistete. Auch Stalinisten würden dem beipflichten, um gleichzeitig erstens darauf zu verweisen, dass die SPD ebenfalls die Einheitsfront verweigerte und durch ihre Passivität Hitler den Weg ebnete und zweitens zu betonen, dass die kommunistische Bewegung aus ihren Fehlern lernte, indem sie ihren Kurs korrigierte und nun möglichst breite antifaschistische Bündnisse schmiedete. Trotzki beurteilte die Ereignisse anders:

Die Stalinsche Bürokratie aber hat es verstanden, die Krise des Kapitalismus und die Krise des Reformismus in eine Krise des Kommunismus zu verwandeln. [...] Man muss es klar, präzise und offen aussprechen: Der Stalinismus in Deutschland hat seinen 4. August erlebt.2

Im Deutschland der frühen 1930er-Jahre verdichteten sich alle Widersprüche der internationalen Lage. Somit trat hier auch die akkumulierte Krise der III. Internationale offen ans Tageslicht.

Trotzkis Begriff vom Faschismus ist denkbar simpel: eine Massenbewegung, die sich hauptsächlich auf das verzweifelte Kleinbürgertum und die in der Krise angewachsene Armee an Arbeitslosen stützt. Sein politisches Programm läuft im Kern auf die Zerschlagung und Unterdrückung aller unabhängigen Organisationen der Arbeiterklasse hinaus, also nicht nur Partei und Gewerkschaften, sondern das gesamte Netzwerk an Bildungs- und Sportvereinen, Genossenschaften etc., wodurch das Proletariat als organisierte Klasse in den Zustand einer atomisierten, amorphen Masse zurückgeworfen wird. Damit einher geht die Errichtung einer bonapartistischen Diktatur in der „das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt“.3 Das Wachstum der nationalsozialistischen Bewegung war für Trotzki vor allem ein Symptom der Kraft- und Orientierungslosigkeit der kommunistischen Partei. Denn objektiv waren maßgebliche Kennzeichen einer potenziell revolutionären Krise gegeben: Das parlamentarische Regierungssystem war einem bonapartistischen Notverordnungsregime gewichen, welches zwischen SPD und NSDAP hin und her lavierte und keine Aussicht auf lange Haltbarkeit hatte. Der sozialdemokratische Reformismus stand mit dem Rücken zur Wand: Politisch längst diskreditiert, verlor sein Programm aufgrund der Tiefe der ökonomischen Krise an Überzeugungskraft, während der Faschismus ganz konkret seine materielle Existenz in Form seines organisatorischen Apparats bedrohte. Dass unter diesen Bedingungen die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse unter Kontrolle der SPD verblieb, zeugte für Trotzki nicht von ihrem Vertrauen in die SPD, sondern von ihrem Misstrauen in die Fähigkeit der KPD, sie zur Revolution zu führen. Die Einheitsfront, also konkrete taktische Abkommen mit der Führung der SPD zur begrenzten gemeinsamen Zusammenarbeit, sollte nach Trotzki ein Mittel dazu sein, die reformistische Führung vor den Augen der Massen im praktischen Kampf zu diskreditieren, und sie so von der Notwendigkeit revolutionärer Politik zu überzeugen.

Die KPD-Führung lehnte jedoch jedes Abkommen mit der „sozialfaschistischen“ SPD-Spitze ab. Sie fürchtete über alles einen Verrat der SPD, und zeigte damit nur wie wenig Vertrauen sie in ihre eigene Fähigkeit hatte, die SPD direkt zu konfrontieren. Man beschränkte sich lieber auf beständige Beschimpfung der SPD aus der Distanz. Die Schwäche der KPD, bedingt durch den Umstand, dass sie kaum Stützpunkte innerhalb der Betriebe hatte, da ihre Anhängerschaft hauptsächlich aus durch die Krise radikalisierten Arbeitslosen bestand, verdeckte man durch prahlerischen Verweis auf die steigenden Mitgliedszahlen und Wahlergebnisse.

Hinter ultraradikalen Phrasen wie der, dass zwischen der Regierung Brünings („Brüning-Faschismus“), die mit Notverordnungen und Polizeiknüppel regierte, und dem aufsteigenden Hitler-Faschismus kein qualitativer Unterschied bestünde, versteckten die Stalinisten ihr opportunistisches Vertrauen in den automatischen Gang der Geschichte. Hitler an der Macht würde sich kompromittieren, worauf zwangsläufig der Sieg der Kommunisten folgen werde. Sie theoretisierten, dass der Übergang von der Demokratie zum Faschismus ähnlich wie ein organischer Prozess vor sich gehe und nahmen so die Kapitulation von 1933 vorweg. Trotzkis Diktum, dass sektiererische Abenteurer bloß erschrockene Opportunisten, Opportunisten bloß erschrockene Abenteurer seien, sollte sich 1933 bewahrheiten.4 Dem Terror der Nationalsozialisten konnten sie nichts als einen panischen Rückzug entgegensetzen. Trotzkis Diagnose, dass die III. Internationale nach der Machtübertragung an Hitler unwiderruflich degeneriert sei, machte er nicht nur am konkreten Inhalt des bereits oben genannten Kurswechsels fest: Die kommunistischen Parteien sollten auf gar keinen Fall die Einheit durch Kritik an den sozialdemokratischen Partnern gefährden, was einer Kapitulation vor dem Reformismus gleichkam. Auch die Art und Weise, wie der Kurswechsel bekannt gegeben wurde, nämlich ohne klare Benennung der Ursachen der Niederlage – die Niederlage wurde sogar geleugnet –, ohne breite Diskussion und Aufarbeitung der vergangenen Politik, deuteten unzweifelhaft darauf hin, dass die III. Internationale nicht mehr reformierbar war. Ihr inneres Regime war nur dazu geeignet, empiristische Apparatschiks, keine revolutionären Kader zu erziehen.

Polizeieinsatz auf der Place de la Concorde in Paris, 7. Februar 1934.5

Im Zuge der Ereignisse in Frankreich 1934 zeigte sich die III. Internationale von ihrer neuen, offen reformistischen Seite. Am 6. Februar 1934 versuchten bewaffnete Faschisten das Parlament in Paris zu stürmen und scheiterten an der Polizei. Als Reaktion darauf trat die Regierung zugunsten eines Regimes der nationalen Einheit zurück. Gleichzeitig kam es spontan zu gemeinsamen antifaschistischen Demonstrationen kommunistischer und sozialistischer Arbeiter. Unter dem Druck der Basis entstand so auch offiziell eine Einheitsfront beider Parteien. Aus ihr erwuchs schließlich der Volksfront-Gedanke, Bündnisse der Arbeiterparteien mit dem „fortschrittlichen Teil“ der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum zu forcieren.

Aus der Erkenntnis, dass die faschistische Demagogie besonders unter dem Kleinbürgertum Anhänger findet, schloss man die Notwendigkeit, nicht nur mit der Sozialdemokratie, sondern sogar mit der liberalen Radikalen Partei, der traditionellen Partei des französischen Kleinbürgertums, eine antifaschistische Volksfront zu bilden. Die Aufgabe, der die revolutionäre Partei des Proletariats gezwungenermaßen gegenübersteht, nämlich die Unterstützung der kleinbürgerlichen Massen in Stadt und Land zu gewinnen, meinte man hier durch Annäherung an die Spitzen ihrer liberalen parlamentarischen Vertreter zu lösen. Für Trotzki war dies eine Kapitulation des Proletariats durch Anpassung an die Vorurteile des Kleinbürgertums und gänzlich ungeeignet, den Sieg des Faschismus zu verhindern. Durch die schwere Krise aufgerüttelt, beginnen die kleinbürgerlichen Massen sich recht schnell vom Parlamentarismus, dem es in ruhigeren Zeiten selig die Treue hielt, abzuwenden und geraten in hektische Bewegung:

Das Kleinbürgertum in Gestalt der dem Ruin entgegengehenden Massen von Stadt und Land beginnt, die Geduld zu verlieren. […] Der arme Bauer, der Handwerker, der kleine Krämer überzeugen sich in der Praxis, dass ein Abgrund sie trennt von all diesen […] politischen Geschäftemachern […]. Die faschistischen Agitatoren brandmarken und verfluchen die parlamentarische Demokratie, die wohl Karrieristen und Bestechlichen hilft, dem kleinen Arbeitsmann aber nichts bringt. […] Die Faschisten zeigen sich kühn, gehen auf die Straße, greifen die Polizei an, versuchen mit Gewalt das Parlament auseinanderzujagen. Das imponiert dem in Verzweiflung verfallenen Kleinbürger.6

Indem sich die Kommunisten bedingungslos den Reformisten und Demokraten unterordnen, gesellen sie sich damit in den Augen des verzweifelten Kleinbürgers in eine Reihe mit den restlichen Parlamentsmaschinen. Trotzki zog aus der autoritären Sehnsucht nach einem Führer, welche das Kleinbürgertum auszeichnet, den Schluss, dass nur ein Proletariat, das Vertrauen in sein eigenes revolutionäres Programm hat, dem Kleinbürgertum eine revolutionäre, sozialistische Perspektive aus der Krise bietet.

Die Politik der französischen Stalinisten in Frankreich ab 1934 ging nie über den zaghaftesten Reformismus hinaus. Die Bildung von Arbeitermilizen zur antifaschistischen Selbstverteidigung lehnte man als Provokation ab und setzte alles Vertrauen auf den demokratischen Staat, den man dazu bewegen müsse, die faschistischen Banden zu entwaffnen. Diesen galt es ohnehin im Namen der Verteidigung der Sowjetunion zu unterstützen, die nämlich zur gleichen Zeit ein militärisches Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland schloss. Die beständigen Aufrufe zu Streiks und Demonstrationen wurden möglichst auf ökonomische „Tagesforderungen“ beschränkt. Wie in Deutschland vertraute man fatalistisch auf den Gang der Geschehnisse. Ein zu radikaler Kurs würde den Bündnispartner verschrecken, die Krise verschärfen und damit nur den Faschisten helfen. Man vertraute auf eine kommende Volksfront-Regierung, die dann auch schließlich 1936 kam und sich sogleich – in Trotzkis Worten – als Bremse der Massenbewegung erwies. Denn auf den Wahlerfolg der Volksfront antworteten die Arbeitermassen mit einer landesweiten Welle von Streiks und Fabrikbesetzungen, welche jedoch im Sande verlief. Die Führungsspitzen nutzten das Vertrauen, dass ihnen ihre Basis entgegenbrachte, um die Streikbewegung zurück in den Rahmen von Gesetz und Ordnung zu führen. 1938 schließlich brach die Regierung zusammen, das neue Kabinett, aus dem die Sozialisten herausgedrängt wurden, revidierte die Reformpolitik der Volksfront: „Gemeinsame Versammlungen, Paradeumzüge, Schwüre […], Lärm, Geschrei, Demagogie — alles dient einem einzigen Zweck: die Massenbewegung zum Stehen zu bringen und zu demoralisieren.“7 Auch wenn sich dieses Zitat auf Frankreich bezog und sich meine Darstellung hier nur auf Frankreich beschränkt, so beschreibt es präzise das Resultat der angestrengten Bemühungen der Stalinisten in Amerika und Westeuropa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, jede spontane Regung der Massen in den Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staates zu kanalisieren.

Das Jahr 1933 bedeutete nicht nur für Trotzki einen Neuanfang in Form des Wiederaufbaus revolutionärer Parteien. Für die Marxisten der Frankfurter Schule galt es, im Exil den Marxismus als Kritische Theorie in einer Epoche der „allgemeinen Liquidierung des Marxismus bei den offiziellen Spitzen der Arbeiterbewegung“8 zu retten und gegen jede Vulgarisierung zu bewahren. Es galt, dem grundlegenden Widerspruch des Kapitalismus zwischen industriellen Produktivkräften und bürgerlichen Produktionsverhältnissen in all seinen Erscheinungsformen nachzuspüren, um so einen Beitrag zum Verständnis einer Epoche zu leisten, in der sich die unterdrückten Menschenmassen lieber mit der sie unterdrückenden Kultur identifizierten, als sich von dieser zu befreien. Die Diagnose ihrer Epoche als die vom verfallenden Monopolkapitalismus, den sie wie Trotzki aus der orthodox-marxistischen Tradition übernahmen, trieb sie unter dem Eindruck der Integration der Organisationen der Arbeiterbewegungen konsequent zu den Begriffen von Staatskapitalismus und autoritärem Staat hin. Dieses Regime verstanden sie als Produkt der Periode der großen Katastrophen seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Auf den darauffolgenden weltweiten Bürgerkrieg, der außer in Russland mit dem Sieg der Konterrevolution endete, folgte die Zusammenbruchskrise von 1929 mit all ihren schwerwiegenden Verwerfungen. Der Trend ging zum Staatskapitalismus wie Friedrich Pollock ihn 1941 definierte. Dieser zeichnet sich nicht etwa dadurch aus, dass der Staat Eigentümer des gesamten nationalen Kapitals wird, sondern durch die Liquidierung der Zirkulationssphäre.9 Dies bedeutet aber nicht unbedingt die Abschaffung von Kategorien wie Preis, Zins oder Profit, sondern ihre bewusste Indienstnahme als Werkzeuge staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die Umsetzung eines Plans zur Erreichung von Vollbeschäftigung zum Zweck hat. Die große Machtfülle, mit der der Staat so ausgestattet wird, einzig und allein um die herrschende, in Klassen gespaltene Gesellschaftsstruktur zu bewahren, spitzt das Problem des Kapitalismus als ein politisches zu, nur so ist Pollocks Diktum vom „Primat der Politik“ zu verstehen.10

Das Erscheinen des autoritären Staates auf der Bildfläche ist von der Politik der Arbeiterbewegung nicht zu trennen. Die Verschmelzung der Arbeiterbürokratie mit der des jeweils „eigenen“ Staates bedeutet, dass die Institutionen, die sich die Arbeiterklasse im Zuge ihres Befreiungskampfes schuf, sich aus Instrumenten der Emanzipation zu Werkzeugen ihrer eigenen Unterdrückung verwandelten. Die Organisation wurde sich zum Selbstzweck, unter dem allgemeinen gesellschaftlichen Druck wurde sie zum Racket, das in ständiger Konkurrenz mit anderen Korporationen um Macht und Einfluss, um Brocken vom Tisch der Herrschenden kämpft. Ohne die Niederlage des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung gegen die Desorganisation der Klasse zur kommandierten Masse, der spätestens seit dem Revisionismusstreit einen Kampf gegen diesen Trend zur reformistischen Selbstgenügsamkeit führte, ist der Übergang zur Massengesellschaft nicht begreifbar.

Parade der Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale (Freiwillige Miliz für die nationale Sicherheit) vor Benito Mussolini anlässlich ihres 17. Geburtstags auf dem Palazzo Venezia in Rom, 31. Januar 1940.11

Atomistische Individuen, die sich unter einem Führer zur Masse zusammenschließen, auf den sie all ihren Wunderglauben projizieren, und zu jeder Grausamkeit gegen das schlechthin Andere bereit sind, durchziehen die gesamte Epoche der bürgerlichen Gesellschaft, wie Horkheimer in seiner großen Studie über die bürgerlichen Revolten – von den Aufständen in den italienischen Stadtstaaten des 15. Jahrhunderts, über die Reformation und die Bauernkriege hin zur Großen Französischen Revolution – nachzeichnet. Jedoch räumt er in Egoismus und Freiheitsbewegung12 diesen historischen Ereignissen eine fortschrittliche Rolle in der Geschichte der Menschheit ein. Die grundlegende massenpsychologische Dynamik ist beim Faschismus eine ähnliche: Verelendete Massen, die sich unter der Losung von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in Bewegung setzen, angetrieben vom dumpfen Drang, ihre Lage zu bessern, werden durch die herrschende Zivilisation gezwungen, auf die Befriedigung ihrer innersten Triebregungen zu verzichten und die Wut über den Verzicht nicht auf die sie unterdrückende Herrschaft, sondern auf sich selbst und Schwächere zu richten. So verinnerlichen die Massen die Tabus und Normen ihrer eigenen Unterdrückung. Doch während Horkheimer in Erhebungen wie der Französischen Revolution und dem damit verbundenen Terror noch einen fortschrittlichen historischen Zweck erblicken kann, so ist der moderne Antisemitismus und das damit verbundene Morden sich selbst Zweck.

Dies hängt ganz grundlegend damit zusammen, dass Geschichte, der Gang der Gesellschaft in ihrer Produktion und Reproduktion, im Kapitalismus nicht nach einem rationalistischen Muster verläuft. In dem Moment, in dem die bürgerlichen Produktionsverhältnisse historisch obsolet werden, das heißt eine klassenlose Gesellschaft möglich wird, unterliegen die bürgerlichen Vermittlungsformen einem Wandel. Das Potential einer höheren Gesellschaftsform drückt sich negativ in Zerfall und Krise der alten Lebensformen aus. Diese werden fetischisiert und verdinglicht, während ihre Substanz zerfällt, die Form wird auf Kosten des Inhalts konserviert.

Am Beispiel von Autorität und Familie lässt sich das besonders leicht verdeutlichen: Der Kapitalismus zerschlägt durch seine Tendenz zur Konzentration und Zentralisation den alten familiären Kleinbetrieb, er entzieht so der bürgerlichen Kleinfamilie ihre eigene ökonomische Grundlage. Die Entwicklung der großen Industrie bietet den einzelnen Familienmitgliedern die Möglichkeit, außerhalb vom familiären Zusammenhang den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, während die allgemeine Proletarisierung der Gesellschaft und die damit einhergehende Unsicherheit der Anstellung des Vaters seiner Autorität im Haushalt die Form einer willkürlichen, austauschbaren Gewalt gibt. Die Familie wird so zum ersten Übungsplatz fürs Kind, sich Autorität schlechthin anzupassen. Der Triebkonflikt des Kindes wird nicht durch den Konflikt mit der konkreten Vaterfigur hindurch über die Identifikation mit dem Vater aufgelöst. Von der Autorität der Familie bleibt nur die von jedem Inhalt entleerte abstrakte Form übrig. So entsteht die Bereitschaft im Individuum, sich mit jeder beliebigen Autorität zu identifizieren, vorausgesetzt dass diese nur mächtig genug sei.

Die Individuen und die Massen, die sie bilden, wissen um den Umstand, dass dieser gesellschaftliche Zustand sie um das Potenzial betrügt, frei vom Zwang des allgemeinen Triebverzichts zu sein. Die Zivilisation erzeugt die Barbarei, die Wut auf die Verhältnisse in denen jeder auf seine Kosten kommen könnte und es doch nicht kann. Sie wissen, dass der Antisemitismus eine Lüge ist, dass ihr Führer sie systematisch belügt und manipuliert:

Dieser Widerspruch schwächt ihre Gewalttätigkeit nicht, sondern steigert sie noch. Die, die nicht an ihre eigene Sache glauben können, […] suchen sich die Wahrheit ihres Evangeliums durch die Realität und die Unumkehrbarkeit ihrer Handlungen stets aufs Neue zu beweisen.13

Ohne konkreten Ausweg aus dem Kapitalismus – ohne revolutionäre sozialistische Perspektive – müssen sich die Massen die Unmöglichkeit, aus den sie unterdrückenden Verhältnissen auszubrechen, sich selbst durch die Tat beweisen, ihre eigene Ohnmacht bestätigen:

Just as little as people believe in the depth of their hearts that the Jews are the devil, do they completely believe in the leader. They do not really identify themselves with him but act this identification, perform their own enthusiasm, and thus participate in their leader‘s performance. It is through this performance that they strike a balance between their continuously mobilized instinctual urges and the historical stage of enlightenment they have reached, and which cannot be revoked arbitrarily. It is probably the suspicion of this fictitiousness of their own „group psychology“ which makes fascist crowds so merciless and unapproachable. If they would stop to reason for a second, the whole performance would go to pieces, and they would be left to panic.14

Mit dem autoritären Charakter fand die Frankfurter Schule einen Begriff, der die psychische Disposition der Massen, ihre Bereitschaft zur Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse adäquat zum Ausdruck brachte. Sie achtete dabei aber penibel darauf, klarzustellen, dass dieser Begriff eine notwendige, aber keine hinreichende Erklärung für die Bereitschaft zum Morden war. Der Umstand, dass das Individuum bis in seine tiefsten Regungen hinein ein Produkt dieser Gesellschaft ist, bedeutet eben auch, dass die Fähigkeit zur Grausamkeit gesellschaftlich produziert ist. Das Potential zur Barbarei liegt der Gesellschaft inne, sie kann nicht durch Psychotherapie oder durch Reformierung der herrschenden Zustände beseitigt werden.

Die Tendenz zur totalitären Herrschaft lebte auch nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland fort. Die Kriegsgegner der Nazis waren unter den Bedingungen des totalen Krieges gezwungen, auf ihre Weise dieselben Aufgaben zu bewältigen, auf die der Nationalsozialismus Antworten versprach, beispielsweise das Problem von Vollbeschäftigung. Der gesellschaftliche Trend, der den Nationalsozialismus hervorgebracht hatte, drückte der gesamten Gesellschaft seinen Stempel auf. Liest man Herbert Marcuses Feindanalysen15 über die Art und Weise, wie die Nazis einen riesigen kulturindustriellen Apparat zur vollständigen rationalen Organisation der Freizeit der Individuen schufen, erkennt man den rationalen Kern in der post-faschistischen linken Kulturkritik, die gleich einem Paranoiker tendenziell in jeder gesellschaftlichen Erscheinung den Faschismus wiedererkennt.

Adornos Vorträge nach 1945 sprechen diese Gefahr der Wiederauferstehung des Faschismus zwar an, doch noch mehr befasst er sich darin mit der ganz alltäglichen Barbarei in dieser Gesellschaft und der überaus begrenzten Möglichkeit des Subjekts, dieser Einhalt zu gebieten. Während Adorno versuchte, diesen Widerspruch auszuhalten – denn nur ein reflektiertes Bewusstsein um die eigene Ohnmacht könne laut ihm diese erst aufheben –, warf ihm die Studentenbewegung in den 60er-Jahren Resignation vor. Ich möchte dafür mit einem Zitat von Gerd Koenen enden, der damals in dieser Bewegung aktiv war, das diesen Umstand präzise zusammenfasst:

Adorno hatte schon recht, als er in einem Interview sagte, er habe doch [...] „nicht ahnen können“, daß Leute seine Theorien „mit Molotow-Cocktails verwirklichen“ wollten. Schließlich habe er „niemals irgend etwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen gezielt hätte“. Aber das war ja das Problem! Eben damit versetzte er seine Schüler [...] in eine schier unerträgliche Spannung. Wenn die bürgerliche Gesellschaft einer universalen Tendenz zum Faschismus unterlag, [...] wie konnte der Imperativ, alles zu tun, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole“ auf ein paar vage, defensive Erziehungs- und Aufklärungsmaßnahmen oder selbstgenügsame „Anstrengungen des Begriffs“ reduziert werden?!16 |P


1             Vgl. Frederic Eylenstein: „Den ganzen Ballast einer missglückten Geschichte abwerfen. Ein Interview mit Rajko Eichkamp“, Deutschsprachige Platypus Review Nr. 8 (Frühjahr 2018), S. 9–14. Online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2018/06/22/den-ganzen-ballast-einer-missgluckten-geschichte-abwerfen/.

 2            Leo Trotzki: „Die Tragödie des deutschen Proletariats“, Unser Wort Nr. 2 (Jg. 1, 1933). Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion für die Kriegskredite. Online abrufbar unter: https://bit.ly/3468L6H.

 3            Leo Trotzki: Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats. Berlin 1932. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/wasnun/index.htm.

 4            Leo Trotzki: „Wohin geht Frankreich? 2. Teil“, in: Wohin geht Frankreich?, Antwerpen 1936. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/wohinfr2/02.htm.

 5            Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.

 6            Leo Trotzki: „Wohin geht Frankreich? 1. Teil“, in: Ebd. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1934/wohinfr1/wohin1.htm#zusa.

 7            Leo Trotzki: „Frankreich an der Wende“, in: Ebd. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/06/inhalt.htm.

 8            Leo Trotzki: „Vorwort“, in: Ebd. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/06/vorwort.htm.

 9            Friedrich Pollock: „Is National Socialism a New Order?“, Zeitschrift für Sozialforschung Nr. 3 (Jg. 9, 1941), S. 450.

 10         Friedrich Pollock: „State Capitalism: Its Possibilities and Limitations“, in: The Essential Frankfurt school reader, Hrsg. Andrew Arato und Eike Gebhardt, New York City 1982, S. 71–94.

 11         Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.

 12         Max Horkheimer: „Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“, Zeitschrift für Sozialforschung Nr. 2 (Jg. 5, 1936), S. 161–234.

 13         Theodor W. Adorno: Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“. Frankfurt a. M. 2019 [1948], S. 29.

 14         Theodor W. Adorno: „Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda“, in: The Essential Frankfurt school reader, Hrsg. Andrew Arato und Eike Gebhardt, New York City 1982, S. 136–137.

 15         Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen. Lüneburg 1998.

 16         Gerd Koenen: Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. Köln 2001, S. 117.