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Gender und die Linke

Die Platypus Review #23 | Januar/Februar 2023

von Stefan Hain, Sara Rukaj und Roswitha Scholz

Am 29. April 2022 veranstaltete die Platypus Affiliated Society im Conne Island in Leipzig eine Podiumsdiskussion mit Sara Rukaj (freie Autorin, u.a. Jungle World und FAZ), Roswitha Scholz (Gruppe EXIT!) und Stefan Hain (Platypus Affiliated Society) zum Thema: „Gender und die Linke”.

Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=O7GXrdPO4a4 vollständig angesehen werden kann.

BESCHREIBUNG

Die Idee einer Befreiung der Geschlechter datiert zurück vor den Marxismus. Es waren utopische Sozialisten wie Charles Fourier und Mary Wollstonecraft, die formulierten, dass das Versprechen von „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit” der bürgerlichen Revolutionen nur von Bedeutung sei, wenn es alle Menschen beträfe. Diese Forderung nahm der historische Marxismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der Frage nach der „Befreiung der Frau” auf und versuchte, sie in der proletarischen Weltrevolution umzusetzen. Nachdem der Versuch einer solchen Revolution in den Jahren 1919 bis 1923 als gescheitert galt, schienen Fragen nach Geschlecht von geringer Bedeutung für die Überreste marxistischer und sozialistischer Politik. Es war die Neue Linke, die Fragen nach Sexualität und Geschlecht erneut aufwarf und als Kritik des Marxismus in Stellung brachte, da dieser die Themen vernachlässigt habe. Die zweite Welle des Feminismus, die sich aus dem gescheiterten Projekt der Neuen Linken ergab, war desillusioniert: Eine Befreiung aller Geschlechter wurde gelesen als eine Betäubung gegen die realen Machtverhältnisse eines jahrtausendealten Patriarchats – eine Befreiung der Geschlechter könne nicht bis zu einer imaginierten „Diktatur des Proletariats” vertagt werden. Doch bereits bald darauf zeichneten sich auch innerhalb des Feminismus ideologische und politische Differenzen und Konflikte ab. Der in den 1950ern vom Psychologen John Money eingeführte Begriff Gender, der die psychische und soziale Dimension des Geschlechts betont, hielt Einzug in feministische Diskussionen, am prominentesten vielleicht in Judith Butlers „Gender Trouble”. Spätestens seit diesem Zeitpunkt scheint der Begriff Gender zunehmend politische Bedeutung zu erhalten, auch und vielleicht besonders innerhalb der Linken. Als Begriff scheint er traditionelle Grenzen zwischen den Geschlechtern einzureißen, aber auch neu zu errichten. Und auch für die Linke ist Gender ein Zankapfel, dessen korrekter Beurteilung wegen sich Gruppen und Zeitungen spalten. Ist „Gender” eine Leerstelle des Marxismus, die nur durch neue Formen der Theorie komplettiert werden kann? Welche politische Bedeutung hat der Begriff Gender für die Linke heute? Wie steht es um „Gender-Befreiung” mehr als 30 Jahre nachdem sie als politisches Projekt ausgerufen wurde? Was hat die Linke gelernt aus den 200 Jahren Kampf um die Befreiung der Geschlechter? Welche politische Rolle käme „Gender” in einem Kampf um die Emanzipationen der Geschlechter zu?

EINGANGSSTATEMENTS

Sara Rukaj: Die Gender- hat die Geschlechter-Forschung der 80er- und 90er-Jahre als Paradigma ersetzt. Ausschlaggebend für diesen Wandel ist die Auflösung der von Queertheoretikern als repressiv abgelehnten Annahme einer konstitutiven Zweigeschlechtlichkeit der Menschen zugunsten eines geschlechterpolitischen Identitätenbaukastens, aus dem sich das zerfallende postmoderne Subjekt immer wieder neu zusammenflicken soll: als nonbinär, queer, fem, demi-, sapio- oder asexuell. Für die Geschlechterforschung bedeutete dieser Wandel, dass die Kategorie Mann oder Frau, im Grunde die Kategorie Geschlecht, überhaupt nicht länger vorausgesetzt werden dürfe. An Stelle des feministischen Subjekts ist heute die Performativität aller möglichen Identitäten getreten.

Der postfeministische Avantgardismus der 90er-Jahre stand für den Niedergang der weiblichen Emanzipation, weil er Frauen nicht länger zur politischen Referenz und Analysekategorie erheben wollte. Seine heutigen Epigonen radikalisieren sich in genau diesem Punkt weiter, beispielsweise in den Deutungsfäden um die angemessene Definition von Geschlecht zwischen Queeraktivisten und ihren radikalfeministischen Antipoden um Alice Schwarzer. Letztere halten am biologischen Geschlechterbegriff fest, während Gender dessen erlernte soziale Dimension meint. War man früher in der Neutralisierung von Personen als Träger einer spezifischen Funktion geübt, so lernen wir heute, sie zu sexualisieren. Bei Männern, die ungebrochen für den Normalfall zu stehen scheinen, vollzieht sich dieser Prozess verallgemeinernd und unter Abzug ihrer eigentümlichen Männlichkeit. Frauen hingegen werden als relationales Gut betrachtet, bewertet und feinsäuberlich dekonstruiert, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Oder um es mit dem Existenzialgebot von Jacques Lacan zu formulieren: „La femme n’existe pas“. Auch Judith Butlers Dekonstruktion des biologischen und kulturellen Geschlechts zielt sonderbarerweise immer auf die Frau, so als gäbe es sie tatsächlich nicht oder nur als schaurige Phantasie eines omnipotenten Patriarchats.

Als sich Ende der 90er-Jahre Gender Studies auch an deutschen Universitäten als Fach konstituierten, hat man sich noch mit psychoanalytischer und sozialgeschichtlicher Geschlechterforschung auseinandergesetzt, die Queer Theory nicht in den Blick nahm. Zwei Jahrzehnte später lässt sich kaum mehr ein Interesse an solchen Zusammenhängen feststellen. Den Sozialwissenschaften wird seitens der Cultural und Gender Studies vorgeworfen, sich an der Konstruktion binärer Kategorien zu beteiligen, statt diese zu dekonstruieren.

Für die ältere feministische Theorie, die geschlechterspezifische Ungleichheit in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet sah, war es selbstverständlich, dass die Verhältnisse selbst und nicht etwa deren Theoretisierung oder Verbalisierung das Geschlecht hervorbringen. Das passiert auf Grundlage der materiellen ersten Natur, zu der auch die von der Gesellschaft überformte, aber eben nicht erzeugte Geschlechtsnatur gehört. Während der 68er-Bewegung avancierte die Aussage von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern von der Gesellschaft zur Frau erzogen, zu einem Gemeinplatz der Zweiten Frauenbewegung. Während die Zweite Frauenbewegung jedoch das Frausein als von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossene Erfahrung essenziell auflud, führte Butler die berechtigte Kritik an solcher Geschlechteraffirmation ad absurdum, indem sie die evidente Tatsache biologischer Geschlechtsmerkmale leugnete und so die leibliche Dimension des Körpers von der gesellschaftlichen Frauwerdung entkoppelte.

Sowohl die Zweite Frauenbewegung als auch ihre akademische Fortsetzung in den Queer Studies müssen sich dazu verhalten, dass eine Konvergenz ihrer Ansichten mit der Entwicklung des Kapitalismus in der bürgerlichen Epoche besteht. So lässt sich eine zwiespältige Affinität ihrer meist kapitalismuskritisch vorgetragenen Forderungen zur – meist als Neoliberalismus etikettierten – Erneuerung des Kapitalismus feststellen, der die Möglichkeit zur Entfaltung der Frau als Subjekt in der Zerstörung vormoderner Verhältnisse erst geschaffen hat, zugleich aber neue Zwänge an deren Stelle treten ließ. Es ist interessant, dass Queer Studies zu dem Zeitpunkt populär wurden, als der Spätkapitalismus sowieso flexible Subjekte forderte. Diese krasse Affirmation der Marktanforderungen wird meist nicht gesehen.

Die Gebärfähigkeit der Frauen erkannte schon Friedrich Engels in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates als ursächlich für die frauenverachtenden Praktiken, die es bis heute überall auf der Welt gibt, von weiblicher Genitalverstümmelung in islamischen Ländern bis zur Sterilisierung armer Frauen in Südamerika. Um solche Praktiken kritisieren zu können, muss man einen Begriff davon haben, welches Verhältnis zwischen Geschlechtsnatur und Gesellschaft in den je verschiedenen Kulturen besteht. Aber der Queerfeminismus lehnt Natur und Geschlechtlichkeit der Menschen als reine Begriffsfiktion ab. Damit geht das Subjekt des Feminismus, die Frau, verloren.

In der Tat ist durch die Auflösung der Konkurrenzwirtschaft der Handlungsspielraum von Frauen gewachsen. Statt angesichts dieses Fortschritts die Emanzipation der Geschlechter zu verwirklichen, wurden jedoch zuvor bestehende Zwänge neu ausgehandelt. Im Namen von Freiheit und Gleichheit stellt sich der Intersektionalismus in den Dienst der Minderheiten und betreibt so erst recht die ewige Festschreibung von Ungleichheit und Differenz, die eigentlich abgeschafft werden sollte. Statt die Identität eben als unbedingt zu respektierende Annahme zu etablieren, sollte untersucht werden, wie es zu diesem Zerfallsprozess der Frauenbewegung und ihrer Unterordnung unter den Queerbegriff, der weder Frauen noch geschlechtliches Begehren – also auch kein homosexuelles Begehren – mehr kennt, gekommen ist. Vor diesem Hintergrund kann sich eine autonome Frauen- und Schwulenbewegung, wie es sie ja schon lange nicht mehr gibt, gar nicht erst formieren. Um das untersuchen zu können, muss es eine begriffliche Bestimmung von Geschlechtlichkeit und die Untersuchung der empirischen Lebenswirklichkeit von Männern und Frauen in verschiedenen Milieus und Kulturen geben, aber die Queer Theory entzieht solchen Bestrebungen zunehmend die Grundlage.

Roswitha Scholz: Zweifellos sind die Reproduktion und die entsprechenden Sorgetätigkeiten traditionellerweise eine Leerstelle im Marxismus. Die sogenannte Frauenfrage wurde bekanntlich als Nebenwiderspruch behandelt, wogegen die Zweite Frauenbewegung Widerspruch einlegte. Gender wurde erst in den 1990er-Jahren hegemonial. Die Annahme war, dass Geschlecht, sogar dessen körperliche Dimension, sprachlich hergestellt werde. Die materielle Ebene wurde de facto gestrichen. Dieser Paradigmenwechsel dürfte auch mit dem Aufstieg des Neoliberalismus zu tun haben, der diese Flexi-Identitäten erforderte. Die traditionellen Geschlechterrollen waren unzeitgemäß. Seit etwa Mitte der Nullerjahre erleben wir infolge der Krisen – insbesondere 2008 – nun wieder eine Marx-Renaissance und damit auch den Wiedereinzug marxistischer Theorie in den Feminismus. Nun wird auch der Körper wieder vermehrt thematisiert. Auch DekonstruktivistInnen kommen längst nicht mehr ohne eine gewisse Portion Materialismus aus. Man scheut sich auch nicht, Konzepte eines Steinzeitmarxismus auszugraben und sie feministisch anzureichern, wobei letztlich auch hier die Frauenfrage wieder zum Nebenwiderspruch verkommt.

Im Linksfeminismus stehen sich heute zwei Richtungen gegenüber: Die eine verficht einen materialistischen Feminismus, die andere einen dekonstruktivistischen Gender- und Queerfeminismus. Bekanntlich tut sich eine Kluft zwischen einer Klassenpolitik und einer Identitätspolitik auf, wobei Gender diffus in der Identitätspolitik inbegriffen ist. Dabei sind die Begriffe Gender und Identität selbst ins Rutschen geraten. War Identität in den 1990er-Jahren verrufen und sollte dekonstruiert werden, so greift man heute unter anderem wieder auf Standpunkttheorien zurück. Diese Theorien gehen davon aus, dass mit einer bestimmten sozialen Lage auch ein entsprechendes Bewusstsein einhergehe, dass sich also zum Beispiel Bewusstsein und Interessen von schwarzen und weißen Frauen aufgrund ihrer sozialen Lage unterschieden. Ebenso gibt es Tendenzen, einzelne Diskriminierungen bis zur Absurdität zu differenzieren.

Der Identitätsdiskurs ist aus den linken subkulturellen Milieus der 1980er-Jahre entstanden und in den Mainstream eingeflossen. Zugleich haben wir die Tendenz, dass von Rechten die alten Geschlechtsmuster behauptet werden. Diese Widersprüche zeigen, dass im heutigen Stadium des kapitalistischen Patriarchats nach wie vor Zwangsflexi-Identitäten legitimiert werden müssen. Andererseits wird aufgrund der Prekarität der gesellschaftlichen Verhältnisse aber auch Halt gesucht, unter anderem in traditionellen Geschlechtsmustern. Nach der superfluiden Postmoderne leben wir nun in einem Zeitalter der Restauration.

Wenn sich heute wieder homophobe Tendenzen und ein Antigenderismus breit machen, hat das auch damit zu tun, dass in Queer Theory und Queer Politics die Geschlechterproblematik nur oberflächlich in einem sprachlich-diskursiven Spiele-Universum angegangen wird. Dazu gehört auch eine bis ins Groteske gehende Sprachpolitik, die in ihren Zuspitzungen sogar dazu geeignet ist, autoritären Bedürfnissen entgegenzukommen.

Stattdessen müsste man den ökonomisch-sozialen, symbolisch-kulturellen und psycho-sozialen Gesamtzusammenhang in den Blick nehmen. Dies gilt ebenso für andere Diskriminierungsformen, aber auch für soziale Ungleichheiten, die eben nicht mehr mit dem alten Klassenbegriff abgedeckt werden können. Entscheidend ist hier, dass nicht nur mit einem feministischen, sondern auch mit einem linken Abstraktionstabu zu brechen ist, das Klasse oder andere Identitäten zum theoretisch-analytischen Ausgangspunkt macht.

Aufgrund eines gigantischen Problemdrucks – Klimakrise, Wohnungsnot, Carekrise, Coronakrise, ökonomische Krise, Ukraine-Krieg – scheint Aktionismus und Praxisorientierung angesagt, wobei linke und feministische Theoriebildung sich primär als Dienerin von Praxis versteht. Ich denke jedoch, dass es höchste Zeit ist, einen Schritt zurückzutreten und die gesellschaftliche Totalität in der historischen Dimension in den Blick zu nehmen und dabei auch wesentlich dem hierarchischen Geschlechterverhältnis, das in Gendertheorien keineswegs abgedeckt ist, und sogenannten Minderheiten Platz einzuräumen. Angesagt ist dies deshalb, weil die Linke in einer tiefgreifenden Krise steckt, die sich heute angesichts des Rechtsrucks immer mehr zuspitzt. Dies schließt ein praktisches Engagement keineswegs aus. Jedoch sollte es in einem übergreifenden Gesamtzusammenhang reflektiert werden. Theorie kann der Praxis nur nützen, wenn sie sich nicht von vornherein mit dieser gemein macht.

Ich selbst habe versucht, mit meiner Wertabspaltungstheorie einen Beitrag zu einer Theoriebildung zu leisten, die den Zusammenhang zwischen Produktion und Wert sowie zwischen Reproduktion und Abspaltung in dialektischer Vermittlung zum Ausgangspunkt nimmt. Sie zeigt dabei, dass über eine Kritik der Identitätslogik und eine damit verbundene Kritik des männlichen Erkenntnissubjekts, das mit dem Wertabspaltungsverhältnis gesetzt ist, dieses Verhältnis aus seinem Inneren heraus gezwungen ist, sich selbst zu relativieren und auch anderen sozialen Disparitäten als den hierarchischen Geschlechterverhältnissen Raum zu geben.

Stefan Hain: Die Linke ist eine politische Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft, die deren revolutionäre Tendenz am radikalsten verfolgte und politisch umzusetzen versuchte. Der historische Marxismus war eine Strömung innerhalb der Linken, der sich als die „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden” begriff. Kritik bedeutet, ein Objekt unter den Bedingungen der Möglichkeit seiner eigenen Transformation zu fassen. Kritik will durch die inneren Widersprüche eines Objekts dessen Potenzial entwickeln, zu etwas Anderem zu werden. Für Karl Marx war die Totalität der menschlichen Lebenswelt durch den Menschen selbst erzeugt, Produkt seiner Arbeit, auch wenn der Mensch sich dessen nicht stets bewusst sei:

Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit. Es ist nicht eine Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt. Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d.h., sein eignes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.1

Der Mensch ist laut Marx also nicht unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit, sondern dieser durch Wollen und bewusste Planung entfremdet: Sein eigenes Leben wird ihm zum Gegenstand. Das gesellschaftliche Gattungswesen des Menschen produziert Freiheit und Entfremdung als Momente desselben Prozesses. Das bedeutet, dass die Menschen ihrem gesellschaftlichen Wesen und seinen Produkten fremd gegenüberstehen, als seien sie außer ihnen stehende Natur. Das wiederum beeinflusst aber auch, wie Natur selbst erscheint: als Material für die Produktion von Gesellschaft. Diese Erscheinung ist aber kein Schein, kein Trugschluss, sondern tatsächlich der einzige Zugang des Menschen zur Natur.

Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffnen Welt anschaut. Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.2

Die bürgerliche Gesellschaft entwickelt laut Marx eine selbstunterminierende Dynamik, in der die Produktion von Freiheit mit der Reproduktion naturhafter Unfreiheit einhergeht. Der sich selbst gesellschaftlich schaffende Mensch wird blind gegenüber dem Wesen seiner eigenen Arbeit. Er vergisst, dass er sich und seine Natur gleichermaßen durch Arbeit als Objekte gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Nutzens produziert.

Der US-amerikanische Psychologe John Money gelangte im Jahr 1955 durch seine Arbeit mit intersexuellen Patienten zur Erkenntnis, dass die Chromosome nicht zwingend das seelische und soziale Geschlecht determinierten und dass Geschlecht auch an postnatale Entwicklungsfaktoren gebunden sein könne. Doch erst durch psychoanalytisch geprägte Debatten innerhalb des Feminismus der 1970er- und 1980er-Jahre, wie bei Luce Irigaray und später Butler, fand der Begriff breitere Beachtung und Bedeutung jenseits der Psychologie. Dies wurde getragen von Lacans Neufassung der Psychoanalyse, die durch die Philosophie Martin Heideggers geprägt war.

Der Beginn nicht des Wortes, wohl aber des Begriffs „Gender” findet sich in einer Fußnote von Sigmund Freud aus dem Jahre 1905. Dort erklärt er, dass die Begriffe „männlich” und „weiblich” im Alltag wenig zweideutig schienen, aber „in der Wissenschaft zu den verworrensten gehören”. Laut Freud werden „männlich und weiblich bald im Sinne von Aktivität und Passivität, bald im biologischen und dann auch im soziologischen Sinne” verwendet. Die biologische Richtung lässt laut Freud „die klarste Bestimmung” zu: Sie sei charakterisiert durch „Anwesenheit der Samen-, respektive Eizelle und die von ihnen ausgehenden Funktionen”. Stärkere Muskelentwicklung, Aggression und höhere Libido träten zwar häufiger zusammen mit biologischer Männlichkeit auf, seien mit dieser aber nicht notwendig verknüpft. Die soziologische Richtung erhalte „ihren Inhalt durch die Beobachtung der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen“. Für Freud war die soziologische Komponente also geschichtlich bedingt und zeitgebunden, konstituiert durch reale Individuen in ihren konkreten gesellschaftlichen Lebensumständen.

Ebenso ergab sich für Freud, dass beim Menschen „weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird.” Stattdessen wiesen alle Individuen „vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf, sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen abhängen als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.”3

Theodor W. Adorno kritisierte die Soziologie der 1950er-Jahre, welche die Trennung von Psychologie und Soziologie als ein Problem sah, für dessen Überwindung man lediglich „mehr Fakten sammeln, die Begriffe schärfer schleifen müsse”.4 Laut Adorno war die Synthese von Psychologie und Soziologie aber kein methodisches Problem. Stattdessen seien die Menschen unfähig, sich in ihren gesellschaftlichen Institutionen zu erkennen, weil sie sich von der Gesellschaft als dem Produkt ihrer eigenen Arbeit entfremdet hätten und ihr gegenüberstünden wie einer außerhalb von ihnen existierenden Macht: „Was die arbeitsteilige Wissenschaft auf die Welt projiziert, spiegelt nur zurück, was in der Welt sich vollzog. Das falsche Bewußtsein ist zugleich richtiges, inneres und äußeres Leben sind voneinander gerissen.”5

Weder Soziologie noch Psychologie könnten in letzter Instanz das Problem vollständig fassen, da das Individuum vielseitig zerrissen sei: nicht nur in Ich, Es und Über-Ich, sondern auch zwischen dieser dreifaltigen Form der privaten Persönlichkeit und der Existenz als rein quantitativer Größe, als Charaktermaske im Getriebe der Gesellschaft. Als verdinglichte Einzelteile eines zerrissenen Ganzen behalten sie gegeneinander beständig recht und unrecht zugleich. Nur aus der Trennung dieser zwei Seiten menschlicher Subjektivität, die wahr und unwahr zugleich ist, ließe sich Aufgabe wie Potenzial menschlichen Zusammenlebens erkennen.

Bis dahin schrumpfe die autonome Instanz der Menschen, ihr Ich, während Es und Über-Ich im Zeichen der Macht gegen sie mobilisiert würden. Das Ich der Individuen war für Adorno zum Sklaven zweier Welten geworden: Träger der libidinösen Bedürfnisse des Es, des Lustprinzips; gleichzeitig aber auch Träger des Realitätsprinzips und insofern der Vertreter einer Ordnung, die nicht es selber sei. Adorno erkannte diese Identität der Psyche, ihre „Doppelrolle” als eine hinfällige an: Sie sei nicht invariant, könne sich ändern, zum Besseren oder zum Schlechteren.

Da die Weltrevolution im 20. Jahrhundert scheiterte, „weil die Bildung eines vernünftigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, der Menschheit, mißlang”,6 sei Gesellschaft selbst in einer Regressionsspirale gefangen. Mit den am weitesten entwickelten Produktivkräften würde lediglich die Barbarei in ihren krudesten Formen reproduziert. Die subjektive Verfassung der Menschen musste sich laut Adorno der objektiven Verfassung der Gesellschaft anpassen. Er vollzog in seiner Kritik der Psychoanalyse nach, inwiefern deren Gegenstand, das bürgerliche Individuum, sich im 20. Jahrhundert fortschreitend fragmentierte und desintegrierte.

Adorno sah Individualität und Subjektivität schwinden: „In der antagonistischen Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich, Sozialcharakter und psychologischer in einem, und somit a priori beschädigt.” Denn „wo dem Ich sein Eigenes, Differenziertes mißlingt, wird es regredieren, zumal [...] seine bewußten Funktionen mit unbewußten verschmelzen”.7 Gemein ist aller Regression, dass sie ein Rückfall in Früheres, bereits Überwundenes ist. Sie bedeutet pathologische Wiederholung in einer Situation, die scheinbar keine angemessene Antwort zulässt.

Die Grenzen der Charaktermasken der Identität verliefen für die Kritische Theorie nicht nur zwischen Berufen und Schichten, sondern zwischen allen Einteilungen der Menschen, inklusive in Männer und Frauen. So unnatürlich und variant diese Kategorien für Adorno waren, so sehr betonte er die realen und scheinbar invarianten Umstände, die diese (Auf-)Teilung von Menschen notwendig machten und organisierten. Adorno forderte, auch Schlechtes in seinem Wahrheitsgehalt anzuerkennen, da es anders nicht überwunden werden könne. Er sah aus diesem „verhexten” Umstand nur einen Ausweg: die politische Überwindung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Erst in einer solchen könnte Geschlecht einen nicht-ideologischen Charakter annehmen. Um Möglichkeiten der Befreiung eines Objekts zu erschließen, war es für Adorno notwendig, das zu überwinden, was er „Identitätsdenken” nannte: die Idee, dass Begriff und Gegenstand absolut deckungsgleich sein müssen. Aufgabe des Gedankens wäre es,

alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur[:] das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen oder die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.8

Gender erfüllt im Kapitalismus eine Funktion wie alles andere auch: Es wird genutzt, um Jobs zu bekommen, Produkte zu bewerben, Gruppen zu spalten, Individuen auszuschließen, und um politische Entscheidungen zu begründen. Gender ist die entsexualisierte psycho-soziale Geschlechtsidentität, entfremdetes Produkt gesellschaftlicher Arbeit, so wie es jeder Begriff von Geschlecht von jeher war. Aber damit ist Gender auch der Ausdruck der Veränderbarkeit der menschlichen Natur, Potenzial innerhalb der Unfreiheit: Es steht ein für den Charakter, den der Mensch sich wollend und geplant erschafft; wenn auch nicht unter freien Umständen. Damit verweist Gender auf die Unfreiheit der Natur und einer Gesellschaft, die sich naturhaft und gewalttätig reproduziert und alles einander gleich, identisch machen will. Gender wollte jenseits von Sex sein. Aber das alte Tabu über Geschlecht und Sexualität macht auch vor Gender nicht Halt: es wird zu einem Januskopf, mal Täter, mal Opfer. Es steht ein für die Unaussprechlichkeit von Gesetz und Tabu. Und somit wird Gender zu einem weiteren Objekt im Streit unter Linken – und kann, ganz postmodern, alles oder nichts bedeuten. Es ist identisch geworden mit dem Rahmen, dem es eingeordnet wird.

ANTWORTRUNDE

RS: Stefans Bezugnahme auf die marxschen Frühschriften löst bei mir Bauchschmerzen aus. Vor allem der darin begriffene ontologische Arbeits- und Entfremdungsbegriff, der das Gattungsmäßige in den Vordergrund stellt, hat etwas Anthropologisches. Erstens war es Marx selbst, der diesen Begriff im Kapital zu einem umfassenderen Fetischbegriff ausgeweitet hat. Zudem gibt es eine Linie zu Georg Lukács und Adorno, der das auf die Gesamtgesellschaft, also Kultur und Freizeit, übertragen hat. Dieser Ansatz lädt zu einer Romantisierung von vorkapitalistischen Verhältnissen ein.

Die Quintessenz von Adornos Aufsatz Psychologie und Soziologie ist, dass Soziologie und Psychologie zwar nicht ohne einander auskommen, aber auch nicht miteinander verschmolzen werden können, wie es beispielsweise Slavoj Žižek mit seinem Lacan-Marxismus versucht. Stefan benutzt Adorno, um auf die verpasste Revolution und die fehlende Subjektivität hinzuweisen. Das ist problematisch. Wie kommt man da denn raus? Sollen wir uns jetzt ein schönes Leben im Kapitalismus machen, weil es kein Subjekt mehr gibt?

SR: Oft bekommt man bei Platypus den Eindruck, sie seien in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts hängen geblieben. Und ebenso bekommt man bei der Frage, ob Gender eine Leerstelle des Marxismus sei, den Eindruck, dass – nicht nur bei Platypus – eine allgemeine Verwirrung über den Gender-Begriff herrscht. Handelt es sich beim Geschlecht um eine Art neue Klasse, von der ich noch nichts weiß? Lacans Schülerin Irigaray behauptet, Frau sei eine eigene Klasse und nutzt dabei marxsche Begriffe, ohne die Dimension derselben zu fassen. Das ist wie der Begriff des Patriarchats: Das herrscht im Westen im 21. Jahrhundert schon lange nicht mehr.

Es gibt insofern eine stillschweigende Verschiebung des Materialitätsbegriffs im historischen Materialismus. Materialität beschreibt nicht länger die für kapitalistische Gesellschaften konstitutive Weise der Arbeitsteilung, die die Ausschöpfung von Mehrwert erlaubt, wie in der marxistischen Tradition üblich. Stattdessen geht es in Gender und Queer Theory nur noch um eine Art indifferentes Nebeneinander der Vielfalt und eine Sedimentierung kultureller Normen, zu denen das soziale Geschlecht gehört.

SH: Die Zweite Internationale, aber auch die frühe Dritte Internationale haben die Befreiung der Frau durchaus ernst genommen als revolutionäre Bewegung der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Haupt- und Nebenwiderspruch sind keine zentralen Themen des traditionellen Marxismus, sondern hauptsächlich des maoistischen und stalinistischen Denkens. Den alten und den jungen Marx gegeneinander ausspielen zu wollen, hat nach meinem Empfinden viel mit der Hilflosigkeit unserer Situation zu tun. Anstatt sich von seinen Frühschriften zu distanzieren, versuchte Marx, sie entlang der politischen Konflikte, die er kennengelernt hat, zu konkretisieren. Marx greift Entfremdung als einen Begriff von Hegel auf. Er meint einen notwendigen Prozess des Erkennens, der Freiheit des Werdens und der Veränderung ist. Entfremdung ist notwendig für Emanzipation, andernfalls befindet man sich in der unmittelbaren Lebenstätigkeit des Tieres.

Begriffe sind Produkte: Sie transformieren sich durch Geschichte, durch die Werktätigkeit des Menschen. Der Arbeitsbegriff bei Marx ist auf keinen Fall ontologisch. Marx sagt nicht, Arbeit sei ein in sich existierender Gegenstand, der immer unfassbar wäre, sondern sie sei das vermittelnde Moment aller bisherigen menschlichen Geschichte und die zentrale Kategorie kapitalistischer Gesellschaft. Die Idee des Marxismus war, dass im Kapitalismus, folgend aus den bürgerlichen Revolutionen, Gesellschaft zentral um Arbeit organisiert wird. Laut Marx bleibt das auch solange der Fall, bis es eine Diktatur des Proletariats gibt, die Sozialismus einführt.
Arbeit ist ein Produkt, das Menschen hervorgebracht haben, um sich selbst und ihre Natur daraus herzustellen. Deshalb ist nach Marx und Adorno das, worüber wir reden, der Begriff und nicht der Gegenstand von Natur. Auch wenn ich das meiste von ihnen nicht teile, muss ich im Hinblick sowohl auf Irigaray als auch Butler sagen, dass es überhaupt kein dummer Gedanke ist, dass das, was wir für Natur halten, eben nicht nur Natur ist, sondern die Art und Weise, wie wir gerade in dieser spezifischen Perspektive der Gesellschaft auf Natur schauen, und das wird davon geformt, wie wir zusammenleben.

Die Geschlechterfrage ist ja auch nicht ausschließlich für die Frauen reserviert, sondern eben ein weiterer Begriff.

Suffragetten demonstrieren für das Frauenwahlrecht in New York City, 1912

FRAGERUNDE

Was bedeutet Marxismus und wofür brauchen wir ihn, wenn wir von feministischen Fragen sprechen? Rosa Luxemburg schreibt einen Text zur Frauenfrage gegen den bürgerlichen Feminismus und meint, die bürgerlichen Feministen wollen das Wahlrecht, um Reformen durchzudrücken, wir als Marxisten, und das ist das spezifisch marxistische an unserem Feminismus, wollen die Diktatur des Proletariats, um damit eine andere Gesellschaft zu verwirklichen und so die Frauenfrage zu lösen. Roswitha, würdest du das als traditionellen Marxismus fassen und inwiefern unterscheidest du dich davon?

RS: Ich muss sagen, ich bin in der Frage gar nicht so eine dolle Marxistin, dass ich darauf Marx-philologisch antworten könnte. Der Bezug auf Marx ist immer auch ein historischer. Ich würde Stefan widersprechen, dass die sogenannte Frauenfrage eine zentrale Frage in der ganzen marxistischen Tradition gewesen sei. Das war schon immer etwas Untergeordnetes, ob man es Nebenwiderspruch nennt oder nicht. Was den Ostblockmarxismus angeht, ging es tatsächlich um diese Diktatur des Proletariats, und damit verbunden war auch eine Art Arbeitsontologie. Arbeit bedeutet nicht immer dasselbe. Das müssen wir historisieren. Arbeit in der Moderne ist gesellschaftlich hergestellt beziehungsweise auch eine Art Übereinkunft. Die Arbeit an sich gibt es genauso wenig wie Gender. Ich würde eher den Begriff des Stoffwechselprozesses mit der Natur als übergreifenden Gesichtspunkt sehen und nicht die Arbeit, also dass Menschen immer einen Stoffwechselprozess mit der Natur haben. Das Problem des Traditions- und Ostblockmarxismus ist, dass der Zusammenbruch des Ostblocks überhaupt nicht aufgearbeitet worden ist. All die Konzepte werden stattdessen einfach übernommen. Aus meiner Sicht kann man diesen Traditionsmarxismus nicht einfach mit der Kritischen Theorie zusammenspannen. Ich würde darauf beharren, dass das zwei unterschiedliche Dinge sind und dass Adorno diese Arbeitskategorie nicht einfach so übernommen hat. Mein eigener Ansatz ist eine Mischung aus Wertkritik und der Kritischen Theorie Adornos, was sich zu einer neuen Qualität von Theorie entfaltet, die über Marx, Adorno und auch die Wertkritik hinausgeht. Wir können nicht einfach aufeinanderfolgend Marx- und Adorno-Philologie betreiben, sondern müssen analysieren, was sich alles verändert hat. Das sind ja keine ewigen Wahrheiten.

SH: Die Frage ist weniger, frei nach Adorno, was wir von Marx denken, als was Marx von unserer Zeit denken würde. Marx beschreibt die Arbeit als zentral, nicht weil er sie vergötzt, sondern weil er sieht, dass sie vergötzt wird. Auf der einen Seite entbindet es den Menschen von der Natur und macht ihn frei, sich selbst zu schaffen. Auf der anderen Seite wird diese Freiheit immer nur benutzt, um so etwas wie eine scheinbar ontologische Arbeit, eine scheinbar ständige Natur zu erzeugen. In der Kritik von Marx steckt beides drin: dass etwas als starre Kategorie sich immer weiter reproduziert, obwohl es eigentlich schon überholt wäre, und dass es, so ewig es scheint, überholt werden muss.

RS: Also bist du für die Abschaffung der Arbeit?

SH: Ich bin für die Überwindung der Arbeit!

SR: Marxismus oder auch eine materialistische Kritik setzt Gesellschaft als etwas stets neu zu Denkendes voraus. Es bringt nichts, einfach nur starr den Marxismus zu übernehmen und dabei zu übersehen, dass es auch einen neuen Geist des Kapitalismus gibt. Butler und Irigaray sind überhaupt nicht interessant, weil die Erkenntnis, dass Geschlechtlichkeit gelehrt, gelernt und im Alltag auf die vielfältigste Weise reproduziert wird, keineswegs neu ist. Neu an der feministischen Indienstnahme der Dekonstruktion ist ja vielmehr dieser enthusiastische Glaube, diese ließe sich irgendwie in den Dienst einer politischen und sexuellen Utopie stellen. Nun lautet die frohe Botschaft: Wir kennen keine Parteien, Klassen und Geschlechter mehr und setzen stattdessen auf den fluiden und zukunftstüchtigen Menschen im Geflechtwerk seiner kulturellen Beziehungen. Das mag zwar irgendwie interessant klingen, lässt sich aber nicht mit dem Marxismus vereinen. Ich würde eher mit Wolfgang Pohrt sagen, man müsse den Studenten den Marx mal aus den Köpfen austreiben, weil der wohl mehr Unheil angerichtet hätte.

RS: Ich denke schon, dass man Marx lesen muss. Es ging mir nicht darum zu sagen, man sollte ihn in die Tonne werfen. Der von Stefan aufgeworfene Punkt, dass die Frage nicht sei, wie wir heute über Marx denken, sondern wie er über uns denken würde, ist ausgesprochen idealistisch.

Mir scheint, dass Roswithas Begriff des Traditionsmarxismus von Moishe Postone kommt. Postone kommt zu diesem Begriff primär durch seine Auseinandersetzung mit Lukács, den er als traditionellen Marxisten bezeichnet. Für Lukács ist die Diktatur des Proletariats nicht die Utopie, sondern das Übergangsstadium zur Abschaffung des Proletariats. Was verstehst du also unter dem Begriff des traditionellen Marxismus? Außerdem scheint die Frage vielmehr zu sein, inwiefern diese Identität „Proletariat“ über seine eigenen Bedingungen aufgeklärt ist und die einzige Möglichkeit für seine Selbstüberwindung darstellt – also eine Kritik ermöglicht statt einer einfachen Affirmation oder Ablehnung. Diese Nichtidentität kommt nach Adorno als utopisches Moment erst auf, sobald Identität gesetzt wird. Inwiefern verhält sich das utopische Potenzial, das wir jetzt hier in der Kritik oder Unterstützung in der Genderdebatte äußern, zu der Notwendigkeit der Nichtidentität selbst als etwas, was sich immanent in Identitätssetzung als Potenzial entfaltet?

RS: Was den Lukács von Geschichte und Klassenbewusstsein angeht, bin ich ein ausgesprochener Fan. Er bringt Verdinglichung mit der Geistesgeschichte zusammen und sieht bereits in den 1920er-Jahren Veränderungen hin zu einer Mittelschichtsgesellschaft. Das interessante an Lukács ist gerade, dass er es nicht platt vulgärmarxistisch am Proletariat festmacht, sondern dass er das auf die Gesellschaft und Ideengeschichte in Gänze überträgt. Und noch etwas zu dieser Diktatur des Proletariats oder wie das heißt, Klasse an und für sich: Max Horkheimer meinte, man könne Lukács auch ganz gut ohne das Proletariat lesen, und das finde ich nämlich auch. Postones Bezug zur Kritischen Theorie finde ich problematisch. Er wirft ihr vor, dass man nur ein hermetisches Totalitätsverständnis haben kann und immanent Emanzipationsmöglichkeiten entstehen können, welche bei der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno in der verwalteten Welt verbunkert sind. Die Kritische Theorie hat im Gegensatz zu vielen marxistischen Ansätzen, die an der Diktatur des Proletariats festgehalten haben, gerade auf diesen gesellschaftlichen Wandel der verwalteten Welt, der Mittelschichtsvergesellschaftung und der ganzen Bürokratisierung reagiert. Es ist gerade ihr Verdienst, dass sie feststellte – ohne plumpes, utopisches Ideal –, dass es im Moment eigentlich gar nichts Emanzipatorisches gibt beziehungsweise nur in diesem Nichtidentischen oder in Widersprüchen, die aber nicht nach außen auflösbar sind oder emanzipatorisch aufbrechen. Das ist mit Flaschenpost gemeint.

Ein weiteres Problem habe ich mit dem Begriff des Nichtidentischen. Adorno zufolge ist das durch Tausch begründet, während ich sagen würde, dass es vielmehr die Wertabspaltung ist. Nämlich dadurch, dass qualitatives Denken, Lebensweltliches, also das, was nicht einfach im positivistischen Verständnis aufgeht, abgedrängt wird. Aber ich glaube nicht, dass dieses Nichtidentische tatsächlich so ein emanzipatorisches Potenzial hat, sondern es ist wichtig für die Beschreibung der Wirklichkeit im Hier und Heute als kritischer Begriff. Aber nicht als Utopie, die jetzt über den Kapitalismus hinausgeht.

SH: Identität ist immer deckungsgleich mit sich selbst und insofern widerspricht es der Entwicklung. Adorno sagt in der Negativen Dialektik, Identität sei die Urform von Ideologie, das heißt, der Ursprung eines Denkvorgangs, der uns aufklärt über unsere Welt und dabei gleichzeitig die gesellschaftlichen Umstände verschleiert. Das ist der interessante Punkt, dass eben Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft Menschen in einer gewissen Art und Weise identisch macht. Auf der einen Seite bin ich der unveräußerliche Besitzer meiner Ware Arbeitskraft und niemand anderes. Ohne diese Entwicklung können wir keine befreite Gesellschaft haben, erst recht keine denken. Erst die Idee, dass ein Mensch deckungsgleich sei mit sich selbst, aber auch dass Dinge eine Identität, also eine Austauschbarkeit hätten, ermöglicht überhaupt, Emanzipation zu denken. Erst durch diese Identität, dieses „du bist dir selbst deckungsgleich“, entsteht die Möglichkeit zu merken: „Wow, warum stehe ich dann neben mir?“ Oder: „Warum ist ein gewisser Teil des Produkts meiner Arbeit nicht bei mir, sondern außerhalb von mir?“ Inwiefern ist bürgerliche Gesellschaft – die Gesellschaft von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit – nicht deckungsgleich mit sich selbst? Inwiefern ist die absolute Barbarei des Kapitalismus, die uns in die fröhlichen Urstände der Barbarei zurückversetzt, nicht einfach die Hölle, deckungsgleich mit sich selbst, sondern die einzig mögliche Ausgangsbedingung für eine klassenlose Gesellschaft?

SR: Nach Adorno ist jene Sphäre der Psychologie, in der wir glauben, ganz wir selbst zu sein, in einem sehr dunklen Sinne zugleich auch die Sphäre, in der wir am allerwenigsten wir selbst sind, weil wir bis ins Innere für andere und für anderes Sein präformiert sind, dass so etwas wie das nicht unter den Identitätszwang gebeugte Dasein des Einzelnen bricht. Da bezieht er sich auf Hegel und die Herr-Knecht-Dialektik. Vielleicht kann so das Schauspiel, also das Brechen mit den Identitätszwängen, auch zeigen, dass Herr und Knecht nicht nur Menschen sind, sondern dass sie es eben auch noch nicht sind. Diese ganzen zivilgesellschaftlichen Sprachgewohnheiten im Feminismus und ein zum Götzen erhobener Identitätspluralismus sind vor diesem Hintergrund vielmehr Ausdruck einer um sich greifenden Ohnmacht. Katharina Rutschky attestiert der neuen Frauenbewegung seit den 70er-Jahren eine Art Symptom eines radikalisierten, unglücklichen Bewusstseins zu sein. Man streitet nicht mehr für Freiheit oder Emanzipation, sondern puppt sich in Begriffe wie Betroffenheit, Identität und so weiter ein. Wir leben in einer krisenhaften Zeit, in der man sich in seiner krassen Ohnmacht an das eigene Ich klammert und den erweiterten Sinnhorizont einer besseren Gesellschaft verliert. Anstatt anders in einer anderen Gesellschaft sein zu können, möchte man plötzlich „man selbst“ sein.

Es hängt mit den bürgerlichen Ursprüngen des Feminismus in der Studentenbewegung zusammen, dass man leider den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universität verhaftet geblieben ist, die sich mit ihren realitätsfremden Queer-Paradigmen inzwischen selbst parodieren. Es mangelt an Fantasie wie an Kampfstrategien. Es gibt Frauen der Zweiten Frauenbewegung, die zumindest noch für Frauenrechte kämpfen. Ich finde es richtig, dass sie zumindest noch Dinge wie Prostitution und Islam kritisch beleuchten – auch wenn ich damit nicht immer ganz konform gehe –, während es in dieser neuen Queer-Bewegung nur noch um Selbstdarstellung geht. Zeitgeist-kompatible Influencer wie Hengameh Yaghoobifarah sagen zwar: „Marxismus geil!“, beliefern dann aber die großen Firmen weltweit mit ihrem Diversity-Management und Female Business-Parolen.

Ich habe heute sehr viel über Marxismus gelernt. Aber trotz allem ist das Oberthema – die materialistische Auslegung der Gesellschaft und eine dekonstruktivistische theoretische Annahme, die ja durch das Wort Gender ausgedrückt wird – für mich nicht so gut rübergekommen. Wir haben die Dichotomie im Titel: Gender und die Linke. Inwieweit interferieren diese beiden Kategorien miteinander oder beeinflussen sich gegenseitig? Ich meine das in Bezug auf die politische Ebene oder anhand der Begrifflichkeiten Mann und Frau, die ja an sich schon eine Dichotomie sind, aber auch ein Zusammenschluss im Hinblick auf den Menschen als biologisches und soziales Wesen.

SH: Die Linke war die politische Strömung, die die revolutionären und Befreiungstendenzen bürgerlicher Gesellschaft am radikalsten umsetzen wollte. Die Idee, dass Männer und Frauen gleich, gleichwertig und frei sind, ist eine ursprünglich bürgerliche – die gab es so vorher nicht. Insofern hängt die Linke durch die bürgerliche Gesellschaft sehr eng mit der Frage nach der Befreiung der Geschlechter und inwiefern sie auf Augenhöhe stehen, zusammen. Die Idee ist, dass auf der einen Seite der Unterschied in Form von Diskrimination überwunden werden kann und dennoch keine reine Identität zwischen den Geschlechtern hergestellt werden muss, dass Dinge in Differenz bestehen bleiben können.

RS: Worüber wir gar nicht geredet haben in unserer Identitätskritik, ist die Frage, ob es denn nun körperliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Und da muss ich sagen: Ich glaube ja. Auch wenn das alles gewissermaßen flexibel ist, lässt es sich nicht alles so sehr verflüssigen, dass es diese Unterschiede gar nicht mehr gibt. Da wären wir dann bei Butler. Ich denke, es gibt tatsächlich auch Dazwischen-Identitäten oder -geschlechter. Aber das sind dann wenige und als diese wenigen sind es Nichtidentische. Die haben das Recht, als solche anerkannt zu werden. Das bezieht sich auch auf Menschen, die sich fühlen, als seien sie im Körper des falschen Geschlechts geboren und sich deshalb eine Operation wünschen. Deshalb ist es wichtig, dass solch einer Operation auch stattgegeben wird. Allerdings kann man nicht zum absoluten Maßstab machen, dass alles einfach irgendwie fluid ist und es zwischen Männern und Frauen überhaupt keine Unterschiede mehr gibt.

Im Hinblick darauf, welche Ängste ich persönlich schon hatte – beispielsweise schwanger zu sein und das Kind austragen zu müssen –, denke ich, muss man den Mut haben, das auch als solches zu benennen anstelle dieser Phobie gegen körperliche Differenz. Ich verwende hier bewusst den traditionellen Terminus der „körperlichen Differenz“, der festhält, dass es diese Unterschiede zwar gibt, es aber keinen Einfluss auf Vereigenschaftungen hat. Letzteres ist für mich eine Frage der Sozialisation.

Gesellschaft ist ein materieller, soziokultureller und psycho-sozialer Gesamtzusammenhang, der sich nicht einfach in Ökonomie und Überbau vereinfachen lässt. Da muss man eben über Marx hinausgehen beziehungsweise diese Leerstellen noch mehr füllen, als beispielsweise der „materialistische Feminismus“ es versucht.

SR: Wenn wir uns die heutige Linke ansehen, dann haben wir es im Grunde mit einer Modeerscheinung zu tun. Ich würde sagen, es gibt Tendenzen, die damals berechtigterweise von der 68er-Bewegung erkämpft wurden, beispielsweise Freiheit und Autonomie. Das sind aber alles Begriffe, die vom kapitalistischen Mainstream vereinnahmt wurden. Dabei haben diese Begriffe ihr Widerstandspotenzial eingebüßt.

Wenn ich mir die heutige Linke anschaue, frage ich mich schon: Wo ist denn da das revolutionäre Potential? Ich glaube nicht, dass man übermorgen eine Revolution wird reißen können. Ich würde eher sagen, mittlerweile hat sich die gängige Phrase von Identitätspolitik als kümmerliches, aber kostengünstiges Surrogat des Emanzipationsversprechens – auch des weiblichen – entpuppt. Jetzt geht es nur noch um die gerechte Verteilung des Elends nach Hautfarbe, Geschlechtsidentität und Ethnie. Die Linke hat im Grunde keine Perspektiven. Die feministische Nachfolgegeneration hat vielmehr unbewusst mit dem grenzenlos fluiden Kapital angebandelt. Das Kapital ist auf reale Frauen immer weniger angewiesen, sondern vielmehr auf zersplitterte Subjekte, die sich immer neu erfinden und immer wieder neu performen müssen. Das alles wird auf einer reinen Sprachebene vorgefunden und als reine Sozialität behandelt, ohne dass nach den konkreten Bedingungen gefragt wird, unter denen Frauen ja auch zum „zweiten Geschlecht“ wurden, wie de Beauvoir es genannt hat – nicht zum „anderen Geschlecht“, das ist ein Übersetzungsfehler.

Was ist euer konkreter politischer Horizont? Da jede soziale Bewegung mit Wertabspaltung behaftet ist, stellt sich die Frage, ob Roswithas Wertabspaltungskritik wirklich einen Horizont für eine Befreiung der Geschlechter liefert. Sara, sollen wir zurück zur Zweiten Frauenbewegung? Und an Stefan die Frage, warum er überhaupt noch am Marxismus festhält. Abschließend möchte ich mich auf Rosa Luxemburg beziehen, die schreibt, mit Reformen könne man Gesetze ändern, und mit der Revolution die Gesamtstruktur der Gesellschaft. Du, Roswitha, sagst selber, dass die Herrschaft im Kapitalismus keine der Gesetze mehr ist, sondern eine abstrakte Herrschaft. Deshalb meine Frage, ob man eine Utopie ohne Revolution überhaupt denken kann?

SR: Ich würde mich auf jeden Fall nicht der zweiten Welle des Feminismus zuschreiben, wenngleich ich ihre Errungenschaften vor dem verteidige, was wir heute sehen. Die Frage nach der Bedeutung des Geschlechts unter dramatisch veränderten Bedingungen ist auch von ihnen nicht beantwortet worden. Die Frauenbewegung, auch die zweite unter Schwarzer, hat sich rückblickend entweder opportunistisch oder politisch-strategisch, also für Quote usw., entschieden. Heute wurde die Geschlechterfrage qualitätslosen Allmachtsfantasien, also Omnipotenzfantasien, wonach man alles sein kann, unterstellt. Die zweite Frauenbewegung reagierte auf die falsche oder ungerechte Neutralisierung von Frauen mit einer Rekonstruktion gewissermaßen archaischer Weiblichkeit und kulminierte in einem weiblichen Essenzialismus und einer neuen weiblichen Geschichtsschreibung, die ich auch für falsch und utopisch befinde. Die dritte, heute einflussreichere, will das Geschlecht überwinden und als soziale Konstruktion entlarven, also etwas vollkommen Flüssiges, das jeder nach eigenem Gusto bestimmen kann, wie er will. Und gleichzeitig wird dem Essenzialismus dort gehuldigt, wo es um Hautfarbe und ethnische Identitäten geht. Ich würde sagen, das ist eine Regression. Das wird immer als Fortschrittserzählung ins Feld geführt, aber das fällt zurück hinter die Errungenschaften des Feminismus – und zwar nicht nur der Zweiten Frauenbewegung, sondern des kompletten Feminismus.

Es wird immer so getan, als habe man das Rad neu erfunden, ohne sich auf die eigene Geschichte und die Ursprünge der Frauenbewegung zu beziehen. Dagegen würde ich den bürgerlichen Feminismus verteidigen, weil dort Dinge erstritten wurden, z.B. das Recht auf Selbstbestimmung, Mitspracherecht in der Politik, uneingeschränkter Zugang zu Bildung und qualifizierten Tätigkeiten, die Abschaffung des Paragraphen 218, die Aufweichung des alten Scheidungsrechts – all das sind verwirklichte Hauptforderungen der Zweiten Frauenbewegung und der Studentenbewegung. Deswegen ist es auch wichtig, auf diese bürgerlichen Errungenschaften zu pochen, denn diese sind in ihrer queerfeministischen Nachfolgegeneration dermaßen selbstverständlich, dass sie sich darüber großzügig ausschweigt. Ohne dem konservativen beziehungsweise bürgerlichen Feminismus anzuhängen, würde ich ihn doch verteidigen, weil er sich zumindest noch mit konkreten Frauenrechten auseinandersetzt. Das sehe ich in den Queer Studies nicht.

RS: Mein politischer Zugang ist nicht der Bezug auf Identitäten, sondern die Kritik an rassistischer, sexistischer, antisemitischer und anziganistischer Diskriminierung. Ich verteufle nicht jegliches praktische Engagement, ganz im Gegenteil: Es wäre Quatsch zu sagen, man müsse nichts für den Kampf um die Anerkennung, bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen in der Care-Arbeit machen. Zentral und wichtig ist auch Antifa-Arbeit oder ein kritisches Klima-Engagement. Wogegen ich mich aber wende, ist die Hypostasierung von Praxis.

Meiner Meinung nach ist die gesamte Linke momentan ziemlich im Eimer, genauso wie die ganze Gesellschaft. Man versinkt einerseits in der Regression und andererseits ist eine Restauration im Gange. Wir müssen zuerst schauen, was da eigentlich passiert, woher das überhaupt kommt und womit das zusammenhängt. Hier würde ich ganz im Sinne der Kritischen Theorie sagen, dass man sich eben nicht zum Anhängsel einer politischen Praxis machen darf, denn diese ist ja selbst oft affirmativ.

Ich habe keinen utopischen Entwurf, kann aber ein paar Gemeinplätze nennen: Ich will, dass alle Menschen gleichberechtigt sind, dass Solidarität herrscht, dass sich die Eigentumsverhältnisse ändern, ich will nicht mehr innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft zur Ware verdinglicht werden. Ich könnte jetzt viele solcher Phrasen vorbeten und das wird ja auch in den feministischen Konzepten gemacht. Was mich kolossal aufregt, ist, wenn mit falscher Menschelei und Doppelmoral das informelle Herrschaftsverhältnis nicht mehr thematisiert wird, weil alles angeblich schon so nett und gleichberechtigt sei.

SH: Geschlecht ist nicht konstruiert, aber es ist produziert. Es ist durch gesamtgesellschaftliche Arbeit von Menschen produziert. Roswitha sprach das Thema Schwangerschaft an. Niemals in der Geschichte der Menschheit gab es eine Situation wie zum Ende des 20. Jahrhunderts. Es gab keine Geburtenregelungen in dem Sinne, wie es durch die industrielle Gesellschaft und aufklärerisches Denken möglich geworden ist. Das hat auch die zweite Welle des Feminismus hervorgebracht, und hier würde ich zurückgeben, dass die zweite Welle des Feminismus mindestens genauso vom Kapitalismus beeinflusst war, wie es heute Gender ist. Geburtenregelung, Frauen in Arbeit, neue Gesetze für Familien – das waren seinerzeit Bedürfnisse des Kapitalismus. Jetzt blicken wir darauf zurück und es hat solch einen angenehmen Schein, dass diese Freiheiten gekommen sind. Aber weshalb sind sie gekommen und inwiefern sind sie gekommen? Abtreibung in Afrika und Asien ist auch noch etwas anderes als bei uns. Hier kommt wieder das Problem hinzu, dass wir in einer internationalen Welt leben.

Zur Frage von Utopie und Revolution und weshalb ich am Marxismus festhalte: Das Problem ist eher, dass wir in einer Revolution ohne Utopie leben. Wir leben immer noch in der bürgerlichen Revolution – wir machen unsere Gesetze, da ist kein Gott, der sie uns vorschreibt – und in der industriellen Revolution. Die Revolution läuft, das Problem ist, dass sie keine Utopie und keine Führung hat. Dafür stünde der Marxismus ein – auf der einen Seite die Utopie, dass in den Umständen dieses Widerspruchs die Utopie schlummert, auf der anderen Seite die Idee, dass es dafür eine bewusste Führung der Kräfte braucht, die Unbehagen in diesem System verspüren. Dieses Unbehagen würde einfach das Elend, in dem wir uns befinden, weiter reproduzieren.

Ich sehe mich nicht als Marxist, weil ich das Proletariat nicht organisiere, die Revolution nicht bewusst führe. Was ich tun will, ist, daran zu erinnern, was Marxismus einmal war. Ich denke, dass ohne diese Erinnerung keine Utopie möglich ist und wir dann dieses Gespräch nicht mal mehr führen können – was nur ein relativ schmaler Ersatz für den Versuch des Marxismus ist, diese Probleme tatsächlich schaffend als Gattungswesen zu überwinden. |P


1    Karl Marx, Friedrich Engels: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEW (Bd. 40), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1968, S. 516.

2    Ebd., S. 517.

3    Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Wien 1926, S. 59.

4    Theodor W. Adorno: „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Gesammelte Schriften Band 8: Soziologische Schriften I, Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1972, S. 44.

5    Ebd.

6    Ebd., S. 57.

7    Ebd., S. 72.

8    Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/Main 1966, S. 350.