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Wege zum Marxismus

Chris Cutrone

Meine wichtigsten Lehrer im Marxismus waren die Spartacist League, Adolph Reed und Moishe Postone – Theodor Adorno war durch seine Schriften, auf die mich Reed aufmerksam machte, als wir uns trafen, nachdem ich mein Studium in Chicago abgeschlossen hatte, ebenfalls ein entscheidender Lehrer. Die Überschrift des vorliegenden Essays ist eine Hommage an Adolphs Text „Paths to Critical Theory“, der seine politische und theoretische Bewusstwerdung erzĂ€hlt. Ich traf Adolph das erste Mal, als ich am Hampshire College studierte und dasselbe EinfĂŒhrungsseminar wie sein Sohn TourĂ© besuchte. Zu dieser Zeit war ich bereits Mitglied des Spartacist Youth Clubs, der Jugendorganisation der orthodox-trotzkistischen Spartacist League.

Schulzeit

Ich hatte zuvor begonnen, mich als „Marxist“ zu verstehen, nachdem ich zu Schulzeiten das Kommunistische Manifest und andere, verschiedenartige Schriften von Marx gelesen hatte (sowie Ernest Mandels RevolutionĂ€rer Marxismus heute). Ich war unentschieden, was die Russische Revolution und Lenin anging, aber empfĂ€nglich dafĂŒr, Trotzki als dissidente Persönlichkeit anzuerkennen. Im Unterricht behandelten wir nicht nur George Orwells 1984, sondern auch Farm der Tiere: Emmanuel Goldstein und Schneeball waren sympathische, wenn auch tragische Figuren.

Zu Schulzeiten in den 1980ern war ich ein „linker“ Aktivist, protestierte gegen lokal auftretenden Anti-Schwarzen Rassismus (Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt) sowie in SolidaritĂ€t mit zentralamerikanischen Bewegungen und der Anti-Apartheidbewegung in SĂŒdafrika. Ich war umgeben von erwachsenen Aktivisten auf Long Island – katholische Arbeiter, QuĂ€ker (American Friends Service Committee) und sĂ€kulare Humanisten –, aber gelegentlich begegnete ich „marxistischen“ linken Organisationen auf Demonstrationen in New York City. Meine Familie war apolitisch oder anderweitig konservativ eingestellt. Unter all meinen Freunden hatte nur einer einen wie auch immer gearteten „linken“ Hintergrund: Seine Eltern waren irische Einwanderer, die einer Form der katholischen Arbeiter-Befreiungstheologie zuneigten, und seine Ă€ltere Schwester versorgte uns mit „linker“ Literatur sowie Musik-Empfehlungen (Depeche Mode, New Order usw.).

WĂ€hrend meiner SolidaritĂ€tsarbeit fĂŒr Zentralamerika und SĂŒdafrika traf ich militante geflĂŒchtete Emigranten, die mir melancholisch sagten, dass „Sozialismus unmöglich ist“, weil „amerikanische Arbeiter Ronald Reagan gewĂ€hlt haben“.

UniversitÀt

Als ich mich bei UniversitĂ€ten bewarb, entdeckte mein damaliger Freund das Hampshire College, an dem wir uns beide bewarben und an dem wir gemeinsam studierten. In unserem ersten Jahr lernten wir die Spartacist League an der nahegelegenen University of Massachusetts in Armherst kennen. Genau genommen hatte eine gemeinsame Freundin sie zuerst kennengelernt und bat uns darum, an einem gemeinsamen Treffen zwischen ihnen und ihr teilzunehmen, denn als „Marxisten“ konnten wir ihr dabei helfen, die Spartacist League einzuschĂ€tzen: Sind sie ernst zu nehmen? Sie ließ das Treffen kalt, aber wir waren interessiert und wurden Kontakte.

Die Spartacist League verschaffte mir meine erste wirkliche Bildung im Marxismus. Eine der ersten Dinge, die ich von ihnen las, war das Pamphlet Lenin und die Avantgardepartei von 1978, das eine große Wirkung auf mich hatte. (Meine erste ernstzunehmende Seminararbeit an der Uni befasste sich mit Rosa Luxemburgs Kritik an Lenin und entkrĂ€ftete die gĂ€ngigen anti-leninschen Missdeutungen Luxemburgs.) Bald darauf ließen sie mich Cliff Slaughters Essay „What is Revolutionary Leadership?“ von 1960 lesen, dessen versteckten Bezug auf LukĂĄcs‘ Geschichte und Klassenbewusstsein ich mir fĂŒr einen spĂ€teren Zeitpunkt vornahm – damals hatte ich bereits Gramsci an der Uni gelesen und war von seinen Argumenten zwar fasziniert, aber nicht wirklich ĂŒberzeugt. Adolph meinte, dass das Problem mit Gramsci sei, dass „er allesmögliche fĂŒr alle möglichen Leute bedeutet“. Die Spartacists meinten lediglich, dass Gramsci ein Stalinist sei.

Zu dieser Zeit fiel die Berliner Mauer und in Osteuropa und der UdSSR fanden AufstĂ€nde statt – der sowjetische Dissident Boris Kagarlizki wurde als Gastredner ans Hampshire College eingeladen, der mir gemĂ€ĂŸ meiner klaren Erinnerung unverblĂŒmt sagte, dass der Marxismus keinen Sinn habe, da er eine veraltete Ideologie der Industrialisierung sei (als ich ihn fast 30 Jahre spĂ€ter darauf ansprach, stritt er ab, jemals etwas in diese Richtung gesagt zu haben, da er, so beteuerte er, nie dieser Meinung gewesen sei – vielleicht war es jemand anders?).

Mit der Spartacist League besuchte ich Reden mit anschließenden Diskussionsrunden von Noam Chomsky und Michael Harrington, mit denen ich anderweitig nicht vertraut war. Die provokativen Fragen der Spartacists aus dem Publikum veranlassten Chomsky und Harrington, ihren Anti-Leninismus – ihren Anti-Marxismus – zu artikulieren: Chomsky wiederholte seine Verurteilung der Bolschewiki fĂŒr ihre vermeintliche Vereinnahmung der und Vorherrschaft in der Russischen Revolution. Harrington gestand sarkastisch und mit einem Zynismus, den ich völlig abstoßend fand: Ja, er habe „Rosa Luxemburg umgebracht“. Durch seine Schriften entwickelte ich spĂ€ter mehr Respekt gegenĂŒber Harrington und, wenn auch nicht gegenĂŒber Chomsky selbst, so doch zu einem gewissen Grad gegenĂŒber dem Anarchismus, vor allem durch die klassischen Schriften – zu Schulzeiten hatte ich Murray Bookchin im anarchistischen Buchladen in New York City getroffen, als er aus dem BĂŒro gestĂŒrmt kam, um mich zu rĂŒgen, nachdem er gehört hatte, dass ich fragte, ob sie BĂŒcher von Lenin haben: Ich schwöre, er schrie mich an: „Hör zu, Marxist!“

Die Spartacists fĂŒhrten mir anhand ihrer Ortsgruppen an der OstkĂŒste einige verschiedene gesellschaftliche und politische RealitĂ€ten vor Augen. Über den Verkauf ihrer Zeitung Workers Vanguard (WV) hinaus ließen sie mich verschiedene Handarbeiten als Beweis meiner „proletarischen“ Zugehörigkeit verrichten. Zum Beispiel wurde von mir erwartet, dass ich meinen Teil zur Reinigung der Toiletten und zum Scheuern der Böden ihres einer Befestigungsanlage gleichenden internationalen Hauptquartiers im Finanzdistrikt New Yorks beitrug sowie dass ich regelmĂ€ĂŸige MitgliedsbeitrĂ€ge zahlte und mich an verschiedenen Fundraising-Anstrengungen beteiligte. Sie nahmen mir ĂŒbel, dass ich als Student aus der Arbeiterklasse darauf angewiesen war, den Sommer ĂŒber sowie als Werkstudent zu arbeiten, um meine StudiengebĂŒhren und andere Ausgaben am Hampshire College zu finanzieren. Sie fragten: „Können deine Eltern dir nicht einfach das Geld geben?“ (Nein, das konnten sie nicht.) Wir beteiligten uns an einem Streik der New Yorker Zeitung Daily News, wo ein Vertrauensmann eine Pistole offen in seinem HĂŒfthalfter trug, um sich gegen Streikbrecher zur Wehr zu setzen, wĂ€hrend ein Polizei-ScharfschĂŒtze auf dem Dach positioniert war, das die Streikpostenkette ĂŒberblickte. Auf einer Demonstration gegen irgendetwas in Manhattan tauchte die BezirksbĂŒrgermeisterin Ruth Messinger auf – die Spartacists wiesen sie als ein prominentes Mitglied der DSA (Democratic Socialists of America) aus: Ich sah eine Schurkin.

Die großen Tagesfragen waren Dinge wie die antisemitischen Crown Heights-Ausschreitungen, die ausbrachen, nachdem ein schwarzes Kind unbeabsichtigt von einer chassidisch-jĂŒdischen Autokolonne erfasst und getötet worden war, und der Umstand dass der Professor Leonard Jeffries vom City College of New York Studenten beibrachte, dass Weiße „Eismenschen“ und Schwarze „Sonnenmenschen“ seien. Ein schwules Latino-Mitglied der Spartacists, mit dem ich bekannt war, wurde von einem UnterstĂŒtzer der Nation of Islam niedergestochen, wĂ€hrend er auf dem Campus der Howard University WV verkaufte, weil die Spartacists darauf hinwiesen, dass Louis Farrakhan den Tod von Malcolm X gefordert hatte, nachdem Malcolm mit Elijah Muhammad gebrochen hatte. Meine Freunde und ich hatten Alex Haleys Malcolm X, Die Autobiographie gelesen (ebenso wie Seele auf Eis von dem Black Panther Eldridge Cleaver) und alle Folgen der Fernsehserie Roots gesehen. Public Enemy und NWA hielten die Erinnerung wach.

Chris Hani von der SĂŒdafrikanischen Kommunistischen Partei sprach an der University of Massachusetts Amherst und sagte, dass der „Wind der Demokratie, der durch Osteuropa weht, nach SĂŒdafrika kommen soll“ – bei seiner RĂŒckkehr nach SĂŒdafrika knallte ihn ein polnischer Einwanderer vor seinem Vorstadthaus ab. Ich war sowohl von seiner Rede als auch von seiner Ermordung aufgebracht und entsetzt. – SpĂ€ter sollte ich Nelson Mandela vom ANC (African National Congress), Jay Naidoo vom COSATU (Congress of South African Trade Unions) und andere bekannte Persönlichkeiten des Anti-Apartheidkampfes treffen, als ich SĂŒdafrika im Rahmen seines ersten Schwulen und Lesbischen Filmfestivals 1994 mit einer Delegation amerikanischer und britischer Filmemacher, darunter Isaac Julien, Barbara Hammer und andere, besuchte. Bei einem Empfang zum Abendessen brachte ich Mandela dazu, meine Gesinnungsgenossen, die ansonsten vor ĂŒberschwĂ€nglicher Rhetorik nur so strotzten, darĂŒber aufzuklĂ€ren, dass das Ende der Apartheid in SĂŒdafrika „keine Revolution“ war, die ohnehin nur einen BĂŒrgerkrieg und den Einmarsch der USA auslösen wĂŒrde. Zur gleichen Zeit war Mandelas ANC an heftigen, blutigen StraßenkĂ€mpfen gegen HĂ€uptling Buthelezis Inkatha Freedom Party der Zulu-Nationalisten beteiligt. Ich stand Mandela kritisch, aber wohlwollend gegenĂŒber: Wenigsten log er nicht.

Ich traf Adolph Reed, als er am Hampshire College zu Besuch war, da er damals nicht weit weg in New Haven an der Yale University war. Ich schrieb ihm in Reaktion auf seinen Gastbeitrag im Newsday aus Long Island, den ich zur Frage der Forderungen von schwarzen studentischen Aktivisten auf dem Campus gelesen hatte – zunĂ€chst hatte ich keine Ahnung, dass er ein Marxist war, jedoch wiesen die Spartacists mich darauf hin, dass er einer war, und sprachen voll Bewunderung von seinem Werk. Adolph antwortete mir und meinte, dass wir uns treffen könnten, wenn er das nĂ€chste Mal ans Hampshire College komme.

Ich hatte Horkheimers und Adornos Kulturindustrie-Kapitel aus der Dialektik der AufklĂ€rung in einem Medienwissenschafts-Seminar gelesen, aber es machte keinen großen Eindruck auf mich – ich war in diesem Zusammenhang viel stĂ€rker von Stuart Hall und Raymond Williams beeinflusst. Erst nachdem ich mein Studium am Hampshire College abgeschlossen hatte, begann ich, die Frankfurter Schule tatsĂ€chlich zu lesen, und erst als ich Kunststudent in Chicago war, las ich Adornos Schriften in aller Ernsthaftigkeit – damit Adorno mir helfen konnte, meinen Marxismus gegen den Postmodernismus zu verteidigen, dem ich zum ersten Mal begegnete: Meine Hampshire-Professorin Margaret Cerullo, eine Freundin Adolph Reeds und Redakteurin der in der Tradition des SDS (Students for a Democratic Society) stehenden Zeitschrift Radical America, hatte mir entmutigend gesagt, dass trotz ihrer Bildung im Marxismus (als ich mich spĂ€ter fĂŒr ein Doktorats-Studium bewarb, sagte sie mir, dass „die Frankfurter Schule wie eine zweite Haut“ fĂŒr sie sei, aber dafĂŒr interessiere sich niemand mehr, also warum wĂŒrde ich diese Dinge weiterverfolgen wollen?) nun vielleicht Foucault relevanter sei; und waren die Spartacists nicht ohnehin eine COINTELPRO-Operation des FBI?

Adolph Reed hielt eine Rede auf dem Campus und stattete meinem Seminar, das von Margaret Cerullo und Carollee Bengelsdorf geleitet wurde, einen außerordentlichen Besuch ab. In der Woche, nachdem Adolph seine Rede gehalten hatte, beschwerten sich einige (weiße) Studenten im Seminar ĂŒber ihn als einen „Afroamerikaner, der sich fĂŒr einen obskuren jĂŒdischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert (Marx) interessiert“. Als meine Professorinnen darin versagten, diese Äußerungen in Frage zu stellen und meinten: „Das ist eine gute Frage“, stand ich auf, um sowohl Adolph als auch Marx zu verteidigen, und rief: „Nein, ist es nicht!“

Die Antikriegsbewegung anlĂ€sslich der US-Intervention gegen den irakischen Einmarsch in und die Besatzung von Kuwait im Golfkrieg war ein SchlĂŒsselmoment fĂŒr mich. Die schiere Sinnlosigkeit der Demonstrationen, die auf Gegendemonstranten mit reißerischen Plakaten gegen „Sodom Insane“ (den irakischen Baathisten-FĂŒhrer Saddam Hussein) trafen, die mit zu Waffen umfunktionierten amerikanischen Fahnenstangen auf die Antikriegsdemonstranten losstĂŒrmten, wozu sie anscheinend die Erlaubnis erhielten, Polizeiketten zu passieren, ließ mich entmutigt zurĂŒck, wĂ€hrend PrĂ€sident George H.W. Bush ungehindert die „Neue Weltordnung“ ausrief.

Zu der Zeit, als ich 1993 mein Studium am Hampshire College abschloss, hatte ich genug von der „Linken“ – aber nicht vom Marxismus. Die Ereignisse meines Abschlussjahres 1992 – die „Linke“, die gegen das 500. JubilĂ€um der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus demonstrierte, die Unruhen in Los Angeles, die sich gegen den Freispruch der Polizisten richteten, die Rodney King misshandelt hatten, und die die Linke einen „Aufstand“ nannte, sowie die Wahl William Jefferson Clintons nach 12 Jahren Republikanischer PrĂ€sidenten, die sowohl von meinen „linken“ Kommilitonen als auch von meinen „linken“ Professoren am Hampshire College begeistert begrĂŒĂŸt wurde – ĂŒberzeugten mich davon, dass mein Moment nicht fĂŒr den Marxismus oder Sozialismus taugte. Ich war niedergeschlagen, dass die Welt auf ewig erstarrt und im ausweglosen Bezugsrahmen der Neuen Linken der 1960er-Jahre stecken geblieben zu sein schien, den ich nicht ertragen konnte. WĂ€hrend der Demonstrationen rund um Rodney King erlebte ich, wie schwarze Studenten ein VerwaltungsgebĂ€ude am Hampshire College ĂŒbernahmen, um anschließend zuerst die weißen Studenten, dann die nicht-schwarzen farbigen Studenten und schließlich die schwarzen Frauen – da sie vermeintlich nicht der gleichen Notlage durch Polizei-Missbrauch ausgesetzt seien wie die schwarzen MĂ€nner – rauszuschmeißen. Als sich die Spartacists kurz darauf dazu entschlossen zu versuchen, mich mit Anschuldigungen des „kleinbĂŒrgerlichen Intellektualismus“ zu „brechen“, hatte ich die Faxen dicke.

Richard Rubin, ein Bekannter aus der Ortsgruppe des Spartacist Youth Clubs am Hampshire College, und ich erhielten die Idee am Leben, die Perspektive der Spartacists ohne deren organisatorische Engstirnigkeit und Paranoia aufrechtzuerhalten: Wir spielten mit der Idee, einen „LevinĂ©-Bund“ zu grĂŒnden, benannt nach dem MĂ€rtyrer der Bayerischen RĂ€terepublik von 1919, Eugen LevinĂ©, aber das verlief sich im Nichts. Alle vorherigen Mitglieder des Spartacist Youth Clubs am Hampshire College mit Ausnahme von mir und Richard zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Wir erhielten unser Abo des Workers Vanguard aufrecht. Pflichtbewusst meldete ich mich bei der Chicagoer Ortsgruppe, als ich dorthin zog – und traf wieder mit Richard zusammen, der als bekennender heterodoxer „menschewistischer Zentrist“ stets seine Distanz zu den Spartacists gewahrt hatte. Aber ich lebte mich depolitisiert im Clinton-Regime der 1990er ein, wĂ€hrend ich damit zu kĂ€mpfen hatte, als junger Erwachsener in der Welt anzukommen.

Chicago

Ich wurde VideokĂŒnstler und machte öffentlich damit weiter, mich zu meinem Marxismus zu bekennen und ihn zu vertreten – vor allem durch Fragen aus Adornos kulturkritischen Schriften in kĂŒnstlerischen Äußerungen –, aber das ließ mich eher zu einer KuriositĂ€t als zu einem militanten Ideologen in der Kunstwelt werden. Ich traf den Dichter Reginald Shepherd, der der erste war, der mir Adornos Ästhetische Theorie (sowie seine Noten zur Literatur) empfahl – Adolph hatte mir Negative Dialektik, Minima Moralia und Prismen empfohlen. Reginald meinte zu mir, dass mich Adorno von meinem Marxismus heilen wĂŒrde, aber stattdessen bestĂ€tigte – und vertiefte – er ihn nur. Es wuchs in mir die Überzeugung, dass ich alles von Adorno lesen mĂŒsse – und schließlich, dass ich meine Doktorarbeit ĂŒber Adorno, ĂŒber seinen Marxismus schreiben mĂŒsse.

Letzten Endes schloss ich zuerst meinen Master in Bildender Kunst am School of the Art Institute of Chicago (SAIC) und dann meinen Master und meine Promotion an der University of Chicago ab, die meinen Berufsweg als Lehrer anstießen, zunĂ€chst als Doktorand und anschließend bis zum heutigen Tag.

Am SAIC studierte ich an der Video-FakultĂ€t, die voll von bekennenden „marxistischen“ Professoren war, wovon einer eine Dokumentation ĂŒber Mumia Abu-Jamal gedreht hatte, die die Spartacists benutzten, um Mumias Sache zu unterstĂŒtzen. – Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich mit den Spartacists an einer „Freiheit fĂŒr Mumia!“-Kundgebung in Philadelphia teilnahm, die der Vorsitzende der örtlichen Fraternal Order of Police mit den Worten im Fernsehen verurteilte, dass wir Demonstranten auf eine „elektrische Bank“ gesetzt werden sollten, um gemeinsam mit Mumia hingerichtet zu werden. Aber mein kĂŒnstlerisches Schaffen wurde von meinen Professoren und Kommilitonen am SAIC als „zu Ă€sthetisch“ verworfen. Die separate Film-FakultĂ€t war ebenso voll von „marxistischen“ Filmemachern, die Video-FakultĂ€t betrachtete sie jedoch als zu interessiert an Kunst im Gegensatz zu „Politik“. Aber ich kannte den Unterschied zwischen Politik und Kunst.

WĂ€hrend dieser Zeit Mitte der 1990er traf ich die aufstrebenden „Neuen/Post-Schwarzen Schwarzen KĂŒnstler“ wie Isaac Julien, Glenn Ligon und andere und freundete mich mit ihnen an. Ich traf zudem Dozenten der neuen FakultĂ€t der Harvard University, die von Henry Louis Gates Jr. geprĂ€gt wurde, wie etwa Cornel West, Kwame Anthony Appiah, Paul Gilroy, Homi Bhabha und andere – einschließlich eines Treffens mit Stuart Hall bei einem Besuch –, als Isaac Julien dort lehrte (in New York machte mich Isaac mit bell hooks bekannt, die meine bloße Existenz beanstandete). Als KĂŒnstler sprach ich persönlich und auf Podien auf Filmfestivals, in Museen und Galerien sowie an Hochschulen und UniversitĂ€ten auf der ganzen Welt ĂŒber – und gegen – rassische und sexuelle IdentitĂ€t.

Es gab viele GesprĂ€che ĂŒber den Marxismus: Die einhellige Meinung war, dass er erledigt sei.

ZurĂŒck in Chicago durchlebte ich die volle Wucht des neoliberalen Kapitalismus. Am Rande beteiligte ich mich an der Aufbauarbeit von Adolphs anti-Clintonscher Labor Party USA, in deren Rahmen ich seine örtlichen Mitstreiter traf (vor allem maoistische Gewerkschaftsaktivisten). Ich tat meine Skepsis bezĂŒglich der Labor Party gegenĂŒber Adolph klar und deutlich kund und schlug vor, dass wir stattdessen am Aufbau einer sozialistischen Partei arbeiten sollten. Er meinte, dass ich wie die „trotzkistischen Sektierer“ klĂ€nge, gegen die er in der Labor Party ankĂ€mpfe – die ISO (International Socialist Organization), Solidarity und andere – und warf mir vor, dass ich „zu abstrakt theoretisch“ in meiner Politik sei. In der Labor Party USA schienen mir lediglich AnhĂ€nger der Demokratischen Partei zu sein, die Meinungsverschiedenheiten mit dem Clintonismus hatten. Er war dagegen, Labor Party-Kandidaten gegen Kandidaten der Demokratischen Partei antreten zu lassen – er wollte kein Spielverderber sein. Trotzdem rief er dazu auf, bei der PrĂ€sidentschaftswahl 2000 fĂŒr Ralph Nader von der Green Party und nicht fĂŒr Al Gore zu stimmen – und bereut es seither. Durch Chicago fahrend belustigte mich Adolph: Wenn er sich gerade so einen leeren Parkplatz entgehen ließ, rief er aus: „Rassistische Yuppies!“ Durch seine AktivitĂ€ten in der Labor Party machte er mich mit seiner damaligen Freundin, Stephanie Karamitsos, bekannt, die Doktorandin an der Northwestern University war und mit der ich mich als KĂŒnstlerkollegin verbunden fĂŒhlte. Wir lasen und diskutierten Adorno umfassend und in aller AusfĂŒhrlichkeit.

Adolph ist ein AnhĂ€nger des spĂ€ten „RĂ€tekommunisten“ Karl Korsch und von Denkern, die Studenten des spĂ€ten LukĂĄcs waren, wie IstvĂĄn MĂ©szĂĄros und andere wie Karel KosĂ­k, dessen Buch Die Dialektik des Konkreten Adolph dem vermeintlich schlechten „Idealismus“ der Frankfurter Schule gegenĂŒberstellte. Sowohl der spĂ€te Korsch als auch der spĂ€te LukĂĄcs hatten sich etwa 1917 von ihrem hegelschen Marxismus verabschiedet und sich dem „Materialismus“ zugewandt. Im Fall von Korsch bedeutete das, sich aufgrund deren vermeintlichen „bĂŒrgerlichen Elitismus und Avantgardismus“ wider die Arbeiterklasse gegen Lenin und schließlich gegen den Marxismus als Ganzes – einschließlich Marx – zu wenden. Auf dieser Grundlage lehnte Adolph den Trotzkismus ab. Er arbeitete ein ausgeklĂŒgeltes Argument zu diesem Thema in seinem Buch ĂŒber W.E.B. Du Bois aus, an dem er zu der Zeit arbeitete, in der ich mit ihm am engsten in Kontakt stand.

Adolph schrieb meine ZurĂŒckhaltung gegenĂŒber dem Projekt der Labor Party USA meinem angeblichen „abstrakten Idealismus“ zu, den er auf meinen Trotzkismus und meine starke Verbundenheit mit Adorno zurĂŒckfĂŒhrte. Es war gerade Adorno, der mir in seiner Negativen Dialektik dabei geholfen hatte, das schwierige Thema „Materialismus vs. Idealismus“ im Marxismus zu klĂ€ren. Er lehrte mich, es als ein historisches Symptom der Niederlage der Revolution und nicht als ahistorisches Prinzip zu verstehen, wie Adolph und andere es taten. Es war nicht nötig, das Scheitern Lenins und Trotzkis, den Sozialismus durch die Russische Revolution zu verwirklichen, zu einer prinzipiellen Sache zu erheben; tatsĂ€chlich lehrte mich Adorno, dass es wichtig ist, sie und den Marxismus gegen den Strich der nachfolgenden Geschichte als wichtigen Versuch zu erinnern, der sich nicht einfach wegreden lĂ€sst.

Neben meiner Arbeit in merkwĂŒrdigen Jobs – zum Beispiel im Kinko’s Copyshop, wo ich ein paar junge militante Zapatistas traf, die Chicago besichtigten und reinkamen, um Literatur zu drucken, oder als Teil des Begleitpersonals fĂŒr Ingenieure in der örtlichen Shure-Elektronikfabrik, wo ich Fließband-Anweisungen fĂŒr die dortigen Arbeiter (vor allem mexikanische Frauen) sowie fĂŒr deren Schwesterunternehmen jenseits der Grenze in Juarez entwarf – unterrichtete ich ehrgeizige FachkrĂ€fte aus der Medienindustrie in Film- und Videoproduktion am Columbia College in Chicago.

Derweil protestierten örtliche „linke“ Aktivisten gegen KaufhĂ€user wie Borders Books und Walmart, Target usw. und versuchten, lokale GeschĂ€fte gegen sie zu verteidigen – ich verstand sie eher als Gelegenheit fĂŒr die Arbeiterklasse, sich zu organisieren – und einkaufen zu gehen. Adolph sagte ĂŒber Tante-Emma-LĂ€den, dass „Ausbeutung zuhause beginnt“. Zynische StadtrĂ€te bezahlten Menschen dafĂŒr, vor den GeschĂ€ften zu demonstrieren. Bei örtlichen „linken“ Kunst- und Medienorganisationen, die aus der kulturaktivistischen Szene der Post-Neuen Linken der 1970er und 80er stammten, begegnete ich Rassenhetze auf NGO-Ebene, als diese sich in Reaktion auf den Verlust staatlicher Gelder um die UnterstĂŒtzung privater Stiftungen bemĂŒhten und daraufhin dafĂŒr angegriffen wurden, zu „weiß“ zu sein – und umgehend ihre Schuld eingestanden und verschwanden. Sie hinterließen eine kĂŒnstlerische, kulturelle und politische Leere. Es war das Ende einer Ära.

Zur Zeit des Prozesses gegen O. J. Simpson betonte Adolph, dass sich EinzelfĂ€lle politisch nie gut als Mobilisierungsanlass eigneten, weil die UmstĂ€nde immer kompliziert sind und die RealitĂ€t nicht symbolisch oder sinnbildlich ist, obwohl kapitalistische Politiker und die Medien versuchen, sie dazu zu machen. Zu Simpson selbst merkte Adolph an, dass „sogar ein schuldiger Mann verleumdet werden kann“ und dass die Polizei regelmĂ€ĂŸig Menschen verleumde, unschuldige wie schuldige. SpĂ€ter erfuhr ich als Opfer eines Verbrechens, dass das Prozessgericht, wenn nicht das Strafjustizsystem als Ganzes, zumindest vorgeblich zum Nutzen des Beschuldigten gegenĂŒber dem Staat existiert – und so sollte es auch sein. Die Polizei ist nicht zum Schutz der Gesellschaft vor Verbrechen da, sondern um das Recht durchzusetzen; StaatsanwĂ€lte versuchen, Prozesse zu gewinnen, nicht fĂŒr Gerechtigkeit zu sorgen – die ohnehin nicht vor Gerichten ausfindig gemacht werden kann, besonders nicht im Kapitalismus. Eine schmerzliche Wahrheit, aber dennoch wahr – das Leben ist kein MoralitĂ€tenspiel.

Promotion

An der University of Chicago traf ich meinen irisch-amerikanischen Schulfreund wieder, der damals seine Promotion in Musikwissenschaft abschloss und seine Doktorarbeit ĂŒber die Unterhaltungsmusik in der Weimarer Republik schrieb. Er sagte mir, dass ein Germanistik-Professor zu ihm meinte, dass man Adorno niemals wirklich verstehen könne, ohne ein deutscher Muttersprachler zu sein. Er lernte Deutsch, fand einen deutschen Freund und zog dorthin, indem er seine irische Staatsangehörigkeit in der EU geltend machte. Vor unserem Abschied warnte er mich davor, bei Moishe Postone zu studieren, da Postone keine abweichenden Meinungen seiner Studenten toleriere – ich ignorierte seinen Ratschlag und studierte trotzdem bei Postone. Adolph warnte mich verschmitzt, dass Moishe vielleicht zu „stammesverbunden“ sei – ein versteckter Verweis auf Moishes (berĂŒhmte, aber mir zur damaligen Zeit unbekannte) Kritik an der PalĂ€stina-SolidaritĂ€t und der „antizionistischen Linken“. Moishe seinerseits sagte ĂŒber Adolph, dass er zwar sein Werk außergewöhnlich schĂ€tze, aber dennoch fĂŒr zu „ungelenk“ halte. Moishe konnte Adolphs heftige Kritik an den schwarzen Politikern der Demokratischen Partei nicht gutheißen.

Bevor ich bei Moishe studierte, hatte ich zunĂ€chst ein Seminar bei einem Freund Adolphs, Kenneth Warren, zur afroamerikanischen Literaturgeschichte und -theorie an der University of Chicago belegt. Ken wurde zu einem meiner Betreuer und schließlich mein Doktorvater. Meine Doktorarbeit handelte von Adorno, und als ein Professor, Redakteur einer renommierten Kritischen Theorie-Zeitschrift, von meinem Forschungsgegenstand hörte, rief er unglĂ€ubig aus: „Ich wusste nicht, dass Adorno schwul war!“. Ich antwortete ihm, dass er das, soweit ich wisse, nicht gewesen sei – sicherlich hoffte ich, dass er es nicht gewesen war. Wer weiß, was er darĂŒber dachte, dass Ken mein Doktorvater war?

Ich begann als Student der Kunstgeschichte – der Medienwissenschaft – und zog den Zorn des Dekans auf mich, als ich einen Kommilitonen berichtigte, der Walter Benjamins Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ als eine kulturkonservative Ablehnung der modernen Massenmedien statt als dialektische Kritik fehldeutete. Der Dekan machte mich dafĂŒr verantwortlich, dass der Kommilitone, der einzige schwarze Student unseres Jahrgangs, letztendlich sein Studium abbrach – zur Strafe sorgte er dafĂŒr, dass ich mein Studium dort nicht in Form einer Promotion fortsetzen konnte. Oder vielleicht gab es einen anderen Grund: Als ich meine Masterarbeit besprach, die von Benjamin handelte, schalt er mich, dass Lenin und Trotzki es genossen, „sowohl die Unschuldigen als auch die Schuldigen zu töten“ – spĂ€ter erfuhr ich, dass er ein Ex-Marxist war.

An der University of Chicago belegte ich Seminare bei dem Hegelforscher Robert Pippin, der in den 1960ern Mitglied im SDS gewesen war und der ein Gefolgsmann Marcuses wurde, als er an der University of California in San Diego lehrte. Wir unterhielten uns im Seminar und außerhalb ĂŒber Themen des Deutschen Idealismus und des Marxismus, wobei Adorno und Benjamin eine wichtige Rolle spielten. Die Frage hinsichtlich Hegels und Marx‘ war die Philosophie der Freiheit.

Der marxistische Literaturkritiker Frederic Jameson antwortete einmal auf eine Frage, die ich ihm bei einer Veranstaltung an der University of Chicago zu seiner Interpretation von Flauberts Roman Madame Bovary stellte – dass es darin vielleicht um Freiheit und nicht lediglich um GlĂŒck gehe –, dass „Freiheit ein rechter Begriff ist“. Adolph erwiderte auf meine Frage in einem Promotionskolloquium zur Geschichte des anti-schwarzen Rassismus in den USA, das er zusammen mit Ken leitete, ob das Taft-Hartley-Gesetz zur offiziellen Anerkennung von Gewerkschaften durch die Regierung ein historischer Gewinn oder ein RĂŒckschlag sei, dass „Freiheit im Auge des Betrachters liegt“, eine Version des typisch linken Verwerfens der Frage nach gesellschaftlicher Freiheit – „Freiheit fĂŒr wen?“ –, nach der Freiheit der Gesellschaft als Ganzes, ĂŒber die der Kapitalismus aus Sicht von Marxisten wie Lenin und Adorno in Form einer unpersönlichen Macht herrscht, die alle ihre Mitglieder betrifft.

Genauso wie Postone spĂ€ter gestand Pippin ein, dass er glaubte, Benjamin und Adorno „nicht wirkliche verstehen zu können“, was fĂŒr mich insofern Sinn ergab, als dies die Unkenntnis gegenĂŒber dem Marxismus als HerzstĂŒck ihres Wirkens betraf. Pippin markierte einen Satz aus einer meiner Seminararbeiten ĂŒber den Marxismus zur philosophischen Schwierigkeit, „sich selbst als Subjekt des Wandels aus dem Inneren des Prozesses der Selbsttransformation heraus zu erkennen“.

Postones Seminare – die ich mit Stephanie und gelegentlich Richard als Gasthörer besuchte – ĂŒber Marx und die Frankfurter Schule sowie ĂŒber die Kritik der Post-1960er-„Linken“ am Kapitalismus waren willkommene Verschnaufpausen vom ansonsten erbarmungslosen Anti-Marxismus der postmodernen UniversitĂ€t – auch wenn sie, wie ich bald darauf feststellte, ihre eigene Form des Anti-Marxismus waren. Moishe sagte, dass, obwohl Marx politisch ein „traditioneller Marxist“ sei, sein theoretisches Werk darĂŒber hinausweise. Als Moishe Adornos Schriften lehrte, gestand er ein, dass er sich nicht sicher war, sie wirklich zu verstehen: Ich entgegnete, dass Adorno schlicht ein Marxist sei; und dass marxistische Politik vielleicht mehr und etwas anderes war, als fĂŒr was Moishe sie hielt.

In Moishes Seminaren lernte ich einen neuen Freund kennen, Spencer Leonard, mit dem ich mich sofort ĂŒber Themen wie Lenin, Trotzki, die Russische Revolution und den historischen Marxismus im Allgemeinen auszutauschen begann. Spencer, Stephanie und ich bildeten einen engen Freundeskreis; es stießen unsere befreundeten Kommilitonen Atiya Khan, Sunit Singh und James Vaughn hinzu.

Ich schĂ€tzte die Bildung in Marx und der Frankfurter Schule wert, die wir von Postone erhielten, aber das alles ergab fĂŒr mich nur Sinn, wenn man bestimmte Aspekte des Marxismus politisch als selbstverstĂ€ndlich voraussetzt, was Moishe nicht tat und welche er sogar ablehnte. Dennoch war ich ein wenig erschĂŒttert, als Moishe mir schroff und verĂ€rgert mitteilte, dass ich unangemessenerweise sein Werk mit dem zu versöhnen versuche, wogegen es sich gerade richte: den Marxismus – genauer gesagt: Lenin. Aber fĂŒr mich war klar, dass Marx und Lenin Arbeit als gesellschaftliches VerhĂ€ltnis ĂŒberwinden und nicht politisch verewigen wollten, wie Postone unterstellte. James‘ alter trotzkistischer Professor Robert Brenner (und Mitglied von Solidarity) meinte, dass Moishes Einsichten in den Marxismus fĂŒr wirkliche Marxisten nichts Neues seien. Aber ich wusste, dass die meisten „Marxisten“ genau so waren, wie Moishe behauptete, also ĂŒberhaupt keine wirklichen AnhĂ€nger von Marx: Sie waren die Sozialisten und Kommunisten, die Marx selber seinerzeit kritisiert hatte. Die Marxisten hatten immer die stĂ€ndige Degeneration zum „vulgĂ€ren“ und zum Pseudo-„Marxismus“ und den RĂŒckfall in den vor-marxschen Sozialismus beklagt, zum Beispiel in Form von Luxemburgs Kritik am reformistischen Revisionismus des Marxismus.

Moishe hatte etwas gegen meine Darstellung von „Luxemburg und Lenin als Busenfreunde, die Arm-in-Arm herumspazierten“ einzuwenden und war erzĂŒrnt, als ich den Nachweis erbrachte, dass Luxemburg liebevoll ĂŒber Lenin sprach und schrieb und dass die beiden tatsĂ€chlich gute Freunde gewesen waren, die so manchen Abend miteinander verbrachten und Arm-in-Arm spazieren gingen. Darauf erwiderte er herablassend, dass „Luxemburg sowieso eine traditionelle Marxistin war“. Moishe protestierte bei der Verteidigung meiner Doktorarbeit zu Adornos Marxismus schließlich heftig, aber lenkte ein, als ich ihn beruhigte, und gestand ein: „Vielleicht war mit 1919 alles vorbei, aber wir sind immer noch am Denken“, worauf ich erwiderte: „Aber sind wir wirklich am Denken, Moishe?“ Als wir uns einige Wochen spĂ€ter auf einen Kaffee trafen, meinte er: „Weißt du, Chris, vielleicht hast Du bei Lenin nicht ganz unrecht, aber du musst das besser argumentieren.“ Ich war der Meinung, dass Lenin es selbst am besten argumentierte.

Jedenfalls bewahrte ich mir meine UnabhĂ€ngigkeit gegenĂŒber Postone auf eine Art und Weise, die ihn stets Ă€rgerte und mir gegenĂŒber misstrauisch machte. Anderen sagte er, dass er zwar an mir bewundere, dass ich „immer am Denken“ sei, aber der Meinung war, dass ich auf problematische Weise „einmal ein Spartacist, immer ein Spartacist“ sei. In diesem Punkt stimmte Moishe mit Adolph ĂŒberein. Dennoch heuerte mich Moishe an, die folgenden anderthalb Jahrzehnte Bachelor-Seminare zu Marx, Weber, Durkheim und Freud als Teil des universitĂ€ren Kerncurriculums der Gesellschaftswissenschaften zu lehren – bis zu seinem Tod, nach dem das Lehrpersonal von seinen Studenten gesĂ€ubert wurde.

Als ich damit anfing, Adorno und die Frankfurter Schule am SAIC zu lehren, war 9/11 geschehen und der Krieg gegen den Terror bereits im Gange, aber die US-Besatzung war mit Schwierigkeiten konfrontiert und die Antikriegsbewegung fasste wieder Fuß. Meine Studenten nahmen an Demonstrationen teil und machten Bekanntschaft mit der „Linken“ und ihren „marxistischen“ Organisationen, und das spiegelte sich in meinen Seminaren wieder, in denen viele Fragen aufkamen.

Meine Studenten am SAIC und der University of Chicago baten mich Anfang 2006 darum, einen extracurricularen Lesekreis ins Leben zu rufen, in dem sie von mir abseits des Seminars expliziter von der politischen Tragweite des von mir gelehrten Marxismus erfahren wollten. Ich warnte sie, dass das sehr schnell sehr intensiv und sehr politisch werden wĂŒrde. Unter den ersten Texten, die wir gemeinsam lasen, war einer, den mir Adolph Reed mehr als ein Jahrzehnt davor empfohlen hatte: Korschs Essay ĂŒber „Marxismus und Philosophie“ von 1923. Wir nahmen als Gruppe an „linken“ Veranstaltungen teil, darunter an der ersten nationalen Konferenz der neuen Students for a Democratic Society, die im Sommer 2006 an der University of Chicago stattfand. Diese AktivitĂ€ten fĂŒhrten bald, 2007, zur GrĂŒndung einer Organisation, der Platypus Affiliated Society.

Der Rest ist Geschichte. |P

Chris Cutrone ist GrĂŒndungsmitglied und Leitender PĂ€dagoge der Platypus Affiliated Society. Sein Text erschien ursprĂŒnglich in der englischsprachigen Platypus Review #142 (Dezember 2021/Januar 2022): https://platypus1917.org/2021/12/01/paths-to-marxism/. Er wurde von Tobias Rochlitz ins Deutsche ĂŒbersetzt.