Transgender-Befreiung? Eine Bewegung, deren Zeit abgelaufen ist
Von D. M. Faes
Die Platypus Review Ausgabe #11 | Winter 2019
Transgender-Aktivistin Leslie Feinberg verkündete in einem politischen Pamphlet von 1992, dass die Zeit für Transgender-Befreiung gekommen sei. Mehr als zwanzig Jahre später beschreiben populäre Medien die zunehmende Sichtbarkeit von transgender-Lebensstilen als ein „Trans-Tipping-Point“ oder auch als „Transmoment“. Doch bei eingehender Betrachtung fällt auf, dass all diese „neuen“ Ideen, die derzeit ins Blickfeld geraten, von Leuchten der Aufklärung bereits zum Ausdruck gebracht wurden – und zwar besser als es jetzt der Fall ist! Während unzählige Schriften publiziert werden, reichen die neuen Einsichten kaum an das Potential heran, als das es einst angesehen wurde.
Die Ära der Aufklärung leitete sexuelle Befreiung ein: Sie stellte die natürliche Grundlage des Geschlechts in Frage sowie die Vorstellung, sexuelle Identität sei unveränderlich an die Fortpflanzung in traditionellen Familienstrukturen gebunden. Marx sah, dass diese Infragestellung von Mann und Frau aufzeigte, „in[wie]weit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm zum natürlichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist.“[1] Sexuelle Befreiung wurde so im Kontext der Entwicklung des Menschen verstanden, seiner Veränderung der Natur, äußerlicher wie der eigenen – und zwar mit dem Ziel menschlicher Freiheit: „der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab.“[2]
Diese Entfaltung menschlicher Fähigkeiten – der Freiheit des Menschen – war für alle, die vor über einem Jahrhundert um den Sozialismus kämpften, die Aufgabe, vor die sie die Weltgeschichte stellte. Es ist ihnen zu verdanken, dass mit der industriellen Revolution technische und wissenschaftliche Konzepte aufkamen, mit deren Hilfe wir Kategorien des Geschlechts[3] verstehen – die potentiell über sich selbst hinausweisen. In ihren politischen Bestrebungen traten sozialistische Sexualreformer – wie Magnus Hirschfeld, der das Institut für Sexualwissenschaft gründete – für die Legalisierung der Homosexualität, der Prostitution und des Cross-Dressings ein. Sie prägten Begriffe wie „Homosexualität“, „Transvestismus“ und „Transsexualität” in ihrer heute gängigen Bedeutung und professionalisierten geschlechtsangleichende Operationen. Ihre Ansicht, menschliche Freiheit könne durch die Aufhebung des Verwertungszwangs erreicht werden, erscheint im Licht der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu hochmütig – angesichts des Scheiterns des emanzipatorischen Projekts einer internationalen Weltrevolution. Im Vergleich dazu wirken politische Bestrebungen gegenwärtiger Transgender-Bewegungen recht kümmerlich. Schlimmer noch:sie drohen, vorangegangene Erkenntnis zu liquidieren.
Heutzutage wird die echte Schwäche im Streben nach Freiheit mit glanzvollen Identitäten schöngeredet. Zwar haben uns die sozialistischen Sexualreformer des 19. Jahrhunderts technische Errungenschaften hinterlassen. Doch wird das Begehren, von diesen Gebrauch zu machen, entweder auf eine angeborene Pathologie zurückgeführt oder als Ausdruck einerauthentischen Daseinsform gedeutet. Dieses Missverständnis beschränkt die Freiheit des Individuums, sich selbst, den eigenen Bedürfnissen und Wünschen gemäß, auszuarbeiten. Gleichzeitig benutzen Trans-Community und ihre Verteidiger allmögliche politische Macht, um ihre Prinzipienlosigkeit wettzumachen. „Linke“ Wortführer der LGBTQ-Bewegung – zumeist direkt Staatsbedienstete oder Befürworter dieses bürokratischen Apparats – halten ihre Nutznießer politisch in Geiselhaft in den existierenden Dynamiken der Demokratischen Partei. „Linke“ neigen dazu, ihre Kritik auf den Einfluss zu beschränken, den private und wohltätige Geldgeber auf gemeinnützige LGBTQ- und HIV/AIDS-Einrichtungen ausüben: dass etwa Budgetbeschränkungen solcher Institutionen einkommensschwache Unterstützungsempfänger an den Rand drängen würden. Dies führe zu einem Konkurrenzkampf um soziale Dienste und medizinische Ressourcen innerhalb der LGBTQ-Community. Es ist wohl wahr, dass der Zugang zu medizinischen und sozialen Ressourcen auf diejenigen begrenzt ist, die sie sich leisten können. Und selbst nach einer Geschlechtsangleichung sind Zugang zu einer Anstellung und die damit einhergehendenRechte aufgrund von Diskriminierung eingeschränkt. Allerdings suggeriert diese Kritik dergegenwärtigen Linken, das Hindernis für sexuelle Befreiung sei der Verrat oder die „Kooptation” der Bewegung durch die Demokratische Partei und den Unternehmen in ihrem Dunstkreis. Auf diese Weise fordern Trans-Fürsprecher zur Unterstützung von öffentlichen Institutionen auf, welche wiederum darauf angewiesen sind, dass die Demokratische Partei soziale Fürsorge, also Wohnungen und medizinische Versorgung, für die LBGTQ-Community bereitstellt. Das umgeht das tieferliegende, geschichtliche Problem vom Streben nachFreiheit. Gegenwärtige linke Kritik reproduziert das Abziehbild einer LGBTQ-Community: einerseits strebt man eine besser verwaltete LGBTQ-Wählerschaft an, andererseits kreiertman ein subkulturell-ästhetisches Selbst, dass voreilig den Unmut sublimiert, dass man überhaupt auf diese staatsverwaltete Bürokratie angewiesen ist. Es ist, als wird von jeder gegenwärtigen Diskussion über trans-Freiheit erwartet, dass sie gewisse Bedingungen erfüllt: vor allen Dingen die queere oder trans Identität. Der Ruf „radikaler“ Linker, die bestehende Linke müsse „queerer“ werden, um eine breite Bewegung aufzubauen, die Druck auf die Demokratische Partei ausüben soll, geht Hand in Hand mit der akademischen, von Judith Butler inspirierten Nabelschau. Beide Beschäftigungsvarianten – „radikal“ wie akademisch – sind Studierenden ein Betäubungsmittel, mit dem sie das einst historisch Mögliche vermeiden und ihren eigenen, zurückgeschraubten Horizont vernebeln. Weil der Grundgedanke sexueller Emanzipation derart heftige Verluste eingebüßt hat und heute in Form der „Transidentität“ neu aufgekommen ist, müssen wir uns fragen, was noch zu tun bleibt. Für eine eingehende Betrachtung dessen wäre eine umfassende historische Analyse erforderlich. Hier soll es bloß darum gehen, dass Studierende sich dessen bewusst werden sollen, was in den heutigen Bestrebungen nach sexueller Emanzipation – insbesondere für Transgender-Menschen – ausbleibt.
Eine Geschichte der Freiheit, nicht der UnterdrĂĽckung
Das Bestreben, zu untersuchen, was in der gegenwärtigen Bewegung für Transgender-Befreiung – im Verhältnis zur Geschichte der Linken – absent ist, muss man behutsam von dem unterscheiden, was ein nahezu universal akzeptiertes Verständnis von sogenannter „Transgender-Geschichte“ ist: Nämlich der Idee, Transmenschen hätten schon immer, seit Anbeginn der Menschheit existiert und würden auch in Zukunft immer existieren. Diese Ansicht indes wurde das erste Mal von Sexualreformern angeführt: Sie argumentierten innerhalb der homosexuellen Emanzipationsbewegung für die natürliche Grundlage eines Rechtsanspruches. Der sozialistische Sexualreformer Magnus Hirschfeld etwa forderte Rechte für sexuelle Minoritäten auf der Grundlage dessen ein, dass ihr Zustand biologisch bedingt sei. Zum Teil begründete er dies, durch den Umstand, dass Menschen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte in dieser Art und Weise lebten. Mit diesem Argument wurde versucht, sexuelle Reformen zu rechtfertigen – wie etwa der berühmte, doch gescheiterte Versuch des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, den Paragraphen 175 im Preußischen Reich aufzuheben. Dieses, von der Berliner Stadtregierung 1908 erlassene Gesetz, drohte mit Gefängnis für beischlafähnliche Handlungen zwischen Männern sowie für die Distribution von Ausweisdokumenten an Transvestiten.
Die Erklärung, sexuelle oder geschlechtliche Abweichungen seien angeboren, hat sich, mag sie noch so unkritisch sein, durchgesetzt. Sie klingt noch in Leslie Feinbergs Pamphlet, Transgender-Befreiung: Eine Bewegung deren Zeit gekommen ist (1992), an. Darin behauptetsie, Transgendertum „gehe der Unterdrückung zeitlich voran.“ Aufgrund oberflächlichen Ähnlichkeiten zu bestimmten Kasten in matriarchalisch-kommunistischen Gesellschaften der Altsteinzeit, verehrt Feinberg Transgendertum als etwas, das außerhalb, ja gar a priori gegen den Kapitalismus sei. Aber diese vormodernen, cross-gender Kasten waren festgeschriebene Rollen innerhalb eines geschlossenen, spirituellen Kosmos, innerhalb traditionellerFamilienstrukturen. In Okinawa etwa begehen männliche Schamanen winagu nati-Zeremonien, um „weiblich zu werden“. In Südasien gehen sogenannte Hijra einen ähnlichen Prozess ein, um an den Ritualen ihrer Gemeinde teilzuhaben. Wir könnten auch an Muxenerinnern, einem „dritten Geschlecht“, das man heutzutage noch in Oaxaca, Mexiko findet. Muxen leben ihr ganzes Leben lang mit ihrer Mutter zusammen und führen die Produktivarbeit aus, die ihnen am besten zu liegen scheint – namentlich: Hausarbeit. Oder wir denken an die historische Bedeutung der Zwei-Seelen-Geschlechter im Pazifischen Nordwesten, wo Frauen als Jäger Frauen-Männer und Männer Männer-Frauen werden konnten, indem sie Hausarbeit verrichteten. Jedes dieser Beispiele stellt eine geschlechtsspezifische Kaste dar, die durch eine zu erfüllende Rolle innerhalb familiärer oder spiritueller Gemeinden bestimmt wird. Was man als Gemeinsamkeit zwischen vorzeitlicher und moderner Welt zu erkennen meint, trübt unseren eigenen historischen Moment: nämlich der gleichzeitigen Bewegung über die Familie hinaus und ihr latentes Fortbestehen. Was Marx über die bourgeoisen Mythen der antiken Welt schrieb, beschreibt diesen Umstand sehr gut: „Daher erscheint einerseits die kindische Alte Welt als das Höhere. Andererseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt lässt oder, wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist.“[4]
Hirschfeld, anders als zeitgenössische Aktivisten wie Feinberg, griff bewusst das Vorhaben auf, als eines, das ihm bürgerliche Revolutionen vererbt hatten. Das Aufkommen freier Arbeit stellte die natürliche Grundlage des Geschlechts sowie dessen Fixierung innerhalb traditioneller Familienstrukturen in Frage – und brachte so neue soziale Formen von Sexualität und sexueller Identität hervor. Freie Arbeiter waren nicht nur frei dazu, zu wählen, welche Art der Arbeit sie nachgehen würden. Sie waren auch frei dazu, zu entscheiden, welche Art von Leben sie führen wollen würden. Individuen konnten für eine festgelegte Zeit arbeiten, um anschließend in ihrer Freizeit ihre eigenen kreativen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Interessen in der Tauschgesellschaft zu entfalten. Entscheidend für diese Auseinandersetzung sind das Aufkommen und die Entwicklung von eigenen sexuellen, erotischen, emotionalen und familiären Verlangen und Bedürfnissen der Arbeitenden. Hierfür stehen exemplarisch ein: das Aufkommen vom „Molly-House“, effeminiertenMännerbordellen im England des 18. Jahrhundert; Dr. James Barry, ein männlicher Arzt der britischen Armee, bei dem erst nach seinem Tod herausgefunden wurde, dass er biologisch eine Frau war; das Leben von Chevalier d’Éon im 18. Jahrhundert, der die ersten 48 Jahre seines Lebens als Mann und die letzten 33 Jahre als Frau gelebt hatte. Vormoderne Kasten beabsichtigen, dem Leben eine geschlossene Form zu geben, um eine bestehende Kultur zu reproduzieren. Sexuelle Freiheit in modernen Gesellschaften hingegen ist unbegrenzt. DieIndividuen der Moderne sind vor die Aufgabe gestellt, ihrem eigenen Leben Sinn zu geben – und zwar im Verhältnis dazu, wie sich Freiheit in Gesellschaft entfaltet, das heißt in geschichtlichen Begriffen.
Sexuelle Emanzipation und Sozialdemokratie
Kulturelle Entwicklungen in der Gesellschaft, die sexuelle Emanzipation begünstigten, riefen gleichzeitig politische Transformationen hervor. Bezeichnend ist etwa, dass die französische Nationalversammlung 1791 die Bestrafung von Cross-Dressing und gleichgeschlechtlichem Geschlechtsverkehr aufhob. Dieses neue Rechtssystem verbreitete sich anschließend in Form des Code Napoléon über ganz Europa. Die deutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden, Hannover und Braunschweig setzten alle eine eigene Version des Codes um, indem sie Strafen für gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten und Cross-Dressing abschafften. Weniger liberale Staaten, wie Sachsen und Preußen, behielten hingegen die feudale Gesetzgebung bei.
Vor diesem Hintergrund nahmen sich Sozialisten den politischen Forderungen nach sexueller Befreiung als einem wesentlichen Bestandteil der sozialen Frage in den 1848er Revolutionen an. So wie sich die meisten Sozialisten bei der Abschaffung des Staates einig waren, waren sie sich einig, dass die traditionelle Familie samt Geschlechteraufteilung abgeschafft gehört.Das Scheitern der Demokratischen Revolutionen 1848, sowie Bismarcks anschließende Bemühungen, preußische Hegemonie zu begründen, bereiteten in vielen deutschen Staatenden Weg für eine Wiedereinführung des preußischen Sodomiegesetzes. Etwa in Form derParagraphen 175, 360/11 und 183, die Cross-Dressing als Erregung öffentlichen Ärgernisses unter Strafe stellten. Infolgedessen erfuhren Menschen einen bedeutenden Verlust in ihrer Freiheit: Ein Aspekt ihres Lebens wurde plötzlich zur Straftat. Als Reaktion auf diese Lebensumstände prägten Intellektuelle wie Karl Ulrichs den Begriff „Urning“, eine Anspielung auf Platons Aphrodite Urania. „Urning“ beschrieb den biologischen Zustand von Personen mit femininem Gehirn in einem maskulinen Körper. Ulrich inspirierte literarische Persönlichkeiten wie Oscar Wilde, Edward Carpenter und James Addington Symons dazu, diesen Begriff zu popularisieren. Dies trieb Sexologen dazu an, etwa Richard von Krafft-Ebing und Carl Westphal, sexuelle Inversionen und den gegenläufigen Sexualinstinkt näher zu erforschen. Was wiederum ihren Lesern ermöglichte, Begriffe zu verwenden, um sich selbst und die eigenen Hindernisse besser zu erkennen. Diese neu entwickelten Begriffewurden zum Mittelpunkt, um den herum zivilgesellschaftliche Organisationen gegründet wurden, die Job und Lebensunterhalt sichern sollten. Mithilfe dieser Organisationen wurden soziale Vereine ins Leben gerufen, Zivilprozesse unterstützt und kommunale Reformen dort erzwungen, wo bestehendes Gemeinderecht als Hindernis auf die eigene Lebensgrundlage wirkte. Weil sich Liberale – wegen politischen Drucks der Rechten – abwendeten vom Wunsch nach sexueller Emanzipation und der Forderung, Staat und Privatleben zu trennen, verblieben einzig Sozialisten wie Hirschfeld, die sich diesem Anliegen verpflichtet sahn.
Hirschfeld gründete Zivilinstitutionen, die die Bewegung für sexuelle Emanzipation und den Kampf um soziale Reformen vorantrieben. Darunter waren das 1896 gegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, das Institut für Sexualwissenschaft (1919) und die Weltliga für Sexualreform (1928). Mit seiner institutionellen Arbeit definierte Hirschfeld die Begriffe „Homosexualität“, „Transvestismus“ und „Transsexualität“ in Differenz zueinander, in der Art und Weise, wie sie heute immer noch verstanden werden. Doch statt diese Begriffe als angeborene Identitäten zu verstehen, war Hirschfeld stets bestrebt, sie in Relation zu den politischen Hindernissen zu begreifen, denen sich seine Patienten gegenübersahen.
Der Paragraph 175 etwa kriminalisierte gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten und kam somit der Definition von „Homosexuelle/r“ gleich: jemand, dessen Liebesobjekt seinem eigenen Geschlecht entspricht. Paragraph 360/11 und 183 korrespondierten mit den Definitionen von „Transvestit“ und „Transsexuelle/r“ – Menschen also, die sich als das entgegensetzte Geschlecht fühlen und sich entsprechend verhalten –, da die Paragraphen öffentliches Cross-Dressing bestraften. Fehlende medizinische Versorgung durch den Staat entsprachen der Spezifizierung des Begriffs „Transsexuelle/r“; ein Begriff, der benutzt wurde, um all jene zu beschreiben, die unkontrollierte medizinische Prozeduren und Operationen an sich selbst vornahmen, um als das andere Geschlecht zu erscheinen.
Die Institutionen Hirschfelds arbeiteten daran, diese politischen Hindernisse zu beseitigen. So reichte das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee 1898, 1922 und 1925 politische Petitionen beim Reichstag ein, um den Paragraphen 175 abzuschaffen. Dabei wurde der erste Antrag 1898 von führenden Marxisten wie Karl Kautsky und August Bebel unterstützt. Kautskyargumentierte in einer Artikelreihe, in der er den Staatssozialismus kritisierte, dass die Abschaffung des Staates das Aufkommen einer freien Gesellschaft, mit neuen Formen des Gemeinschaftslebens und der Partnerschaft ermöglichen würde.[5] Er unterstützte die Petition wegen der Einsicht, dass sexuelle Emanzipation mit der Notwendigkeit verbunden ist, die Staatsmacht zu erobern, um soziale Revolution zuwege zu bringen. Ähnlich August Bebel, Mitbegründer der SPD: Er hielt im Reichstag eine Rede zugunsten der Abschaffung des Paragraphen. Dabei argumentierte er in erster Linie gegen die staatliche Intervention in das Privatleben.[6] Orthodoxe Marxisten wie Kautsky und Bebel griffen die Unzufriedenheit als Ausdruck des Problems auf, dass sich der Staat über die Gesellschaft erhebt. Darin wies dieses Problem über sich hinaus, nämlich auf die Notwendigkeit einer politischen Revolution, in der die Möglichkeiten von Freiheit – wie sie in den bürgerlichen Revolutionen aufkamen – erfüllt und überwunden werden könnten.
Sexuelle Reformen und politische Revolution
Während der Versuch, den Paragraphen 175 aufzuheben, in hohem Maße politisch artikuliert wurde, wurde das Bemühen, die Paragraphen 360/11 und 185 abzuschwächen oder aufzuheben, nur insofern verfolgt, als sie Hindernisse auf lokaler Ebene darstellten. Hirschfeld und seine Kollegen, wie etwa der Psychoanalyst Karl Abraham, versuchten die Strafverfolgung durch die Paragraphen 360/11 und 183 eher auf städtischer, statt nationaler Ebene zu ändern. 1908 gelang es Hirschfeld und Abraham die Berliner Stadtregierung und deren Polizei davon zu überzeugen, ihren Transvestiten-Patienten Zertifikate und Ausweise zu erstellen, sofern diese bestätigte, medizinische Dokumente vorweisen konnten. Diese „Transvestiten-Zertifikate“ bescheinigten der Polizei das Verhalten des Inhabers, sodassdieser keiner Erregung öffentlichen Ärgernisses beschuldigt werden konnte.
Diese und weitere Entwicklungen der sozialistischen Bewegung ließen Fragen darüber aufkommen, wie das Verhältnis ist zwischen dem sozialistischen Kampf um Reformen und der Aufgabe, die Staatsmacht durch eine politische Revolution zu ergreifen. Lenin, zum Beispiel, stimmte in seinem 1902 geschriebenen Pamphlet Was tun? mit orthodoxen Marxisten wie Kautsky darüber ein, dass die Sozialdemokratie der Arbeiterklasse Bewusstsein über ihre Position und Aufgabe herantragen muss.[7] Lenin erkannte, dass die Partei die breitgefassten Bestrebungen der sozialistischen Bewegung vermitteln konnte. Sie erlaubte der Bewegung, zu reflektieren, in welchem Verhältnis ihr eigenes Handeln zu ihrem Endziel stand.
Es genügt nicht, - schreibt Lenin – die politische Unterdrückung der Arbeiter zu erklären (wie es nicht genügte, ihnen den Gegensatz zwischen ihren Interessen und den Interessen der Unternehmer zu erklären). Es ist notwendig, jede konkrete Erscheinung dieser Unterdrückung für die Agitation auszunutzen (so wie wir die konkreten Erscheinungen der ökonomischen Unterdrückung für die Agitation ausgenutzt haben). Und da die verschiedensten Gesellschaftsklassen unter dieser Unterdrückung zu leiden haben, da sie auf den verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsgebieten, dem beruflichen, dem allgemein-bürgerlichen, dem persönlichen, dem der Familie, dem religiösen, dem wissenschaftlichen usw. usw., in Erscheinung tritt, ist es da nicht klar, daßwir unsere Aufgabe, das politische Bewußtsein der Arbeiter zu entwickeln, nicht erfüllen werden, wenn wir es nicht übernehmen, die allseitige politische Entlarvung der Selbstherrschaft zu organisieren?[8]
Ähnlich argumentierte Rosa Luxemburg in ihrem Pamphlet Reform oder Revolution (1900).Darin erörterte sie, inwiefern der Wachstum und Erfolg der sozialistischen Bewegung tatsächlich ein Fortschritt im Kapitalismus ist – wie etwa das Aufkommen von Krediten, Arbeiterassoziationen, Kommunikationsdienstleistungen und der politischen Stärke von Gewerkschaften. All das schwächte nicht den Konflikt im Kapitalismus ab, sondern erschwerte ihn, indem es Potential für neue Krisen schuf und die Notwendigkeit einer Revolution vertiefte. Entsprechend argumentierte Luxemburg, dass die Partei zwischen den praktischen Errungenschaften der Bewegung und ihrem Bewusstsein über Notwendigkeit, Möglichkeit und der Erwünschtheit des Endziels vermitteln musste. Im Sinne Lenins und Luxemburgs: Die Partei ermöglichte sozialistisches Klassenbewusstsein.
Die vordergründigen Verbesserungen durch sozialistische Sexualreformer können auf dieselbe Weise verstanden werden: als Zuspitzung der Gesellschaftskrise im Kapitalismus, die die Notwendigkeit, Möglichkeit und Erwünschtheit der Revolution aufwarf, sie vertiefte. Die vermeintlichen Erfolge der Sexualreformer verlangten nach einer kritischen Reflexion des Verhältnisses zwischen der Sexualreform-Bewegung innerhalb der breiteren, sozialistischen Bewegung und dem Ziel des Sozialismus. Notwendige Voraussetzung dafür, dass diese Frage überhaupt praktisch erwogen werden konnte, waren die sozialistischen Massenparteien der Zweiten Internationale. Denn die Internationale verwirklichte in erster Linie die Möglichkeit, die Staatsmacht zu ergreifen, mit dem Ziel, eine sozialistische Weltrevolution in die Wege zu leiten.
Insofern die Partei als Kristallisationspunkt angesehen wurde, von dem aus die Bestrebungen um Sexualreformen koordiniert wurden, befanden sich Reformisten wie Hirschfeld und orthodoxe Marxisten wie Lenin, Luxemburg, Kautsky und Bebel in einem zweckmäßigen Einverständnis. Erst nach der Russischen Revolution von 1905 und dem darauffolgenden politischen Erfolg der SPD im Reichstag manifestierte sich eine Spaltung in orthodoxe und radikale Marxisten.
Das Aufkommen von Arbeiterräten – als einer bürgerlich-demokratischen Form, der in der 1905 Revolution de facto Macht zukam – eröffnete praktisch die Möglichkeit, dass parteigeschulte Arbeiter durch Ergreifen der Staatsmacht die Revolution anführen könnten. Dass die SPD-Parteiführung hingegen parlamentarische Formen unterstützte, die einer proletarisch-sozialistischen Führung der Revolution entgegenstanden, antizipiert ihreUnterstützung der Provisorischen Regierung in der Oktoberrevolution 1917, sowie die Befürwortung der gescheiterten Revolution 1918 in Deutschland.
Die SPD begann, als größte Partei im Reichstag, die gesellschaftliche Führung zu übernehmen und nahm entsprechend selbst die krisenhaften Züge der Gesellschaft an. Im Kontext sozialistischer Sexualreformen bedeutete das, dass die Fortschritte, die die Partei hinsichtlich der Verbesserung der Situation für „sexuell Abweichende“ errungen hatten, gleichzeitig das Problem des kapitalistischen Staates vertieften. Im November 1918 schrieb Hirschfeld, dass mit der Errichtung der provisorischen Regierung durch Scheidemann und Ebert, all jene, für die die Emanzipationsbewegung gekämpft hatte, endlich von der Unterdrückung befreit werden. Denn mit dem Abschaffen des Preußischen Staates wurden 1919 die Sittlichkeitsgesetze aufgelockert und unter der neuen Staatsleitung der SPD konnte Hirschfeld seine Arbeit ausweiten: Er gründete das Institut für Sexualforschung und die Weltliga für Sexualreform.
Nachdem Ebert und Scheidemann den Spartakusaufstand 1919 niederschossen, veranlasste die Weimarer Regierung, dass die Polizei einen Teil ihrer Autorität an neugeschaffene Positionen in der Staatsbürokratie delegierte, nämlich an Sozialarbeiter. Für rechtliche Namensänderungen seiner Patienten war Hirschfeld auf diese Ausweitung von Staatsbürokratie angewiesen. Noch im selben Jahr gründete Hirschfeld das Institut für Sexualforschung, um seinen Patienten eine regulierte medizinische Versorgung anbieten zu können. Zuvor waren diese darauf angewiesen, eine Vielzahl operativer Eingriffe an sich selbst vorzunehmen. Diese Prozeduren beinhalteten die Einnahme von Hormonen, Selbstkastration, Gesichtshaarentfernung, Paraffineinspritzung und Brust- sowie Uterusentfernung. 1921 wagte sich das Institut an die erste, operative Mann-zu-Frau Geschlechtsangleichung. Und 1922 änderte die Berliner Stadtregierung den Strafvollzug bezüglich der Paragraphen 360/11 und 183: Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, war nun nicht mehr illegal, außer es beinhaltete Prostitution. Es lässt sich eine Parallele ziehen: So wie Scheidemann und Ebert die Arbeiterräte ihrer Wirkmächtigkeit beraubten, indem sie diese durch das Betriebsrätegesetz in den Staat integrierten – womit der Reichstaat unter neuer Führung bewahrt werden konnte –, hat Hirschfeld die Frage nach sexueller Identität und Geschlecht ins Reich der Staatsverwaltung verbannt.
Anders in der Oktober Revolution: Als die Räte die Macht der Provisorischen Regierung übernahmen, setzen sie die zaristische Gesetzordnung außer Kraft, wodurch sie die Bestrafung homosexueller Beziehungen zwischen Männern und Cross-Dressing abschafften. Dies ermöglichte Aufkommen und Entwicklung verschiedenster Lebensstile von Privatpersonen, wie es im 17. und 18. Jahrhundert möglich war – nämlich ohne Bevormundung durch den Staat. Offizielle Stellungnahmen des Staates bezüglich Homosexualität, Transvestismus oder Transsexualität gab es in Sowjetrussland nicht. Falls und wenn politische Probleme in Bezug auf Sexualität und Geschlecht aufkamen, konnten medizinische und juristische Experten ihre professionelle Meinung in den Arbeiter- und Soldatenräten kundtun.
Ärzte und Psychologen, wie N. F. Orlov und P. B. Gannushkin, insistierten im Zeichen der Bemühungen Hirschfelds, dass Anfragen für Geschlechtsangleichungen nicht als ein dekadentes „deutsches Problem“ in den Sowjets vernachlässigt werden durften. Auch der medizinische Eintrag über Homosexualität in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, dervom Psychologen Mark Sereiskii geschrieben wurde, wurde durch Hirschfelds Forschungen inspiriert. Sereiskii übernahm Hirschfelds Auffassung, dass sexuelle Variation eine natürliche Kondition war, die nicht bestraft werden sollte.
Durch die 1920er Jahre hindurch war es in europäischen Regionen und urbanen Zentren in Russland üblich, wenn auch recht spärlich, dass Individuen im Sowjet Anfragen nach operativen wie rechtlichen Geschlechtsumwandlungen stellten und dass diese ihnen genehmigt wurden. Im Moskauer Gesundheitsministerium nahmen behandelnde Ärzte solche Operationen vor und etliche Fälle bezeugen, dass Ärzte ihre Patienten unter männlichem und weiblichem Namen dokumentierten. Vermutlich nutzten diese Patienten und ihre Ärzte eine Gesetzeslücke aus, die Patienten mit Hermaphroditismus gestattete, sich einer Operation zu unterziehen. Einige dieser Individuen erlangten sogar Familienrechte: Als ein Frau-zu-Mann Transsexueller, Evgenii Fedorovich, eine Postangestellte 1922 heiratete, wurde ihre Ehe vom Sowjetgericht als rechtsgültig anerkannt. Nichtsdestotrotz wurde 1929 – aufgrund der Seltenheit solcher Fälle – eine eindeutige Klärung durch den Medizinischen Expertenrat verschoben.[9]
Trotzdem die Oktober Revolution Fortschritte hinsichtlich sexueller Freiheit erringen konnte, entsprachen die Mittel des Sowjetstaats nicht dem Ziel der Kommunistischen Partei – nicht zuletzt mit Blick auf die Probleme von Sexualität und der Familienform. Die Unruhen des Russischen Bürgerkriegs und das Scheitern der Revolution auf internationalem Maßstab erzeugten eine ideologische Orientierungslosigkeit, die in der nachfolgenden Zeit zur Stalinisierung führte. Dass gewisse Fragen, wie die über die Jugend, unterdrückt wurden, um der Partei-Aufsplitterung vorzubeugen, naturalisierte den Bürgerkriegszustand. Trotzki sah darin eine Einschränkung der Partei in ihrer Fähigkeit, neue Möglichkeiten und Aufgaben zu antizipieren.[10] Er argumentierte, dass das Ineinandergreifen von Partei und Staatsbürokratie dazu verleitete, Fragen in Bezug auf die utopischen Ziele der Partei zu unterdrücken. Diese Verschmelzung von Partei und Staat führte letztlich zur Rekonstitution traditioneller Sitten- und Familiengesetze. Diese wiederum erzwungen noch ausbeuterischer die Reproduktion der Arbeiterklasse – einschließlich der Wiedereinführung all jener Gesetze, die homosexuelles Verhalten unter Strafe stellten. Damit wurde die Funktion der Partei, nämlich die Aufhebung des Proletariats voranzutreiben, verworfen.[11] In dieser Zeit der Reaktion wurden zuvor errungene sexuelle Freiheiten zurückgenommen – es wurde ein Verbot geschlechtsangleichender Operationen eingeführt, Homosexualität wieder kriminalisiert. Diesen Umschwung könnte man verstehen im Rahmen des Scheiterns von Sozialistischer Internationale und ihren führenden Parteien, also der SPD und der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), ihre Ziele zu realisieren.
Transidentität und Konterrevolution
Durch die gesamte Krise des Marxismus hindurch hat die Theorie der Vulgärmarxisten das Verhältnis zwischen Bewegung, Partei und dem Staat naturalisiert. Hierdurch entstanden ideologische Hindernisse bei der Aufgabe, die sozialistische Revolution voranzutreiben. Ähnlich verhält es sich mit der Theorie der sozialistischen Sexualreformer: Sie naturalisierte das Verhältnis von Sexualität und dem Staat, was wiederum ideologische Hindernisse hervorbrachte, die eine kritische Reflexion der gescheiterten Revolution verhinderten. Sowohl Hirschfeld als auch Sereskeii räumten dem Biologischen gegenüber sozialen Erklärungen von Sexualität Vorrang ein. Nicht nur wurde dadurch verunklart, dass sexuelle Varianz ein Ausdruck des freien Glücksstrebens des Individuums ist. Darüber hinaus war dasselbe biologische Verständnis die Grundlage für eine Re-Kriminalisierung von Homosexualität in Deutschland wie in Russland.
Das stellt die angeblichen „Fortschritte” des 20. Jahrhunderts – wie die „Geschlechterkliniken“ von Harry Benjamin, Schüler Hirschfelds – in ein anderes Licht: Uns ist es möglich, sie als Momente der Selbst-Liquidation der Partei im Verlauf des 20.Jahrhunderts zu verstehen. Das erlaubt uns, den heute schwindenden Horizont für Politisches zu entschuldigen. Benjamin benutzte Hirschfelds Terminologie, um Hormone und Operationen nur alldenjenigen zukommen zu sollen, die die vorschriftsmäßigen Pathologien aufwiesen. Die Konkurrenz um diese Ressourcen verstärkte Brüche innerhalb schwuler Subkultur zwischen Transvestiten, Transgendermenschen und Transsexuellen. Daraufhin bot Jordy Jones an, den Begriff „trans” als Überbegriff für alle Geschlechtsabweichungen zu verwenden. Dennoch: Trans-Individuen stehen unter dem sozialen Druck, sich als das „authentische Ich“, das man „schon immer war, zu outen“ – und das integriert Transmenschen in die staatsregulierte Medizinindustrie und die Bürokratie öffentlicher LGBTQ-Dienstleister.
Sexuelle Emanzipation bleibt insofern eine herausragende politische Forderung, als sie sich als ein Aspekt bürgerlicher Gesellschaft – wie krisenhaft diese auch sein mag – entfaltet hat. Es kann keine sexuelle Freiheit in einer unfreien Gesellschaft geben. Tatsächliche sexuelle Freiheit, kann nicht auf Basis „verallgemeinerter Not“ realisiert werden. Stattdessen benötigt es die uneingeschränkte Entfaltung menschlichen Potentials, wie Marx es vor nahezu 160 Jahren forderte. Sollte Sozialismus – auf diesem neu aufkommenden politischen Kontext aufbauend – zu einem welt-historischen Streben werden, dann wird er keiner partikularen Gruppe und keinem partikularen Glaubensbekenntnis etwas Besonderes anbieten können. Er könnte einzig Emanzipation des Menschengeschlechts als Gesamtem anbieten. Ohne eine internationale, sozialistische Massenpartei – wie es die Zweite Internationale war – gibt es keinen Raum für kritische Reflexion oder Debatten, die tatsächlich politische Praxis der Massen und internationales soziales Handeln beseelen könnte. Ohne all das ist keine kritische Anerkennung dessen möglich, wie die Geschichte sexueller Befreiung in Relation zu den aufkommenden praktischen Aufgaben und Möglichkeiten sozialer Veränderung heute steht. Anstatt LGBTQs als konkurrierende Interessengruppen innerhalb des Staates wahrzunehmen, wie es Hirschfeld in der Vergangenheit tat und wie es auch heute noch geschieht, sollte der Kampf um Sozialismus und sexuelle Emanzipation als Epiphänomen eines historischenProblems verstanden werden – der Schwierigkeit, das Projekt von Freiheit vorantreiben. Die gegenwärtige Linke versucht, eine Wählerschaft in Form von Interessengruppen zu mobilisieren, sodass diese gegen existierende Zivilinstitutionen und die Demokratische Partei agitieren kann. Politisch bedeutender ist allerdings, dass sie junge Heranwachsende, die sie zu diesem Zweck in ihre Dienste nehmen, schlecht (aus)bildet. Nicht nur laufen die angeblichen Fortschritte heute Gefahr, in ihr Gegenteil umzukippen. Schlimmer noch: Das Potential, Geschichte zu reflektieren, geschweige denn aus ihr einen Nutzen zu ziehen, ist gefesselt. Inihrem „Widerstand” gegen den Staat und Geschlecht, identifiziert sich die „Linke” heute in Wirklichkeit mit beidem. Die disjecta membra (lat. „versprengte Glieder“) vergangener Versuche, die Welt zu verändern, werden benutzt, um die Verkehrtheit der gegenwärtigen Welt zu rechtfertigen. In der Vergangenheit hingegen kam es darauf an, Gesellschaft als eine Art zweiter Natur zu bewältigen – und damit die Möglichkeit aufzuwerfen, sie umzugestalten.|P
D. M. Faes ist Mitglied der Platypus Affiliated Society und lebt derzeit in Chicago, USA. Sein Artikel erschien ursprĂĽnglich in der englischen PR #111, Novemberausgabe 2018. Er wurde von BetĂĽl Yildirim ins Deutsche ĂĽbersetzt. Quellenangaben, die aus dem englischen OriginalĂĽbernommen wurden, sind im Folgenden durch eckige Klammern gekennzeichnet.
[1] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW 40, S. 535. [2] ​Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW 42, S. 396. [3]​ Anm. d. Übersetzerin: Im Original „sex and gender“. Aufgrund der Schwierigkeit, diese Begriffe im Deutschen zu unterscheiden, wurden sinngemäße Übersetzungen gewählt, die entsprechende Aspekte kontextabhängig stärker betonen. [4] ​Marx: Grundrisse, ebd.​ [5] ​Karl Kautsky: Der Staatssozialismus. In: Der Sozialdemokrat, 1881; Karl Kautsky: Die Abschaffung des Staates. In: ebd. [6] ​August Bebel: The Man Who Spoke Out. 80th Anniversary of a Landmark in Gay Rights. (Übersetzer: John Lauritsen) In: Gay News, 1978, S. 136. [7] ​W. I. Lenin: Was tun? Ausgewählte Werke. Band I, S. 175f. [8] ​ebd., S. 191f. [9] ​Dan Healey: Homosexual desire in Revolutionary Russia. The regulation of sexual and gender dissent. Chicago 2001, S. 170. [10] ​Leon Trotsky: The revolution betrayed. What is the Soviet Union and where is it going? New York 2009, S. 162f.
[11] ebd., S. 267.