Die freie Rede in der Gesellschaft. Ein ideen-geschichtliches Plädoyer.
Ausgabe #36 | September/Oktober 2025
Ein Kommentar von Claudia Wittig
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist...“
Martin Niemöller
Die Freiheit der Meinung und ihrer Äußerung ist in den vergangenen Jahren erneut ins Zentrum öffentlicher Debatten gerückt. Seit der Podiumsdiskussion in Leipzig im November 2023 hat sich diese Diskussion weiter polarisiert. Erleben wir tatsächlich eine Krise der Meinungs- oder Redefreiheit? Und wenn ja, von welcher Seite aus wird der Prozess der Meinungsbildung manipuliert oder die Meinungsäußerung eingeschränkt? Was darf nicht gesagt werden – und wer entscheidet das? Besonders drängend bleibt die Frage, wie sich eine gesellschaftliche Linke in diesem Spannungsfeld positionieren sollte.
Bevor wir uns diesen Fragen widmen, muss zunächst geklärt werden, weshalb Meinungen und ihr freier Ausdruck überhaupt von Bedeutung sind. In der Leipziger Debatte kam auch diese Grundsatzfrage auf: Ist Redefreiheit ein Wert an sich – oder lediglich ein Mittel zum Zweck?
Mit steigender Komplexität der Gesellschaften wurde die Frage nach der Freiheit der Rede immer wieder neu gestellt, betrifft sie doch im Kern die Aushandlung der Regeln des Zusammenlebens der Menschen. Welche Wirkung hat der Ausdruck von Dissens gegenüber diesen Regeln auf die Gemeinschaft? Ein Blick auf die verschiedenen Antworten, die im Laufe der Geschichte auf diese Frage gegeben wurden, erlaubt uns, die Grundlagen unserer Gesellschaft und der Kräfteverhältnisse in ihr neu zu reflektieren.
Bereits für die frühesten Staatstheoretiker stand die Bedeutung der öffentlichen Rede im Zentrum ihrer Überlegungen. Für den Staatsmann und Rhetoriker Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) bildete die Fähigkeit zur überzeugenden Rede das Fundament des gemeinschaftlichen Lebens und damit den Ursprung jeglicher „Gesellschaft“ schlechthin. In seinen Schriften, welche im Niedergang der römischen Republik entstanden sind, erscheint die freie Rede als Grundvoraussetzung politischer Freiheit. Für Cicero bedeutete der Verlust öffentlicher Diskussionskultur auch das moralische Scheitern der politischen Ordnung. Unter dem aufkommenden Autoritarismus Julius Caesars sah er die freie, verantwortungsvolle Rede, die auf Dialog und gemeinsame Lösung ausgerichtet war, zunehmend unterminiert.
Schon den antiken Denkern war bewusst: Die freie Debatte ist zugleich Voraussetzung politischer Lösungsfindung wie auch anfällig für Missbrauch. Mit dem Übergang zur Neuzeit setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass unterdrückte Kritik langfristig die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung gefährdet.
Niccolò Machiavelli (1469-1527) verkörperte dieses Spannungsfeld exemplarisch. In Il Principe empfahl er dem Fürsten, aufkeimende Kritik im Sinne der Machtsicherung zu kontrollieren. In seinen Discorsi hingegen lobte er die republikanische Struktur des alten Roms und erkannte in der offenen Debatte einen Stabilitätsfaktor. Das Scheitern der römischen Republik führte er auf korrupte Eliten zurück, die legitime Kritik unterdrückten. Somit war der Konflikt zwischen Volk und Aristokratie für Machiavelli nicht destruktiv, sondern ein Motor republikanischer Stärke. Freiheit entstehe nicht durch erzwungene Harmonie, sondern durch das Gleichgewicht widerstreitender Kräfte.
Wer also keine autokratische Herrschaft anstrebt, muss Räume für Ausdruck und Dissens schaffen. Diese Einsicht wurde zum ideellen Fundament frühneuzeitlicher Staatstheorie. John Locke (1632–1704), oft als „Vaters des Liberalismus“ bezeichnet, entwickelte aus ihr seine Vorstellung einer konstitutionellen Monarchie, in der die parlamentarische Streitkultur eine zentrale Stellung einnimmt. Nicht Einstimmigkeit, sondern vernunftgeleitete Debatte sichert das Fortbestehen der Gesellschaft.
Mit dem Aufstieg des Parlamentarismus wurde auch die Frage nach der Beeinflussung öffentlicher Diskurse drängender. Für Immanuel Kant (1724–1804) war die rationale Auseinandersetzung Leitprinzip gesellschaftlicher Entwicklung und somit auch im Interesse der Herrscher. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hingegen warnte bereits vor gezielter Manipulation durch die Mächtigen. In Du contrat social beschrieb er, wie die öffentliche Meinung zur Herrschaftssicherung instrumentalisiert wird. Rousseaus Kritik an Repräsentation und Machtungleichgewicht prägte die Französische Revolution und die Forderung nach Gewaltenteilung. Später führte Karl Marx (1818–1883) in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie aus, dass echte Meinungsfreiheit erst in einer klassenlosen Gesellschaft möglich sei. Er machte damit auf ein bis heute bestehendes Problem aufmerksam: Die Freiheit des Diskurses leidet nicht nur unter politischem Machtungleichgewicht, sondern auch unter sozialer Ungleichheit – materielle Interessen beeinflussen den Diskurs wesentlich.
Ein zentrales Kapitel der deutschsprachigen Staatstheorie ergibt sich aus den Lehren des Faschismus. Trotz vielfältiger Medienlandschaft und offener Debatte konnte die NSDAP in der Weimarer Republik aufsteigen und schränkte nach der Machtergreifung als ersten Schritt die Presse- und Meinungsfreiheit massiv ein. Aus dieser Erfahrung entstanden zwei gegenläufige Reaktionen: Die eine betont seit 1949 den hohen Stellenwert der Meinungs- und Pressefreiheit, verankert in Artikel 5 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“. Die andere mündete in das Konzept der „Wehrhaften Demokratie“, also der Bereitschaft, demokratische Rechte von Feinden der Demokratie einzuschränken.
Diese Linie findet sich auch bei Karl Popper (1902–1994), der in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde das „Paradoxon der Toleranz“ formulierte:
Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.
In der heutigen Gesetzgebung finden sich zahlreiche Spuren dieses Denkens: Maßnahmen gegen Fake News, Desinformation, Politikerbeleidigung oder – im aktuellen schwarz-roten Koalitionsvertrag – gegen „Informationsmanipulation“ sowie „Delegitimierung des Staates“, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes fallen kann.
Doch genau hier setzt die Kritik der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe (*1943) an, indem sie ausdrücklich vor den Gefahren dieses Ansatzes warnt. Ein Staat, der Intoleranz verbietet, laufe Gefahr, selbst autoritär zu werden. Der Agonismus opponierender politischer Strömungen sei nicht nur unvermeidbar, sondern geradezu der Garant des für eine demokratische Gesellschaft notwendigen Pluralismus.
Kürzlich sorgte der Fall eines Welt-Journalisten für Aufsehen, der wegen eines Memes über Innenministerin Nancy Faeser zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Eine bayerische Lehramtsstudentin darf aufgrund politischen Engagements nicht unterrichten. Die Reaktionen darauf fallen erwartbar entlang politischer Lagergrenzen aus – dabei geht es im Kern um dieselbe Sache. Im Leipziger Panel klang an: Wo eine linke Position vertreten, wo der Kampf gegen rechts geführt, wo die Arbeiterklasse zu ihrem Recht geführt wird, da kann gecancelt, verboten und der Diskursraum beschränkt werden. Dass man mit dieser Haltung schnell zu Widersprüchen führt, zeigt sich bereits in den unterschiedlichen Ansichten zur Palästinasolidarität, die im Panel zur Sprache kommen. Verbote von Demos und der Kufiya als Symbol, Absagen universitärer Veranstaltungen mit Francesca Albanese, Abschiebungen ausländischer Demonstrierender – Cancel Culture oder Kampf gegen Antisemitismus? Die gesellschaftliche Linke ist sich in dieser Frage uneins. Wer entscheidet also, was gesagt werden darf – und was nicht?
Ein weiteres Beispiel: Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, gegen Informationsmanipulation vorzugehen. „Bewusste Falschbehauptungen“ seien von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Eine Panel-Rednerin verwies auf den „Schaden“ durch Fehlinformationen, etwa in der Pandemie. „Empirie“ solle hier die Wahrheit ans Licht bringen und diesen Schaden verhindern. Nun wissen wir inzwischen, dass die empirische Bewertung während der Pandemien nicht so eindeutig war, wie es den Anschein hat. Die „eine Wahrheit“ in der Äußerung einer einzelnen wissenschaftlichen Institution zu suchen, zeugt nicht nur von einem falschen Wissenschaftsverständnis: Wissenschaftliche Erkenntnis ist ein Prozess von Austausch, These, Widerlegung und ständigem Verbessern und Verfeinern, so dass sich innerhalb weniger Wochen kein Akteur auch nur theoretisch im Vollbesitz der Wahrheit wähnen kann. Gleichzeitig ignoriert es, dass auch der wissenschaftliche Diskurs nicht herrschaftsfrei, nicht unbeeinflusst von politischen und wirtschaftlichen Interessen ist.
Wer Einschränkungen der Redefreiheit begrüßt, solange sie die „Richtigen“ treffen, hat die Bedeutung kritischer Öffentlichkeit für Wahrheits- und Entscheidungsfindung nicht verstanden. Unser politisches System – unsere Gesellschaft – lebt vom Agonismus, vom Dissens, ja sogar vom Irrtum. Die freie Debatte muss ihr höchstes Gut sein. Wer bereit ist, sie aufzugeben, wenn zeitweilig die scheinbar Falschen die Oberhand gewinnen, urteilt vorschnell und kurzsichtig.
Ein Blick auf aktuelle Umfragen verdeutlicht das Dilemma: Während dieser Text entsteht, liegt die AfD erstmals auf Platz eins. Die Sorge wächst, sie könnte die Regierung stellen und die Demokratie gefährden. Doch der eigentliche Schaden wurde längst angerichtet: Die „demokratische Mitte“ hat Freiheitsrechte preisgegeben, die einst selbst Linke erkämpften. Hegemonie wurde vorschnell auf ein Lager begrenzt. Nicht nur der gesellschaftliche Konservatismus, sondern auch linksliberale Positionen können hegemonial werden.
Selbst dort, wo man inhaltlich nicht zustimmt, muss Meinungsvielfalt verteidigt werden. Ihr Verlust wäre ein nur schwer umkehrbarer zivilisatorischer Rückschritt.
Hinzu kommt, dass die Ächtung bestimmter Positionen den rechten parlamentarischen Flügel keineswegs geschwächt hat: CDU und AfD erreichen gemeinsam über 50 Prozent. Politische Reinheitsgebote, die Debatten mit der Rechten verbieten, haben ihr nichts entgegengesetzt. In der Antike war Rede gleichbedeutend mit Politik – wer sich ihr verweigert, verweigert politisches Handeln.
Eine Gesellschaft, zumal eine demokratische, muss miteinander reden, so frei und kontrovers wie möglich. Das Grundgesetz zieht klare Grenzen: Gewaltandrohung, Volksverhetzung, Jugendgefährdung – alles andere jenseits dieser Grenzen sollte eine Gesellschaft aushalten. Kritik bleibt erlaubt, Widerspruch ebenso – doch der Diskurs muss offen bleiben. Wer echte Auseinandersetzung will, muss bereit sein, zuzuhören – auch dann, wenn es anstrengend wird. Man sollte lieber einmal zu viel zuhören als zu wenig, lieber einmal mehr mit den Unbelehrbaren diskutieren, als vorschnell abzuwinken. Und: lieber sich selbst einmal öfter hinterfragen, als in bequemer Selbstgewissheit zu verharren. Das wäre gute Debattenkultur und ist als solche völlig freiwillig. Wo aber Politik den öffentlichen Diskurs einschränkt, wo finanzielle Eliten Deutungshoheit erlangen, dort ist Widerstand nötig. Gramsci wusste das, Marx ebenso, Rousseau und Machiavelli auch – selbst Caesar sah es kommen. Einer gesellschaftlichen Linken sollte dieses Wissen zum Selbstverständnis gehören. |P
Claudia Wittig ist Historikerin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Mitglied der Partei Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW).

