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Redefreiheit und die Linke

Ausgabe #36 | September/Oktober 2025

Am 04.11.2023 veranstaltete die Platypus Affiliated Society in Leipzig eine Podiumsdiskussion mit Mara (Mitglied des SDS Leipzig), Lukas (Mitglied der Gruppe ArbeiterInnenmacht), Magnus Klaue (freier Autor) und Henry (Mitglied der Platypus Affiliated Society). Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=8Rf7K5h3h64 vollständig angehört werden kann.

Beschreibung

Historisch gesehen waren Marx, Engels und die Marxisten der zweiten Internationale der Meinung, dass unbeschränkte Redefreiheit verteidigt und der Staat so wenig wie möglich reglementieren sollte. Gerade in Deutschland ist die Redefreiheit als Meinungsäußerungsfreiheit per Gesetz stark eingeschränkt. In letzter Zeit zeigte sich eine verschärfte Tendenz zu weiteren Einschränkungen, in Deutschland beispielsweise durch die Ausweitung des „Volksverhetzungsparagraphen“ 130. Der öffentliche Diskurs ist durch Phänomene wie „Cancel Culture“ und „deplatforming“ zu einer Art Kulturkampf zwischen radikalen Befürwortern und Gegnern der Redefreiheit aufgeheizt. Dies wurde durch die Debatte über Schutzmaßnahmen und die Gefahr von Misinformation während der Corona-Krise nur noch zugespitzt. Große Teile der heutigen Linken unterstützen diese Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Namen der Emanzipation und des Schutzes von Minderheiten.

Sind bürgerliche Freiheiten zu einer Idee der Rechten geworden? Wieso wurden sie von den historischen Marxisten eingefordert? Dienen diese Rechte nur dem politischen Gegner oder stellt die staatliche Zensur von Kritikern eine ernsthafte Bedrohung dar? Wie sollte die Linke angesichts ihres historischen Engagements für die bürgerlichen Freiheiten heute mit der Redefreiheit umgehen?

Eingangsstatements

Mara: Ich habe das Ganze sehr kurz dargestellt. Ich würde mit der These einsteigen, dass freie Rede mehr Schaden als Nutzen bringt und deshalb nie frei sein kann. Sprache und Rede sollten in erster Linie wahr sein und so wenig Schaden wie möglich anrichten. Was gesagt werden kann und gesagt werden darf, ist in einem ständigen Aushandlungsprozess. Da ist der Staat auch nur ein Akteur unter vielen. Wir haben uns als Gesellschaft darauf geeinigt, dass manche Sachen besser nicht gesagt werden dürfen. Wir haben uns beispielsweise darauf geeinigt, dass das „N-Wort“ keine gute Idee war und dass wir Menschen mit den Namen und Pronomen ansprechen, die sie sich selbst wünschen. Hier in Deutschland haben wir uns darauf geeinigt, dass die Shoah nicht geleugnet werden sollte. Alle drei Sachen finde ich gut.

Ich werde jetzt darauf eingehen, wo meines Erachtens nach Rede eingeschränkt wird. Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Ich würde mit Beispielen anfangen, die nicht so gut sind. Aufgeteilt habe ich das ein bisschen nach der gramscianischen Staatstheorie: Ich würde also in den einen Teil – „Zwang“ – den Staat und seine Repressionsmittel einordnen und in den anderen Teil – „Hegemonie“ – alles, was außerhalb der staatlichen Einflusssphäre passiert.

Bürgerliche Demokratien haben nominell Meinungsfreiheit. Das ist erstmal das Versprechen des Staates, sich nicht in private Meinungen einzumischen. Diese Freiheit hat aber immer einen Rahmen. Dieser Rahmen wird immer durch die aktuellen Machtverhältnisse geprägt. In Deutschland ist zum Beispiel der Philosemitismus Staatsräson: Israel darf nicht oder nur in sehr beschränktem Rahmen kritisiert werden. Dafür nutzt der Staat seine Instrumente der Verwaltung oder Polizei. Palästinasolidarische Veranstaltungen waren schon in den vergangenen Jahren unter starker Kontrolle oder teilweise sogar verboten. Palästinensische Aktivist*innen erfahren Repressionen durch die Polizei, das zentrale Repressionsinstrument des Staates. Das passiert in der Zwangssphäre.

Die Privatsphäre, also das, was ich hier unter Hegemonie fassen würde, umfasst meist interne Meinungsäußerungen, die nicht durch den Staat geregelt sind, auch wenn es hiervon Ausnahmen gibt. Zu diesen Ausnahmen zählen zum Beispiel Straftaten wie Bedrohung, Volksverhetzung oder Beleidigung, wobei Volksverhetzung im Hinblick auf den verschärften Volksverhetzungsparagraphen eine Sonderrolle spielt. Ich bin zwar keine Juristin, würde das aber erstmal gar nicht als Verschärfung betrachten. Der Paragraph besagt nun, dass keine Genozide oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geleugnet werden dürfen. Wer das als Verschärfung sieht, weil er gerne den Genozid an den Armenier*innen leugnen möchte, bitteschön. Dazu gehört auch, dass nur strafbar ist, was den öffentlichen Frieden stören könnte, also auch in der öffentlichen Sphäre passiert. Das heißt, ihr dürft privat immer noch gerne den Genozid an den Armenier*innen leugnen.

Nach den Ereignissen vom 7. Oktober verlangte zum Beispiel die Zeitung Die Welt Statements von Prominenten gegen den Judenhass, meinte aber Solidarisierungen mit Israel. Das ist nicht dasselbe. Wer nicht antwortete, wurde als Antisemit dargestellt. Von Kulturinstitutionen wurden Statements eingefordert, obwohl diese sich sonst nie politisch äußern würden. Es gibt regelmäßig mediale Hetzjagden gegen migrantische Journalist*innen aufgrund ihrer Palästina-Solidarität, vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Gleichzeitig werden in Leipzig Menschen mit Kufiya von linken Orten verwiesen, ihnen wird also die Partizipation an progressiven Orten und der Austausch über emanzipatorische Politik verweigert. An Universitäten wird wissenschaftlichen Mitarbeitern ihre Anstellung entzogen, weil sie Israel kritisieren. Das passiert ohne woke Studi-Mobs, vor denen sich vor allem Konservative fürchten. In den vergangenen Wochen wollte der Studierendenrat der Universität Leipzig linke Gruppen faktisch ausschließen, da diese sich palästinasolidarisch geäußert hatten. Zur Transparenz: auch uns als SDS. Das fanden wir nicht so toll.

Jetzt kommen wir zu den privaten Unternehmen, auf die der Diskurs gerade hauptsächlich verschoben wurde. Meinungsfreiheit wird vom Staat reguliert und private Unternehmen haben erstmal selbst die Entscheidung, wen oder was sie zulassen. Das entscheiden sie vor allem auf der Grundlage der Profitorientierung. Es gab Experimente mit Plattformen ohne strengere „Terms of Service“, also ohne diese inneren Regeln. Diese waren unglaublich schnell voller Nazis und teilweise auch Kinderpornografie, Sachen, die ich beide nicht so gut finde. Wir sehen also, dass der Rahmen dessen, was sagbar ist, ständigen Veränderungen unterliegt und nicht alles festgelegt ist. Wir müssen dafür streiten, wie wir diese Veränderungen steuern können. Deswegen finde ich die Frage des Panels auch ein bisschen falsch gelagert. Ich würde eher darüber diskutieren wollen, wie wir diesen Rahmen in unsere Richtung verschieben können, anstatt uns ständig über Cancel Culture zu beschweren.

Ich würde gerne noch ein paar Sätze über Cancel Culture verlieren, weil ich das ein sehr seltsames Phänomen finde. Es wird viel darunter gefasst, das nicht dasselbe ist. Man hätte zum Beispiel sagen können: 2019 wurde der rassistische Jura-Professor Thomas Raucher hier in Leipzig „gecancelt“, wie man jetzt, 2023, sagen würde. Der ist aber einfach ein Rassist und ich finde Rassist*innen haben an der Uni nichts verloren. Gleichzeitig finde ich es nicht so gut, wenn palästinasolidarische Menschen gecancelt werden, da passiert die Cancel Culture aber eben nicht durch woke Studis, sondern durch philosemitische Institutionen. Ich finde den Begriff Cancel Culture sehr unscharf und würde ihn deshalb gerne vermeiden.

Lukas: Ich möchte mich dem Thema des heutigen Abends auf einer etwas abstrakteren Ebene nähern. Ich habe vier Thesen mitgebracht.

Die erste These ist, dass bürgerliches Recht und bürgerliche Freiheiten nur auf einer rein formalen Ebene als etwas Neutrales erscheinen. Letztlich steht dahinter ein spezifisches Klasseninteresse der Kapitalisten. Auch wenn es so dargestellt wird, als würde das bürgerliche Recht die Interessen der gesamten Gesellschaft ausdrücken, gibt es so etwas wie ein gemeinsames Interesse der Kapitalist*innenklasse und der Arbeiter*innenklasse nicht. Über der kapitalistischen Produktionsweise als materieller Basis der Gesellschaft erhebt sich ein ihr entsprechender ideologischer, moralischer und rechtlicher Überbau, der die kapitalistische Produktionsweise reproduziert und so den Status quo aufrechterhält.

In Bezug auf Freiheit muss man sagen: Die Freiheit des einen oder der einen ist die Unterdrückung des oder der anderen. Die Freiheit der Kapitalist*innenklasse, schrankenlos über das eigene Kapital zu verfügen, bedeutet auf der anderen Seite gleichermaßen die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse. Es gibt nicht die allgemeine Freiheit. Wenn man die Frage nach Freiheit stellt, dann muss man fragen: Freiheit für welche Klasse? Wir sind ganz allgemein und plakativ gesprochen natürlich für die Freiheit der Arbeiter*innenklasse und für die Unfreiheit der Kapitalist*innenklasse. Jede Person hat in unserer Gesellschaft das Recht, eine Demonstration anzumelden, eine Partei oder Zeitung zu gründen. Natürlich hat die Kapitalist*innenklasse aufgrund ihrer ökonomischen Macht aber viel mehr Möglichkeiten, von diesen Rechten Gebrauch zu machen und auf den Staat und die öffentliche Meinung einzuwirken. Sie kann dementsprechend durch den Staat selbst zur politisch herrschenden Klasse werden. Letztlich ist im Grundgesetz mit dem Artikel 14 „Recht auf Privateigentum, Erbrecht“ auch eine auf Privatbesitz von Produktionsmitteln fußende Gesellschaft und damit die Existenz einer Kapitalist*innenklasse rechtlich unveränderlich festgeschrieben. Demokratische Rechte werden im Kapitalismus den Unterdrückten eigentlich nur deswegen gewährt, um sie in die Gesellschaft zu integrieren, mit ihrer bestehenden Ausbeutung auszusöhnen und die ökonomische und politische Herrschaft der Kapitalist*innenklasse zu kaschieren.

Meine zweite These ist, dass diese demokratischen Rechte und diese bürgerliche Freiheit nur auf einer rein formalen Ebene von allen gleichermaßen in Anspruch genommen werden können. Es wurde schon die Palästinasolidarität angesprochen. Daran sieht man, dass der Staat nach Belieben die Freiheiten einschränken und notfalls auch abschaffen kann. Diese Freiheiten sind also mehr Schein als Sein. Das heißt jedoch nicht, dass wir diese formalen Freiheiten nicht auch gegen Angriffe des Staates verteidigen würden. In einer Situation der Illegalität und der Arbeit im Untergrund kann die Arbeiter*innenklasse ihren Kampf natürlich viel weniger effektiv führen als unter Bedingungen voller demokratischer Freiheiten. Deshalb setzen wir uns für diese ein, auch wenn das bedeutet, dass politische Gegner*innen sie ebenfalls nutzen können.

Meine dritte These ist, dass bürgerliche Rechte sowohl für die Kapitalist*innenklasse als auch für die Arbeiter*innenklasse kein Selbstzweck sind, sondern immer Mittel zum Zweck, nämlich zur Durchsetzung ihrer objektiven Klasseninteressen. Sie haben somit keinen Wert an sich. Daran bemisst sich auch das marxistische Verständnis von Moral und Recht, und wann wir dafür sind, Rechte einzuschränken oder aufzuweichen. Das steckt letztlich auch hinter dem bekannten Satz von Lenin: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt.“ Demokratische Rechte bilden einen Rahmen, in dem die Arbeiter*innenklasse politisch handeln kann, aber wenn demokratische Prozesse dem Interesse der Arbeiter*innenklasse entgegenstehen, dann sind wir natürlich auch dafür, diese einzuschränken. Wir sind für das Recht auf Versammlungsfreiheit, aber schränken selbst gleichzeitig Versammlungen der Rechten ein, indem wir versuchen, diese zu blockieren. Wir verteidigen die Meinungsfreiheit, sind aber gleichzeitig auch dafür, Plakate und Flyer von Rechten herunterzureißen. 

So würden wir uns allerdings nicht gegenüber den bürgerlichen Parteien verhalten. Diese müssen unserer Meinung nach eher durch inhaltliche Argumente und Auseinandersetzungen bekämpft werden und weniger durch Sabotage, da man derart große Parteien durch Sabotage gar nicht effektiv bekämpfen kann. Außerdem liefert man damit Parteien in Regierungsverantwortung einen Vorwand, die Freiheiten einzuschränken, die wir als kleine Minderheit von Marxist*innen wahrnehmen. Für uns würde es natürlich schwierig werden, diese dann wieder einzufordern, wenn wir sie gegenüber den bürgerlichen Kräften nicht anerkennen. Es ist eine taktische Frage.

Die letzte These, die ich aufstellen möchte: Demokratische Rechte genießen oder durchsetzen können ist in erster Linie keine juristische Frage, sondern eine des Kräfteverhältnisses. Ob eine Regierung es schafft, ein bestimmtes Gesetz durchzudrücken, hängt auch maßgeblich damit zusammen, in welchem Ausmaß wir in der Lage sind, dagegen Widerstand in den Schulen, Unis und natürlich auch in den Betrieben zu organisieren. Ein Beispiel sind zumindest teilweise die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich. Wir treten dafür ein, dass die Arbeiter*innenklasse selbst die Kontrolle darüber übernimmt, welche demokratischen Rechte es gibt. Das ist unsere Übergangsforderung.

Magnus Klaue: Von der freien Rede zur wütenden Rede: Am 27. Oktober erschien in der Wiener Zeitung unter dem Titel „Was gesagt werden muss“ ein Text der Kolumnistin Beatrice Frasl.1 Der Text stellt die Frage: „Was soll man sagen, wenn Menschen, die sich selbst als progressiv oder als links bezeichnen, das Massaker der Hamas in Israel nicht verurteilen, sondern gutheißen?“ Er nimmt seinen Ausgang mit der Feststellung, dass die Ereignisse des 7. Oktobers einen „Zivilisationsbruch“ darstellten, und gelangt zu dem Resultat, es gelte, sich von allen zu entsolidarisieren, die die Barbarei der Hamas protegieren und relativieren. So bleibt Frasls Stellungnahme symptomatisch für das Milieu, von dem sie sich distanziert. Zum einen ist es die Hauptantriebskraft des Textes, ein „Wir“ zu erhalten, nur eben nicht mit „Euch“. Dass es um Stabilisierung und Selbstreinigung einer Gemeinschaft geht, macht schon der Flugblattstil des Artikels deutlich. Nun ist nichts dagegen zu sagen, jegliche Kommunikation mit Antisemiten zu verweigern. Kritik würde aus dieser Ansage aber erst, wenn die Frage gestellt würde, warum man so lange zu denjenigen gehört hat, zu denen man nun auf Distanz geht. Unangenehm berührt Frasls Text durch die Rhetorik der Wut, mit der man in einer Epoche der Gedankenlosigkeit gut ankommt: Wer politische Dissense in privaten Zerwürfnissen auslebt, holt mich emotional ab. Stattdessen würde es gelten, in diesem Wutgestus die Verwandtschaft der Autorin mit denen zu erkennen, denen sie die Tür weist. Wut kann und muss manchmal Movens politischer Rede sein, aber eine politische Rede, die sich in inszenierter Wut erschöpft, ist keine freie Rede mehr. Wut treibt immer zum Bekenntnis, artikulierte Sprache zur Distanz. Das Moment der distanzierenden Selbstreflexion fehlt an diesem Text, wodurch er beispielhaft ist für eine Erosion freier Rede, die alles prägt, was von der bürgerlichen Öffentlichkeit noch übrig ist.

Unterdrückte Meinung als Common Sense: Ein weiterer Index für den Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die Disproportion zwischen der Selbsteinschätzung der eigenen Meinungsbekundung, die fast immer als mutig und dissident angesehen wird, und deren objektiver Bedeutung. Diejenigen, die noch vor einem Jahr gegen die Corona-Maßnahmen nicht wegen deren Irrationalität auf die Straße gingen, sondern weil sie sich von den sogenannten Mainstream-Medien in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt glaubten, fanden sich nach der Selbstzurücknahme des Maßnahmenregimes erst auf der Seite der Russlandverteidiger und nach dem 7. Oktober auf der Seite notorisch skeptischer Israelkritiker wieder: „Ich werde in meiner Meinungsbekundung unterdrückt, deshalb habe ich die Wahrheit gepachtet; man erklärt mich für verrückt, deshalb bin ich die Inkarnation der Vernunft.“ Dieser infantile Wahn ist zum Common Sense geworden, der als allgemeiner Wahn das Gegenteil jener Allgemeinvernunft ist, die sich einmal Common Sense nannte. Der Allgemeinwahn wiederholt eine Geistesabdankung, die in der Linken, seit Cancel Culture, Sensitive Reading usw. die Diskursherrschaft erlangt haben, gängig ist.

Redner, die unbotmäßige Gedanken vortragen, vom Podium zu jagen; gemäß der Prämisse, dass Gedanken ansteckend seien, jeden, der sie hört, kommunikationspsychologisch zu bearbeiten; alles dafür zu tun, dass man niemals von Erkenntnissen überrascht wird – das ist seit Jahren die für Linke charakteristische Kommunikationsform. Durchsetzen konnte sie sich, weil man sich in allem, was man sagt, tut und schreibt, moralisch im Recht wähnt und Publikum eigentlich nur zur Selbstbestätigung braucht. Die eigene Community setzt sich aus Vorsprechern und Nachsprechern zusammen. Nachsprecher können zu Vorsprechern werden und Vorsprecher zu Nachsprechern. Auch Störer sind erwünscht, weil sich an ihnen zeigen lässt, wie doof der Gegner und wie toll man selber ist. Aber Außenstehende, die aus Unkenntnis, Neugier oder Befremden unvorhergesehene Fragen stellen, erregen Anstoß. Diese Haltung, die sich derart verallgemeinert hat, dass liberale oder konservative Kritiker der Linken auch schon allein die Tatsache, dass eine Zeitschrift einen ihrer Textvorschläge abgelehnt hat, zum Anlass nehmen, zu klagen, sie seien gecancelt worden, widerspricht dem Begriff des Common Sense. Dieser ist an der Denkform des Liberalismus geschult: Er vertraut darauf, dass das Vorurteil, die Lüge und die Heuchelei sich im freien Tausch der Argumente selbst desavouieren und weder präventiv ausgeschlossen noch besserwisserisch niedergemacht werden müssen.

Von der Redefreiheit zur Sprechbetreuung: Dass Redefreiheit unmittelbar verknüpft ist mit dem Liberalismus, der Handels- und Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit und dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung, verweist auf die Verflochtenheit der Geschichte politischer Ökonomie mit ihrer Kritik. So wie Marx diese Kritik in Rekurs auf bürgerliche Theorien politischer Ökonomie entwickelte, die er destruierte, indem er sie im hegelschen Sinn „wahr-nahm“, also ihren Wahrheitsgehalt entfaltete und an dieser Entfaltung ihre Unwahrheit erwies, so bestand das 19. Jahrhundert hindurch ein Zusammenhang zwischen den bürgerlich-revolutionären Foren des Kampfes für Redefreiheit und den retrospektiv als sozialrevolutionär oder kommunistisch und daher links identifizierten Strömungen der Kritik des Bürgertums.

Ob jene Strömungen „links“ und die Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft „rechts“ waren, ist eine genauso ahistorische Frage wie die, ob Marx „linker“ oder weniger „links“ gewesen sei als Rosa Luxemburg. Solche Fragen, die an der Gegenwart gewonnen sind und falsche Unterscheidungen auf die Vergangenheit projizieren, zielen auf Reviermarkierung und verhindern jedes Verständnis historischer Genesis der Gegenwart. Aus dem Blick gerät hierdurch, dass über die ganze bürgerliche Epoche bis zum Ersten Weltkrieg, der die Erosion der Begriffe von Arbeit, Fortschritt und Geschichte vor Augen führte, bürgerliche wie sozialistische Strömungen, wenn auch zu unterschiedlichen Zwecken und auf verschiedene Art, Redefreiheit als Erscheinung bürgerlicher Freiheit ernst genommen haben. Diesen Liberalismus, in dem sich bürgerliche und libertäre Traditionen trafen, hat es in Deutschland nie wirklich gegeben. Das Modell sozialkorporatistischer Konfliktbefriedung, das seit Bismarck die deutsche Form des Sozialstaats als Fürsorgeverband prägt, hat nie einfach nur die Form eines auf Befehl und Gehorsam beruhenden Obrigkeitsstaats angenommen, sondern die eines anarchisch entkoppelten „Gehorsams ohne Befehl“2, wie das Clemens Nachtmann nennt, in dem jeder als auf die eigene Unverwechselbarkeit pochender Volksgemeinschaftsagent die Nebenmenschen in Eigeninitiative belauert.

Sprachpolitischer Ausdruck dieser Form staatsbürgerlicher Subjektivität ist ein Ethos aufsässiger Achtsamkeit, das jeden Widerspruch als Infragestellung der eigenen Souveränität ablehnt. Der Diskurs, in den Linke so gerne eintreten, ist als geschlossener Feedbackkreis, als auf verschiedene Rollen verteiltes Selbstgespräch konzipiert. Eine solche Sogkraft entwickelt dieser Diskurs, dass auch liberalkonservativer oder ex-linker Einspruch dagegen sich inzwischen fast nur noch an Signalwörtern aufhängt, die bei jedem Auftauchen lächerlich gemacht werden, sodass man den Eindruck hat, die Gegner diskursiver Spracheinhegung bräuchten die Linken, weil sie ohne tägliche Triggerung durch Gendersternchen nicht aus dem Bett kommen. Darum bleibt man unter sich, genau wie die Gegner, mit denen man gar nicht erst spricht. Man weiß, was sie sagen, weil man sie nicht kennt.

Worte sind keine Taten: Die zu diesem Habitus passende ideologische Schrumpfform ist die Performativitätstheorie der Sprache in ihrer Entstellung durch Judith Butler. Diese Schrumpftheorie besagt: Worte sind Taten, Sprache ist Sprechhandlung, weshalb vor kontaminierten Worten und ihren durch die Worte kontaminierten Sprechern gewarnt werden muss, wie auch vor den dadurch transportierten Gedanken. Sprechen bedeutet immer auch Handeln, erschöpft sich aber nicht im Handeln. An der Bestimmung dieser Relation versuchte sich die Performativitätstheorie vor Judith Butler; sie diente der Differenzierung, nicht der Nivellierung des Begriffs von Sprache. Das vergessen die Gleichsetzer von Wort und Tat ebenso wie die Tatsache, dass Sprache, weil sie nicht in Handlung aufgeht, das Handeln temporär suspendiert. Die Erfahrung, die ich mache, wenn ich jemandem zuhöre, gerade auch jemandem, der halluziniert, lallt oder dichtet, was manchmal ja ähnlich ist, diese Erfahrung kann ich nur machen, wenn ich für die Zeit des Zuhörens aufs Handeln verzichte. Auch diese Differenzierung setzt den Unterschied zwischen Wort und Tat voraus, der von dieser postmodernen Performativitätstheorie gekappt wird.

Demgegenüber wären die Vorzüge des angloamerikanischen Sprachpragmatismus wieder zur Geltung zu bringen: Wenn Sprechhandlungen von Sprache unterschieden sind, ist es demagogisch, den Leuten einzureden, Worte dienten allein entweder der Diskriminierung oder der Befreiung. Vielmehr bringt die Differenzierung von Wort und Tat sowohl die Qualität des Wortes wie des Handelns zur Geltung. Ein Wort ist kein körperlicher Übergriff, sondern suspendiert die Kette des Handelns und einander Zurichtens. Umgekehrt kann man in einer öffentlichen Rede, ist diese Differenz von Wort und Tat anerkannt, auch offenkundigen Blödsinn reden, ohne Gefahr zu laufen, andere zu verletzen oder von ihnen verletzt zu werden. Dies ist das Bewusstsein um die befreienden Möglichkeiten des Spiels, zu dem notwendig das Fair Play gehört, und die das Spiel von der Politik, der Moral, der Philosophie und allen Tätigkeiten der Gesellschaft unterscheiden. Das ernsthaft und regeltreu betriebene Spiel ist, als Negation gesellschaftlichen Handelns, der Ort, wo ausprobiert werden kann, wie das Leben aussehen könnte, wenn es anders wäre. Aber eben nur probiert, und das bedeutet noch lange nicht, dass dadurch die Realität verändert wird. Sie wird nur überformt.

Henry: Die Frage nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung als einem zentralen liberalen Recht hat auf der politischen Linken eine lange Geschichte. Die Linke, deren Name auf die Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung zurückgeht und die den radikalen Flügel der bürgerlichen Revolution verkörperte, kämpfte von Anfang an für zivilgesellschaftliche Rechte und bürgerliche Freiheiten – also Rechte, die insbesondere Schutz vor dem Staat bieten sollten. Es sind diese Rechte und Freiheiten, die das wichtigste Wesensmerkmal der bürgerlichen Revolutionen ausmachten, mehr noch als die Frage nach demokratischer Gesetzgebung selbst.

Freie Rede meinte dabei immer auch und insbesondere die des politischen Gegners. Selbst dann, wenn sie sich explizit gegen die bestehende Ordnung richtete. So verteidigte Thomas Jefferson in seiner ersten Inauguraladresse als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 1801 die Redefreiheit auch möglicher Verfassungsfeinde:

Wenn es unter uns welche gibt, die diese Union auflösen oder ihre republikanische Form ändern wollen, so sollen sie ungestört als Denkmäler der Sicherheit stehen, mit welcher Meinungsverschiedenheiten geduldet werden können, wo die Vernunft frei ist, sie zu bekämpfen.3

Dabei ging es nicht nur um das Recht eines jeden, seine Meinung zu äußern, sondern vor allen Dingen auch um das Recht eines jeden möglichen Publikums, inklusive der eigenen Person, zu hören, was eben ein anderer zu sagen hat. Oder, wie Thomas Paine diesbezüglich meinte: „Wer einem anderen dieses Recht abspricht, macht sich zum Sklaven der eigenen Meinung, weil er sich selbst das Recht nimmt, sie zu ändern.“4 Was in diesem Geist der bürgerlichen Revolution Ausdruck fand, war ein Vertrauen darin, dass den Individuen der Gesellschaft zuzutrauen ist, selbst zu denken, und dass aus einer sich sukzessive befreienden Gesellschaft heraus auch radikale Ideen für Veränderungen geboren werden können. Die ungehinderte Entwicklung dieser Ideen sollte das oberste Prärogativ sein. In diesem Sinne war das eigentliche Wesen der Redefreiheit von Beginn an der Schutz gerade ‚gefährlicher‘ Rede.

Das 19. Jahrhundert, weitab davon, eine Verwirklichung liberaler Prinzipien zu leisten, zeigte vor allen Dingen eine Rückkehr von Zensur und politischer Repression der Zivilgesellschaft. Für Marx und Engels war dieser Regress, hinter die Ansprüche des klassischen Liberalismus, ein Symptom der sich im Industriekapitalismus entwickelnden Krise der bürgerlichen Revolution und Gesellschaft. Dennoch verabschiedeten sie sich nicht von der Vision einer sich selbst regulierenden Zivilgesellschaft. Im Gegenteil betrachteten sie die sozialen Konflikte des Industriekapitalismus als negative Ausdrücke noch größerer Potenziale von gesellschaftlicher Selbstregulation. Potenziale, die in der politischen Organisation der arbeitenden Klasse einen zusehends bewussten Ausdruck finden sollten und deren Verwirklichung eine sich über die gesellschaftlichen Konflikte erhebende Staatsmaschine zusehends entgegentrat. Das staatliche Management und die gewaltsame Unterdrückung gesellschaftlicher Konflikte waren für Marx und Engels letztlich eine Unterdrückung der, diesen Konflikten inhärenten, Transformationspotentiale. Vor diesem Hintergrund formulierte sich der Kampf für bürgerliche Freiheiten in besonderer Aktualität.

Die Pressefreiheit war von zentraler Bedeutung für die Marxsche Politikauffassung. So betont Engels: „Solange es keine Pressefreiheit, kein Vereinigungsrecht und kein Versammlungsrecht gibt, ist keine Arbeiterbewegung möglich.“5 Dabei war Marx und Engels durchaus klar, dass es sich bei den Forderungen nach der Garantie liberaler Rechte um nichts anderes handelte als um die Ansprüche und Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft. Mit dem veränderten historischen Umstand jedoch, dass deren Verwirklichung nun in der Hand des organisierten Proletariats lag. So stellte Engels 1865 fest, dass die bürgerliche Verfassung des Staates gleichzeitig das Proletariat bewaffnete. Denn die Bourgeoisie musste 

konsequenterweise das allgemeine, direkte Wahlrecht, Preße-, Vereins- und Versammlungsfreiheit und Aufhebung aller Ausnahmsgesetze gegen einzelne Klassen der Bevölkerung verlangen. [Das wiederum sei] aber auch alles, was das Proletariat von ihr zu verlangen braucht. Es kann nicht fordern, daß die Bourgeoisie aufhöre, Bourgeoisie zu sein, aber wohl, daß sie ihre eigenen Prinzipien konsequent durchführe. Damit bekommt das Proletariat aber auch alle die Waffen in die Hand, deren es zu seinem endlichen Siege bedarf.6

Entscheidend ist, dass der Kampf für bürgerliche Freiheiten für Marx und Engels, sowie auch später für die Marxisten der zweiten Internationale, das zentrale politische Anliegen war. Und es war genau diese Strategie, die historisch zum Aufbau der sozialistischen Arbeiterbewegung führte. Sie bildete sich in der Zivilgesellschaft unabhängig vom Staat heraus und kämpfte konsequent politisch für alle Rechte, die dieser Prozess erforderte. Der Glaube an die Möglichkeit der Wandelbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse durch eine Öffnung derselben und durch eine Entfaltung ihrer Konflikte ist das, was den Marxismus letztlich zum Erben der bürgerlichen Revolution machte. In der Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche, nicht in ihrer falschen Versöhnung, sollten sie über sich hinausgetrieben und so größere Möglichkeiten von Freiheit realisiert werden.

Als sich nach dem Scheitern der Weltrevolution 1918 bei gleichzeitigem Aufkommen des Faschismus eine Desintegration der organisierten Arbeiterklasse in sozialdemokratischen Reformismus und Stalinismus zeigte, blieben nicht viele, die den liberalen Kern des Marxismus aufrechtzuerhalten suchten. Diejenigen jedoch, die an diesen Kern des Marxismus weiter erinnerten, wie neben einigen Trotzkisten auch die Frankfurter Schule, taten dies – auch nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus – in aller Konsequenz. In seinem Essay „Meinung Wahn Gesellschaft“ stellt Adorno zwar fest, dass auf dem Boden der bestehenden Verhältnisse die immerwährende Gefahr eines Umschlages von Meinung in Wahn drohe, welche in der Rassentheorie zur Realität geworden sei. Deshalb die Meinungsfreiheit zu beschränken, war für ihn jedoch keine Konsequenz. Im Gegenteil:

Keine Freiheit ohne die Meinung, die von der Realität abweicht; aber solche Abweichung gefährdet die Freiheit. Die Idee einer freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft gar nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt.7 

Trotz des von ihm genannten Antagonismus des Begriffs hielt er an dem uneingeschränkten Recht auf Meinungsäußerung – auch für Rechtsradikale, Rassenfanatiker und Holocaustleugner – in vollem Bewusstsein aller möglichen Konsequenzen fest. Schlicht und ergreifend deshalb, weil Adorno als Marxist die Möglichkeit fundamentaler Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse noch nicht aufgegeben hatte, wenngleich diese historisch verstellt war.

Auch der US-amerikanische Trotzkist Hal Draper weist in seiner Auseinandersetzung mit der Neuen Linken auf diese Problematik hin und verteidigt dieses Moment des Marxismus. Dass freie Meinungsäußerung auch immer solche impliziert, die man für verachtungswürdig hält, stellt er dabei als Banalität heraus. Sonst gehe es nicht um ein Recht, sondern lediglich um die Bereitschaft von irgendjemandem, dieses oder jenes zu tolerieren. Der Linken müsse es aber um politische Rechte gehen. Seien diese nicht vollumfänglich gewährleistet, könne von Meinungsfreiheit nicht die Rede sein. So argumentiert Draper klar dafür, dass eine Distinktion zwischen „civil liberties for fascists“ und „civil liberties for communists“ das Konzept und Prinzip liberaler Rechte per se vollkommen auflöse. Den Ausschluss vermeintlich gefährlicher Meinungsäußerungen kann für Draper kein Marxist ernsthaft befürworten. Denn würde der Staat darin legitimiert zu beurteilen, welche Meinungsäußerung als gefährlich verboten werden dürfe, sei der Grundstein für die politische Repression auch der Linken bereits gelegt. Draper fasst schließlich das Problem der Meinungsfreiheit für die Linke als „a test of politics“ zusammen.8 Nimmt man diesen zivilgesellschaftlich-freiheitlichen Sozialismus als Maßstab zur Beurteilung der heutigen Linken, stellt sich die Frage, ob diese nicht nur illiberal ist und einen wirklichen Glauben an die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse insgeheim längst aufgegeben hat, sondern vielmehr, ob sie nicht in dem Maße, wie sie illiberal geworden ist, letztlich aufgehört hat, überhaupt eine Linke zu sein.

Antwortrunde

M: Ich würde vor allem gerne auf Magnus eingehen wollen. Mir ist besonders deine Aussage aufgefallen, dass Worte keinen Schaden anrichten würden. Ich würde mit einem sehr klaren Jein antworten. Ich würde argumentieren, dass Worte nicht nur reine Aneinanderreihungen von Zeichen sind, sondern gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln, welche einen Schaden bei marginalisierten Personen anrichten können. Ob das passiert oder nicht, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Die Wörter „queer“ und „dyke“ sind Beispiele für Wörter, die früher einmal Schaden angerichtet haben, heute jedoch nicht mehr. Niemand schränkt die Redefreiheit von Personen fundamental ein, die schädliche Worte benutzen, solche Personen stehen aber zurecht in der Kritik. Das ist schon immer so gewesen, nur haben sich die Verhältnisse dahingehend geändert, dass diese Kritik früher einsetzt. Helke Sanders Tomatenwurf im historischen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) 1968 war ein Akt solcher Kritik. In dieser Tradition sehe ich es, wenn heute von Ideologie geblendete, transfeindliche Feminist*innen von Panels gejagt werden, wie Magnus das beschreibt. In beiden Fällen war die kritisierte Sprache nicht wahr und der Akt dagegen deswegen auch vollkommen berechtigt. Man kann vielleicht darüber streiten, wie diese Kritik geäußert wird, ich finde es aber gut und richtig, dass sie geäußert wird.

L: Ich möchte mich Henrys Kommentaren weitestgehend anschließen und fand gut, wie du das historisch ausgeführt hast. Ich würde mich in jedem Fall der Aussage anschließen, dass jeder Ruf nach Einschränkung der Rechte von Rechten und Faschisten letzten Endes die Gefahr birgt, dass diese Einschränkungen sich auch gegen die Linke richten. Ein Beispiel: Es gibt auch in der Linken eine Reihe von Organisationen, in etwa die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) oder auch viele NGOs, die ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) fordern. Ich bin nicht gegen ein Verbot der NPD, aber meine Gruppe ist auch nicht für ein Verbot der NPD. Wir machen keine politische Kampagne für ein Verbot der NPD. Zum einen, weil sich der Faschismus nicht formal verbieten lässt. Zum anderen schürt es Illusionen über die Verantwortung und Rolle des Staates und suggeriert, dass man sich auf den Staat verlassen könne: Wenn der Staat die NPD verbietet, dann wird schon alles gut. Demgegenüber wollen wir, dass die Arbeiter*innenklasse selbst die Kontrolle darüber hat was legal ist und was nicht. Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Wenn wir es dem Staat einfach machen, politische Parteien und Organisationen zu verbieten, dann wird sich das früher oder später gegen die Linke richten und linke Parteien werden verboten.

Zum Thema Cancel Culture: Ich würde Mara zustimmen, dass das ein Sammelbegriff ist, unter dem viel miteinander vermischt wird. Er wird teilweise von Rechten als Kampfbegriff benutzt. Man muss klar unterscheiden, wer von wem gecancelt wird. Es macht einen Unterschied, ob der Staat ein Recht beschneidet und damit jemanden cancelt oder ob die feministische Bewegung, die Arbeiter*innenklasse oder wir als linke Personen Leute canceln, weil sie sich rassistisch oder sexistisch äußern. Im Rahmen der Kräfteverhältnisse dürfen wir Sachen nicht unwidersprochen lassen und müssen Rassist*innen und Sexist*innen canceln.

MK: Ich möchte zu Anfang nochmal kurz auf den Begriff der Cancel Culture eingehen. Es klang bei Mara und Lukas eben sehr stark danach, dass, pointiert gesagt, Canceln tendenziell okay ist, wenn wir Linken es machen, aber wenn die anderen es machen, ist es schlecht. Ich finde, dass der Begriff mittlerweile schwammig geworden ist. Mir ist es mehrfach untergekommen, dass bei von Linken nicht gern gehörten Positionen, wenn dann zum Beispiel ein Vortrag torpediert wurde, von der Gegenseite sofort mit dem Cancel-Vorwurf reagiert wurde. Mir ging es vor allem darum zu sagen, dass niemand, der sich mit einer Minderheitenposition einem Publikum aussetzt, erwarten kann, von allen gehört werden zu wollen und Applaus zu erhalten. Es kommt natürlich auf die Art der Störung an. Es macht einen Unterschied, ob jemand körperlich angegriffen wird, ob die Rede wirklich verhindert oder gestört wird, ob Flugblätter verteilt oder Tomaten geworfen werden. Das muss man nuancieren. Gerade, wenn die Position, die man vertritt, gestärkt werden möchte und es eine gewisse Integrität haben soll, muss man bereit sein, sich Störern auszusetzen. Umgekehrt ist es keine Auszeichnung, wenn man gestört wird. Man ist nicht besser oder klüger, weil einen irgendwelche Idioten, vielleicht auch berechtigterweise, unterbrechen.

Ich habe große Probleme mit der Vorstellung, dass Worte ‚Schaden verursachen’ können. Das klingt nach Versicherungssprache. Man muss auch da präzise unterscheiden. Es gibt natürlich Worte, die massenhaft verwendet werden und im Grunde genommen nur die pragmatische Funktion haben, zur Gewalt aufzurufen, insbesondere bei diesen Pro-Pali-Demos. In solchen Fällen erschöpft sich Sprache in der Funktion, gefährliche Handlungen anzustoßen – sie kristallisiert sich gewissermaßen im Gewaltaufruf. Davon zu unterscheiden sind Äußerungen, die verletzen, angreifen, kränken oder verstören können. Letzteres fällt heute oft unter den Begriff des ‚Triggers‘ – und genau in diesem Zusammenhang halte ich die zunehmende Aufweichung des Traumabegriffs für äußerst problematisch.

Ich wehre es ab, dass Worte Schaden anrichten können und deswegen verboten werden müssen. Ich finde diese Differenz wirklich sehr wichtig, die ich versucht habe darzustellen: Worte können Handlungen suspendieren, wenn man sie ernst nimmt. Wenn ich jemandem zuhöre und die Worte ernst nehme, denen ich in jeder Hinsicht widersprechen möchte, höre ich zu, um dann zu antworten. Sprache insgesamt, sowohl Schriftsprache als auch mündliche Rede, hat dieses Moment der Suspension und des Einfrierens von Handlung, das Reflexion erst ermöglicht.

H: Ich hätte ein bisschen mehr Dissens nach euren Präsentationen erwartet. Ich würde gerne auf einen Aspekt reagieren, den Lukas angesprochen hat: Dass bürgerliches Recht nichts anderes sei als der rechtliche Überbau einer Gesellschaft, der ein Klasseninteresse deckt. Mit meinem Vortrag wollte ich zum Ausdruck bringen, dass Marx für bürgerliches Recht argumentiert. Man muss auseinanderhalten, was bürgerliches Recht ist: Dieses bezeichnet insbesondere auch Versammlungs- und Redefreiheit, also bürgerliche Freiheiten, welche nicht einfach nur ein Klasseninteresse decken. Zum Thema Cancel Culture habe ich versucht, stark zu machen, dass der Gedanke der Aufklärung war, gesellschaftliche Beziehungen zu befreien und weiter zu öffnen, um Transformationen möglich zu machen. Daran knüpfen Marx und der Marxismus an, sogar explizit im Hinblick auf die Krisenhaftigkeit der Gesellschaft. Das impliziert natürlich auch die Möglichkeit von Konflikt. Mir stellt sich die Frage, und das betrifft das gesamte politische Spektrum, was man dem eigenen Publikum eigentlich zutraut, wenn man meint, ihm die Position dieser oder jener Sprecher vorenthalten zu müssen. Dieses bürokratische Bedürfnis, Informationen zu verwalten, scheint für mich eher ein Ausdruck davon zu sein, wie wenig Möglichkeiten linker Transformation letzten Endes gerade gegeben sind.

Fragerunde

Ich würde gerne eine historische Erinnerung aufmachen an die Neue Linke, der es zunächst um zivilgesellschaftliche Freiheiten ging, nur um diese später selbst zu zensieren, nach dem Prinzip: Wenn die Linke es macht, ist es etwas anderes, als wenn der Staat es macht. Wenn wir zurückschauen, können wir sehen: Die Grünen sind mal Linke gewesen. Sie sind jetzt im Staatsapparat. Wir können sehen: Die Millennial Linke war in ihrer Jugend radikal und hat sich nun aufgemacht, der moralische Messapparat dafür zu sein, welche Informationen zugelassen werden dürfen und welche nicht. Wie können wir eine Form der Kritik an Cancel Culture formulieren, die das verhindern kann? Außerdem: Ist das Einfordern von freier Rede bereits inhärent sozialistisch?

L: Das bürgerliche Recht ist zunächst Klassenrecht der Bourgeoisie und dient der Reproduktion des kapitalistischen Überbaus. Gleichzeitig bildet es auch den politischen Rahmen, in dem die Arbeiter*innenklasse die Klassenmacht zerschlagen kann. Das erscheint erstmal als Widerspruch, aber Gesellschaft bewegt sich nun einmal durch Widersprüche. Daher würde ich auch nicht sagen, dass das Henrys Aussagen entgegensteht. Im Allgemeinen bin ich natürlich dafür, dass wir als Marxist*innen in erster Linie mit unseren politischen Gegner*innen einen inhaltlichen Kampf führen. Ich glaube, dass dieser Meinungsaustausch wichtig ist, um die Leute für unsere Position zu gewinnen. Wenn man dafür sorgt, dass einen die Leute nur politisch überzeugend finden, weil man alle anderen Stimmen ausgeschaltet hat – und dann schnappen diese Leute doch eine andere Stimme auf, die sie nicht kennen, wo sie auch unsere Argumente dagegen nicht kennen: Dann geraten diese Leute ins Wanken. Um sie wirklich gefestigt von der eigenen Position zu überzeugen, ist es wichtig, dass man den Meinungsaustausch zulässt. Das Ganze hat aber auch seine Grenzen, beispielsweise wenn Leute gegen Frauen, Queers oder Migrant*innen hetzen. Dann ist das nicht einfach nur eine Meinungsäußerung, sondern hat ganz praktische Folgen wie die Zunahme von Angriffen und sexuellen Übergriffen auf Frauen und Migrant*innen. Ich finde es dann legitim zu sagen, dass man das als feministische Bewegung, als migrantische Bewegung, als Arbeiter*innenbewegung nicht hinnehmen und auch physisch dagegen vorgehen sollte.

M: Cancel Culture sollte die Ausnahme sein und immer mit einem Gesprächsangebot im Sinne eines liberalen Meinungsaustauschs einhergehen. Ich glaube, dass wir als progressive und linke Menschen eben die besten Argumente haben, weil sie wahr und gut sind und unsere Gesellschaft voranbringen, statt sie einzuschränken. Ein Tomatenwurf sollte das letzte Mittel sein, wenn das Argument nicht mehr verfängt. 

MK: Ich kann mit dem Links-Rechts-Gegensatz nicht viel anfangen. Nicht, weil ich diesen egal finde, sondern weil ich denke, dass die Begriffsunterscheidung nur in bestimmten historischen Phasen funktioniert hat. In der Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre hat der Gegensatz das politische Spektrum und gleichzeitig auch bestimmte verfestigte Haltungen in der Bevölkerung, die sich gegenüberstanden, ganz gut abgebildet. Aber das zurück zu projizieren auf historisch verschiedene Bewegungen, finde ich genauso fragwürdig, wie diesen Begriff heute einfach aufzugreifen, wo er doch nur taktisch verwendet wird. Sozialisten im 19. Jahrhundert hätten sich pauschal nie als links bezeichnet. Frühsozialisten hatten ein ganz anderes Selbstverständnis als organisierte Parteisozialisten. Dann gab es in den 1920er Jahren eine zunehmende Bedeutung des Begriffs „Linkssozialismus“, der eine Unterscheidung aufmacht zu einem „Rechtssozialismus“, welchen es möglicherweise auch einmal gab, spätestens mit dem Nationalsozialismus, der gewisse Tendenzen der Rechten und der Linken verschmolzen hat. Da ist dieser Gegensatz kollabiert und funktioniert nicht mehr. Es gibt diese Dichotomisierung fast nur unter Linken. Es ist kein Problem zu sagen „Ich bin links“, aber wenige Leute sagen stolz auf einer Veranstaltung „Ich bin rechts“, weil das irgendwie etwas Schlechtes ist. Ich denke, das ist ein Zeichen, dass dieser Gegensatz erodiert ist. Mir wäre es wichtiger, Begriffe zu finden, die nicht so oft verwendet werden wie Liberalismus oder Konservatismus, obwohl sie eine anglo-amerikanische Geschichte haben und in Deutschland eine andere Bedeutung hätten. Ähnliches gilt für den Begriff „Sozialismus“, dessen Bedeutung heute ebenfalls unklar ist.

H: Ich glaube, dass die marxistische Linke zu Anfang des 20. Jahrhunderts anders auf den Kampf um bürgerliche Rechte blickte. Die Zweite Internationale betrachtete beispielsweise die Dreyfus-Affäre als Anliegen der sozialistischen Bewegung, obwohl ein französischer Offizier und damit der politische Feind betroffen war. Im Gegensatz dazu entspricht der heutige Umgang dem, was Hal Draper an der Figur Marcuses zuspitzt: Solange wir die guten Leute sind, die die guten Argumente haben und nicht an der Macht sind, fordern wir Redefreiheit. Sobald wir an der Macht sind, kann damit aufgeräumt werden. Das geht so weit, dass Marcuse explizit sagt, es müsse einen Entzug der Redefreiheit für Rechte geben, und zwar nicht nur für Befürworter von Chauvinismus und Nationalismus, sondern auch für Gegner des Wohlfahrtsstaates. Was ich hiermit markieren möchte, ist ein fundamentaler Bruch mit der vorherigen Emanzipationsvision. Zur Frage, ob Redefreiheit bereits sozialistisch sei: Ja und nein. In dem Sinne, dass das Ziel des Marxismus die Öffnung von Gesellschaft war, ist es ein unverzichtbares Recht, wenngleich natürlich Redefreiheit alleine noch nicht den Sozialismus herbeiführt.

Der Begriff der Linken, wie Platypus ihn aufzeigen will, verweist doch schon auf seine Grundlage, nämlich historische Entwicklung. In der Französischen Revolution bezeichnet er diejenigen, die die Revolution nicht erhalten, sondern weitertreiben wollen. Magnus, du hast gesagt, Konservatismus und Liberalismus fändest du geeigneter. Gerade in der angloamerikanischen Sphäre spricht man doch immer wieder von bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Leuten, die sich als liberal bezeichnen. Warum glaubst du, Liberalismus sei der nützlichere Begriff? Mara, du hast gesagt, deine politische Basis sei Sozialismus. Kannst du sagen, warum? Was definiert für dich Sozialismus?

MK: Meiner Ansicht nach sind die Begriffe konservativ und liberal brauchbarer, weil sie zunächst historisch-deskriptive Begriffe sind, zu denen ich mich ins Verhältnis setzen kann, während links und rechts eine Bewertung und zunehmend ein moralisches Urteil implizieren. Das war vor etwa 20 Jahren noch nicht so stark der Fall. Dieses unterstellende Moment finde ich bei diesen anderen Begriffen nicht so stark.

M: Als Sozialistin bin ich für eine vollständige Demokratisierung der Betriebe, die Dekommodifizierung der Waren und die Auflösung der Klassen. Theoretisch beziehe ich mich auf Poulantzas zur Staatstheorie und Candeias zur Parteitheorie. Als materialistische Feministin sehe ich mich in der Linie Kollontai, Vogel, Shon Faye. Kulturell bei Gramsci, Adorno und Chomsky. Ich bin Sozialistin, weil ich so viel Freiheit wie möglich möchte. Das ist für mich die Kernidee des Sozialismus. 

Marcuse wurde als Bruch mit der vorherigen Geschichte der Linken bezeichnet. Was ist denn mit Lenin und den Bolschewiki in der frühen Sowjetunion, die klar politische Freiheiten von Gegnern beschränkt haben? Ist das ein historischer Sonderfall oder müsste man nicht zugestehen, dass bestimmte Einschränkungen bürgerlicher Rechte in der Idee der Diktatur des Proletariats angelegt sind? Lukas, du hast gesagt, es würde immer Vertretungen der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Institutionen brauchen. Die Arbeiterklasse ist nun aber nicht international als Klasse organisiert. Wie können wir uns unter diesen Bedingungen auf das Recht und den Willen der Arbeiterklasse als solcher beziehen?

H: Zur Frage der Bolschewiki und ihrer Unterdrückung freier Meinungsäußerung in der Revolution ist der historische Kontext wichtig. Nicht nur im Bürgerkriegsszenario der russischen Revolution wurden politische Feinde zur Sicherung der Errungenschaften der Revolution unterdrückt, sondern auch in der Französischen Revolution. Dennoch waren das Verbrechen. Leszek Kołakowski führt in seinem Text „Über den Sinn des Begriffes ‚Linke’“ aus, dass der Unterschied zwischen der Linken und der Rechten gerade darin liege, diese Verbrechen auch als solche zu bezeichnen. In seinem Text „Wenn Amerika kommunistisch würde“ erläutert Trotzki, dass viele der Maßnahmen während der russischen Revolution auf deren rückständige Umstände zurückzuführen seien und sich im Falle einer sozialistischen Revolution in Amerika so nicht artikulieren würden.9 Entscheidend ist die politische Urteilskraft im Hinblick auf das Ziel einer befreiteren Gesellschaft, in der diese Maßnahmen überflüssig wären. Am Ende stellt sich immer die Frage, ob etwas vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Jedoch müssen wir festhalten, dass der Versuch der russischen Revolution gescheitert ist, was natürlich ein anderes Licht auf die in ihr getroffenen Entscheidungen wirft, insbesondere vor dem Hintergrund des auf sie folgenden Stalinismus. Die Linke wird jedoch, wenn sie ernsthaft revolutionäre Ambitionen hegt und die Gesellschaft fundamental verändern will, nicht ohne Verbrechen auskommen.

L: Ich möchte gerne nochmal Bezug nehmen auf die historische Frage nach der Meinungsfreiheit unter den Bolschewiki. Ich würde erstmal grundlegend sagen, dass Sozialismus automatisch eine totale Ausweitung der demokratischen Rechte bedeutet. Zum einen, weil das Ausüben von demokratischen Rechten und Meinungsfreiheit nicht mehr gekoppelt ist an ökonomische Macht und die staatliche Zensur der Kapitalist*innenklasse. Für Lenin und Trotzki war klar, dass den bürgerlichen Kräften weiterhin eine gewisse Presse- und Organisationsfreiheit zugestanden werden muss, auch innerhalb der Sowjets, um die Willensbildung der arbeitenden Klasse in der Auseinandersetzung mit ihnen zu stärken. Wie Henry bereits gesagt hat, muss der historische Kontext des Bürgerkriegs und der drohenden Konterrevolution beachtet werden, mit deren Kräften die Sozialrevolutionäre offen zusammengearbeitet haben. Trotzki benennt klar, dass dies nicht die Politik des Bolschewismus beschreibt, sondern einer extremen Schwächesituation geschuldet war. Es zeigt die Größe von Lenin und Trotzki als Revolutionäre, dass sie vor diesen schwierigen Entscheidungen nicht zurückgewichen sind.

Demokratische Rechte sind kein Zweck an sich. Wir verteidigen sie nicht, weil es so schön ist, wenn alle sich politisch organisieren und ihre Meinung äußern können. Wir tun das, weil wir sie für uns selbst nutzen wollen: Um die Revolution zu machen und sie danach zu verteidigen. Wenn diese Rechte aber dem politischen Gegner mehr nutzen als uns, sind wir natürlich in der Pflicht, sie wieder abzuschaffen. Das hätte Marx sicherlich genauso gesagt. 

Zur Frage der Institutionen unter Arbeiterkontrolle und der Spaltung der Arbeiterklasse: Diese wird es natürlich ohne eine selbstständig organisierte Arbeiter*innenklasse nicht geben. Davon sind wir noch weit entfernt und es ist ein langer Weg, für den wir bei kleinteiliger Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit ansetzen müssen. Es gibt in der linken Arbeiterbewegung verschiedenste Organisationen, die um Positionen ringen. In diesem Rahmen sollte natürlich jede Gruppe Propagandafreiheit haben. Letzten Endes wird die Geschichte zeigen, welche Strömung in der Arbeiterbewegung Recht hat. Die Zersplitterung, die du beschrieben hast, ist natürlich ein Ausdruck der Führungskrise der Arbeiter*innenklasse, welche sie handlungsunfähig macht. Die Krise kann nur durch Zusammenarbeit und Diskussion und ein gemeinsames Ringen um Positionen gelöst werden, in dem sich zeigt, wer die richtigen Positionen und Vorschläge hat und die richtigen Entscheidungen trifft. Wir als Gruppe ArbeiterInnen Macht (GAM) versuchen, um diese Führung zu ringen.

M: Ich finde an der Stelle Poulantzas spannend, der sich ja dieselben Fragen bezüglich der bürgerlichen Staaten des späten 20. Jahrhunderts gestellt hat. Er hat geschrieben, dass eine organisierte Arbeiter*innenbewegung, die in den verschiedenen Teilstellen des Staates säße – nicht nur in den Parlamenten, sondern auch in den Gerichten, Verwaltungen und Medien –, die Errungenschaften einer Revolution verteidigen könnte. Vermutlich wird es nicht ganz ohne Verbrechen gehen, jedoch glaube ich, dass im Falle einer kompletten Durchsetzung des Staates mit Sozialist*innen sehr viele Verbrechen vielleicht nicht notwendig werden.

MK: Ich habe große Schwierigkeiten mit dieser abstrakten Bemühung des Begriffs der Revolution. Zum Ausgangspunkt muss man machen, und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern menschheitsgeschichtlich, dass in Deutschland die Revolution der Nationalsozialismus war. Wir haben am Nationalsozialismus ein Exempel, an dem man sehen kann, dass eine Bewegung möglich ist, die in vielerlei Hinsicht das, was sich vorher als Revolution designiert hat, einlöst, und gleichzeitig alle Hoffnungen kassiert, die damit verbunden waren. Das heißt nicht, dass man den Begriff verwerfen muss, solange man sieht, in welcher Art und Weise er historisch korrumpiert wurde. Man kann über diesen Begriff nur negativ reden. Deswegen kann ich mit der Hypostasierung eines Revolutionsbegriffs, bei dem nicht klar ist, woran er eigentlich gewonnen ist, und der dann zu so einem allgemeinen Handlungskonzept aufgeblasen wird, nichts anfangen.

Streiten wir uns noch darüber, ob die Meinungsfreiheit zusehends weniger wird? Gibt es diese Entwicklung überhaupt? Gibt es Ideen, warum dieses bürgerliche Recht der Redefreiheit erodiert? Wo entwickelt sich die Gesellschaft hin, zum Totalitarismus oder nicht? Man kann sich leicht in einem Kulturkampf verfangen und fordern, dass dieses und jenes doch verboten werden sollte. Das ist vielleicht gar nicht so wichtig. Woran liegt es überhaupt, dass die Redefreiheit so in Gefahr ist? Was sind die materiellen Gründe und was kann man dagegen tun?

L: Dass, über einen längeren Zeitabschnitt betrachtet, die Möglichkeit auf freie Meinungsäußerung in Deutschland erodiert ist, sehe ich ehrlich gesagt nicht. Ich wüsste nicht, woran man das festmachen sollte, gesetzlich schon mal gar nicht. Was wir sicherlich seit zehn bis fünfzehn Jahren sehen, ist eine Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Vor allem erleben wir einen gesellschaftlichen Rechtsruck, das Spektrum des Sagbaren wird zweifelsfrei weiter nach rechts verschoben. Wohin entwickelt sich das? Der Rechtsruck ist meine größte Sorge, weil ich aktuell keine handlungsfähige, widerständige Linke in Deutschland sehe, die dagegen Antworten bietet und nicht nur sagt „Rechts ist blöd“, sondern ein eigenes politisches Programm anzubieten hat. Das Erstarken der Rechten wird sicherlich früher oder später dazu führen, dass vor allem linke Meinungen massiv bekämpft werden, dass gewaltsam von Neofaschisten dagegen vorgegangen wird. 

M: Ich würde mich dem absolut anschließen. Zudem hat sich das Diskussionsforum durch soziale Medien erweitert, wodurch wir von dieser Polarisierung mehr mitbekommen. Ich glaube, dass dieses Forum starken kapitalistischen Logiken unterliegt, und die tendieren ja sowieso gerne in Richtung Faschismus. Die werden tendenziell immer, wenn wir als Linke, als Sozialist*innen, nichts entgegensetzen, das Diskursfenster nach rechts erweitern. Das ist ein Sisyphos-Kampf, aber den haben wir Sozialist*innen schon immer geführt. Es ist einfach ein Spielfeld hinzugekommen. In unserer Debatte um Meinungsfreiheit bleibt unerwähnt, dass diese Tech-Konzerne absurde Macht haben. Darüber hätte auf diesem Podium diskutiert werden müssen. Wir als Sozialist*innen müssen dafür kämpfen, dass sich die Verhältnisse in den verschiedenen Organen der Debatte und Willensbildung in unsere Richtung verschieben, dass sich die Hegemonie verschiebt, dass wir wirklich in der Lage sind, Propaganda zu verbreiten, dass wir Menschen helfen, sich als Arbeiter bewusst zu werden, die Arbeit von Gewerkschaften erleichtern und Menschen organisieren – damit wir endlich in den Sozialismus kommen.

MK: Ich würde zustimmen, formalrechtlich hat sich wenig verändert in den letzten Jahrzehnten. Aber wichtig für die Frage, welche Bedeutung diese Rechte haben, ist die Art und Weise, wie sie ausgeübt werden. Da spielen die neuen Medien natürlich eine Rolle und überhaupt müsste man sich anschauen, welche Öffentlichkeiten sich da konstituieren, wo Leute sich miteinander streiten und zu welchem Zweck. Das hat sich sehr verändert. Auch die Subjektkonstitution derer, die diese Freiheiten für sich in Anspruch nehmen, hat sich sehr verändert. Daran muss der Begriff auch gemessen werden: Was tun die Subjekte mit diesen Rechten und diesen Freiheiten, indem sie sich ihrer bedienen? Nicht nur inhaltlich, zu welchem Zweck, sondern mit welchem Gestus ist das verbunden, mit welchen Hoffnungen, mit welchen halb bewussten oder unbewussten Zwecken? Unter diesem Aspekt sehe ich das relativ pessimistisch, weil ich den Eindruck habe, das könnte man ganz trivial an der Veränderung der medialen Inszenierung von öffentlichen Diskussionen in Talkshows zeigen, dass auf der Ebene viel regrediert ist. 

H: Mein Hauptpunkt ist, dass das, was den politischen Marxismus geleitet hat, ein Kampf für zivilgesellschaftliche Freiheit gewesen ist. Wenn ich das hier Gehörte polemisch zusammenfassen müsste, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir gerade unterschiedlichste Argumentationen dafür bekommen haben, warum nun dieses oder jenes zensiert werden müsste. Die Art und Weise, wie dieser Diskurs stattfindet, ist für mich ein Indikator für das, was eigentlich fehlt: Eine politisch unabhängig organisierte Linke, die letzten Endes auf die Geschehnisse einwirken könnte. In Abwesenheit dessen findet ein Diskurs darum statt, immer auch an den kapitalistischen Staat gerichtet, wer denn jetzt nun zu zensieren sei.

Mara, du hast als Rahmen für Meinungsfreiheit genannt, dass Rede wahr sein müsse und möglichst wenige Leute verletzen dürfe. Was heißt denn Wahrheit? Worin liegt das Gefährliche daran, wenn Menschen Dinge sagen, die unwahr sind? Wenn man ins 19. Jahrhundert schaut, als es tatsächlich eine für den Staat gefährliche Linke gab, also massenweise sozialistische, kommunistische Bewegungen, waren dies genau die Argumente, mit denen die Bismarckregierung diese Bewegungen unterdrückt hat. Was unterscheidet eure Position von staatlichen Verboten „gefährlicher“ oder „unwahrer“ Meinungen? Magnus, du würdest eine Grenze bei den gerade stattfindenden propalästinensischen Demonstrationen ziehen, da diese zum Mord aufrufen. Wäre das der Schritt, bei dem Meinungsfreiheit aufhören würde?

M: Ich würde Wahrheit erstmal mit einer gewissen Empirie gleichsetzen. Das ist in der Sozialwissenschaft schwierig. Dann würde ich sagen, es sollte möglichst wenig Schaden angerichtet werden. Während der Coronapandemie war es ziemlich gefährlich, wenn der Schaden für die Gesundheit heruntergespielt wurde. Das hat nicht der Empirie entsprochen und hat sicherlich auch zu einigen Toten geführt. Deswegen sind mir die Empirie und der Kontext so wichtig. Was wahr ist, ist natürlich auch immer eine Frage der Machtverhältnisse. Bei Bismarck war das anders als jetzt. Ich glaube, dass wir weiter daran arbeiten müssen, dass Sozialismus – und deswegen bin ich auch Sozialistin – den geringsten Schaden an der Gesellschaft anrichtet oder zumindest weniger Schaden als der Kapitalismus. Mehr Menschen sind frei im Sozialismus als im Kapitalismus.

MK: Ich bin mir unsicher, ob bei der Diskussion über Redefreiheit der Wahrheitsgehalt überhaupt so relevant ist. Aber wenn, dann würde ich sagen, dass Wahrheit etwas ist, was sich in der Diskussion entfaltet und sich im Streit bestenfalls zeigt. In der Konfrontation gegensätzlicher Meinungen zeigt sich, eben weil es nur Meinungen sind, wenn es gelingt, so etwas wie eine Annäherung an die Wahrheit. Ich würde nicht sagen, dass diese etwas ist, das empirisch gegeben ist und das abgebildet werden muss in Meinungsäußerungen. Zur Redefreiheit gehört auch die Freiheit, offensichtlich kontrafaktische Sachen, Fantasien, Wahngebilde äußern zu können. Die Frage ist, in welchem Zusammenhang das stattfindet: Ob das im Kontext einer destruktiven Massendynamik passiert und sich dann wirklich zur Hetze kristallisiert oder ob es eine Spinnerei ist. Wenn es um den Zusammenhang von Meinung und Wahn, die Förderung einer destruktiven Massendynamik durch Meinungsäußerungen geht, dann muss man überlegen, ob solche tatsächlich verboten werden müssen. Das wäre eine Grenze, die ich verteidigen würde. Das ist eine antisemitische Massenbewegung, die sich bei den propalästinensischen Demos formiert, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Ich wünsche Israel da eigentlich nur viel Glück. Wenn das begründet und nicht für eine pauschale Migrantenhetze instrumentalisiert wird, finde ich Abschiebungen und auch Verbote solcher propalästinensischen Demonstrationen richtig.

In Adornos „Meinung Wahn Gesellschaft“10 geht es sehr stark um die Verbindung zwischen Meinung und Wahn, obwohl dann die Meinung sehr stark verteidigt wird gegen ihre Reglementierung als Wahn. Es ist gewissermaßen bei Hegel angelegt, dass Meinung etwas Verdinglichtes, Vorläufiges ist, das bestenfalls zur Wahrheit führt, aber gleichzeitig etwas Schlechtes darstellt, weil es unsubstantiell ist. Irgendwie scheint mir dieser Vorbehalt gegen die Meinung etwas zu sein, das sich dann bis in die Kritische Theorie und zur Frage nach dem Antisemitismus hin sehr stark geschärft hat, der keine Meinung ist, sondern eine ganze ideologische Konstellation, die sich jedoch in Meinungen kundgeben kann. Auf der anderen Seite gibt es die angloamerikanische Tradition, die ein sehr legeres Verhältnis zur Meinung hat. Vom Spiked Magazine zum Beispiel gibt es mehrere ältere Texte, in denen sie offensiv sagen, auch Holocaustleugnung müsse als Meinung gehört werden, im Vertrauen darauf, dass der Common Sense das sozusagen kastriert. Das ist etwas, das ich nicht unbedingt für Deutschland empfehlen würde. Ich weiß nicht genau, wie ich das überhaupt finden soll, aber das ist ein sehr angloamerikanischer Begriff von Meinung, eher ein englischer noch als ein amerikanischer. In der Ideologiekritik gibt es immer stärker die Tendenz, das gesamte Denken von Personen zu verdächtigen, sobald sie irgendetwas sagen, das einem nicht in den Kram passt. Diese Tendenz des Überspringens von Meinungsäußerungen zugunsten der Vermutung einer gesamten ideologischen Konstellation erscheint mir wirklich ein Problem der Ideologiekritik in der Tradition der Kritischen Theorie zu sein, obwohl ich das in Bezug auf die Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung absolut plausibel finde. Dass sich das aber verselbstständigt hat und dazu führt, dass man sich nicht mehr damit beschäftigt, warum jemand etwas gesagt hat, halte ich für einen Schwund an politischer Urteilskraft.

H: Es ist meine ganze Pointe gewesen, dass es genau um diese Gefährlichkeit von Rede geht, derentwegen wir liberale Rechte, auch das auf Presse- und Meinungsfreiheit, brauchen. Ich habe versucht zu zeigen, dass sich dieser Gedanke bis zu Marx durchzieht und sich fortsetzt bis zu den vielleicht letzten Erinnerungen an das, was der Marxismus mal gewesen ist: Draper und Adorno. Trotz der Erfahrung des Holocaust hat Adorno das Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigt, obwohl diese impliziert, dass wahrscheinlich der Großteil der Bevölkerung wahnsinnig ist und so vermutlich auch noch die Möglichkeit bekommt, das auszuagieren. Magnus, da gibt es eine Differenz zu dem, was du heute vorgetragen hast. |P

1. Beatrice Frasl, „Was gesagt werden muss“, Wiener Zeitung (27.10.2023), online abrufbar unter: https://www.wienerzeitung.at/a/beatrice-frasl-was-gesagt-werden-muss.

2. Clemens Nachtmann, „Gehorsam ohne Befehl – Bombenlegung auf Erfahrung“, Bahamas 27 (Winter 1998), online abrufbar unter: https://redaktion-bahamas.org/hefte/27/Gehorsam-ohne-Befehl.html.

3. Vgl. Thomas Jefferson, „First Inaugural Speech, 1801“, in Inaugural Addresses of the Presidents of the United States: From George Washington 1789 to George Bush 1989 (Washington, D.C: United States Government Publishing Office, 1989), 13-17. Übers. d. Hrsg.

4. Vgl. Thomas Paine, „The Age of Reason“, in Selected Writings of Thomas Paine, hrsg. v. I. Shapiro u. Jane E. Calvert (New Haven: Yale University Press, 2014), 372. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/reference/archive/paine/works/age-reason/ch01.htm. Übers. d. Hrsg.

5. Friedrich Engels, „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei”, in Marx-Engels-Werke 16 (Berlin: Dietz Verlag, 1962), 68.

6. Ebd., 76.

7. Theodor W. Adorno, „Meinung Wahn Gesellschaft“, in Gesammelte Schriften 10, hrsg. v. R. Tiedemann (Frankfurt am Main: Rolf Tiedemann, 2003), 590.

8. Vgl. Hal Draper, „Free Speech and Political Struggle“, Independent Socialist 4 (April 1968): 12-16. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/history/etol/newspape/workerspower/is4.pdf.

9. Vgl. Leo Trotzki, „Wenn Amerika kommunistisch würde“, in I. Deutscher, G. Novack, H. Dahmer (Hrsg.), Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der Revolution (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981), 244-254. Online verfügbar unter: https://sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1934/leo-trotzki-wenn-amerika-kommunistisch-wuerde.html.

10. Vgl. Adorno, „Meinung Wahn Gesellschaft“, 573-594.