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Eine Zukunft der Menschheit „nur von unten her"

Platypus Review #25 | Mai/Juni 2023

Ein Gespräch mit Karl Wimmler über sein im Herbst 2022 erschienenes Buch Kein Spiel. Als österreichischer Linker in den 1970er-Jahren

von Andreas Wintersperger

Karl Wimmler, Jahrgang 1953, aufgewachsen in Liezen (Steiermark), studierte Germanistik und Geschichte und war in den 1970er-Jahren in linken Organisationen tätig. Er lebt in Graz als freier Autor und Mitarbeiter von CLIO (Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit). Das Interview wurde von Platypus-Mitglied Andreas Wintersperger am 12.11.2022 geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.

Andreas Wintersperger: In Ihrem kürzlich erschienen Buch Kein Spiel. Als österreichischer Linker in den 1970er-Jahren schreiben Sie, dass Sie sich 1972 – also mit 19 Jahren – an der Entstehung der Marxistischen Studentenorganisation (MSO) in Graz beteiligt haben. Was war die MSO und welche politischen Gründe haben Sie dazu bewogen, an ihrer Entstehung mitzuarbeiten?

Karl Wimmler: Die MSO war zu dem Zeitpunkt, als ich ihr Mitglied wurde, ein noch sehr diffuser Verein von Studenten und Studentinnen. Diese haben entweder mit der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) gebrochen oder kamen aus konträren linken Bestrebungen und haben sich damals mit Texten von Marx, Engels, Lenin – aber hauptsächlich Marx – beschäftigt. Zugleich gerieten wir auch bald in Opposition zur KPÖ aufgrund ihrer Haltung zur Sowjetunion. Der Glaube der KPÖ an die Sowjetunion wurde einfach nicht mehr hingenommen, insbesondere von den neu dazugestoßenen, aber auch von den arrivierteren Studenten. Ich glaube, das war der Hauptgrund. Man will sich mit der Sowjetunion nicht mehr und in keiner Weise identifizieren.

Was waren die politischen Gründe, die Sie dazu bewogen haben, an der Entstehung der Organisation mitzuwirken und sich zu beteiligen?

Ich wurde schon als Schüler links sozialisiert, und zwar sowohl antinazistisch als auch antiimperialistisch, das heißt, durch Aktivitäten gegen den Vietnamkrieg wie auch durch die in meinem Buch beschriebenen Aktivitäten gegen die neonazistische Partei. Die erste von uns organisierte Anti-Vietnamkriegs-Demonstration fand im Jänner 1973 in Graz statt. Wir waren alle sehr stolz darauf, da an die 300 Leute kamen und es somit die damals größte Demonstration in Graz und der unmittelbaren Umgebung war. Eine Demonstration war damals überhaupt etwas Ungehöriges, was nicht nur für linke Demonstrationen galt. 1970 oder 1971 gab es eine Demonstration gegen die Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsbetriebe, an der der spätere Kulturstadtrat der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Helmut Strobl, wesentlich beteiligt war und mit Linken gemeinsam verhaftet wurde.

Die Sozialisierung durch meine antinazistischen und antiimperialistischen Aktivitäten war also sicher der Hauptgrund, mich an der Entstehung der MSO zu beteiligen. Ein dritter Grund war der Widerstand gegen eine gewisse reaktionäre Grundstimmung. Gerade auf kulturellem Gebiet war es sehr leicht, die dominierende Gesellschaft, die dominierende Oberklasse zu irritieren, zu provozieren und zu verunsichern. Diese Mischung war auch ein Grund, warum man sich oppositionell orientieren wollte.

Was war die grundsätzliche Zielsetzung der MSO?

Die Zielsetzung war anfangs etwas diffus. Zunächst beschäftigt man sich als Studentenorganisation natürlich mit studentischen Dingen: Das war damals die Studienrechtsreform. Gleichzeitig ging es aber auch sofort um die Relevanz von internationalen Themen. In Graz waren damals erstens viele, die vor dem iranischen Schah-Regime geflüchtet sind und zweitens viele Griechen, die aufgrund der 1967 errichteten Diktatur nach Graz zum Studium gekommen sind. Diese Leute waren natürlich links und haben daher das ganze Spektrum der Linken erweitert, wurden aber auch teilweise von ausländerfeindlichen Kampagnen wegen ihrer politischen Haltung als Gegner der westlichen „Freunde“ des österreichischen Staates diffamiert. Das war dann zugleich eine Klammer, die uns mit ihnen verbunden hat. Die Geflüchteten waren natürlich bei den Protesten gegen den Vietnamkrieg dabei, weil sie gewusst haben, worum es geht.

Auf Hochschulboden, insbesondere an der philosophischen Fakultät, ist zu berücksichtigen, dass der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS)1 noch sehr stark war. Daher haben sich unsere Hochschulaktivitäten anfangs sehr stark mit ihnen beschäftigen müssen, da sie in allen Gremien waren und diese teilweise dominiert haben. In der Auseinandersetzung mit den Rechten, teilweise auch Faschisten, die sich mit den Burschenschaften vermischt haben, hat sich aber eben auch etwas geklärt, nämlich die Frage: Wer ist auf deren Seite und wer aufseiten der Progressiven? Hier ging es noch nicht um Marxismus, Kommunismus oder Sozialismus, sondern einfach um eine vernünftige Grundhaltung. Ich möchte das jetzt auch nicht idealisieren, aber wer 1972/73 noch nicht gewusst hat, was in Vietnam passiert, der war etwas spät dran, und das waren damals viele in Graz, nicht nur die vom RFS, sondern darüber hinaus auch die ganze konservative Clique.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Heute wird oft übersehen, dass die Abgrenzung der aus der sogenannten Neuen Linken entstandenen Organisationen von den Parteien der Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch untereinander, mit dem faktischen Verschwinden einer revolutionären Arbeiterbewegung zusammenhing. Die SPÖ hatte ihre rigiden Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Regeln, die gemeinsame Aktionen mit den ‚Kommunisten‘ welcher Art auch immer verboten, wie auch die KPÖ sich rigoros gegen sämtliche Gruppierungen abschottete, die auch nur die leiseste Kritik an der Sowjetunion und ihrer Politik äußerten oder zuließen.“2 Sie beschreiben somit auch die politische Ausgangsposition der MSO. In welchem Verhältnis stehen diese von Ihnen beschriebenen politischen Ausgangsbedingungen der MSO zu deren Ausrichtung am Maoismus und an der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh)? Welche Rolle hat das „faktische Verschwinden einer revolutionären Arbeiterbewegung” für die Orientierung an der Chinesischen Revolution oder der Kulturrevolution gespielt?

Uns – oder mir – war damals nicht bewusst, dass es eine andere, eine revolutionäre Arbeiterbewegung gegeben hat und daher wusste ich auch nicht wirklich, worin der Verlust besteht. Trotzdem wurde sichtbar, dass die Arbeiterbewegung praktisch nicht mehr existiert. Die Arbeiter waren zum großen Teil von der SPÖ unter dem sozialpartnerschaftlichen Motto “Wir schaffen das für euch, wenn ihr uns wählt, wenn ihr gut zu uns seid, wenn ihr unsere Positionen akzeptiert” organisiert, während die KPÖ in dieser Hinsicht weitestgehend marginalisiert war. Sie spielte zwar in verschiedenen Betrieben noch eine Rolle, was man damals als Student aber kaum bemerkt hat. Trotzdem kann man die Rolle, die die KPÖ in verschiedenen Betriebsräten gespielt hat, durchaus anerkennen. Im Gesellschaftlichen aber hat sie keine Rolle gespielt, abgesehen davon, dass sie durch ihre Positionen zu den Vorfällen in Ungarn und der Tschechoslowakei sowie durch ihre eigenen Spaltungen desavouiert war. Nach 1968 ist ein Drittel der Partei weggefallen und das, was übergeblieben ist, war ideologisch schwach. Wir mussten also zunächst versuchen, ganz grundsätzliche Fragen zu klären: Was war überhaupt Marxismus? Was war überhaupt Leninismus? Was war überhaupt die Russische Revolution? Wir haben John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten gelesen. Das heißt, wir haben nicht nur Marx, sondern auch gefühlsmäßig Aufbauendes, wie etwa verschiedene Romane und Erzählungen, gelesen.

Zur Orientierung an China: Es ging uns nicht um Slogans wie „Es lebe die KPCh“, sondern zunächst einmal um die Dritte Welt. Der Fokus lag auf der Frage, welche Möglichkeit es denn in den ehemaligen und immer noch kolonial regierten Ländern gäbe. Woran könnten die sich orientieren? Aus dieser Perspektive – also nicht für uns, sondern etwa für Algerien, den Kongo und Simbabwe – war die Orientierung an China wichtig. Da kümmert man sich natürlich noch nicht um irgendwelche zwielichtigen Angelegenheiten, sondern verfolgt zunächst einmal das, was sich dort tut und welche Möglichkeiten China für arme Länder anzubieten hat. Hinzugekommen ist, dass die Chinesen damals, wegen der Kulturrevolution, sehr aktiv waren als Verbreiter der Weltrevolution. Ich war ein einziges Mal – ich schätze ungefähr 1974 – in der chinesischen Botschaft in Wien auf einen Tee. Man ist dort ohne Weiteres hineingekommen als x-beliebiger österreichischer Staatsbürger. Man hat sich dort einfach hinbegeben können und ist freundlich empfangen worden. Gleichzeitig hat es dort auch Literatur gegeben: Marx-, Engels-, Lenin- und Mao-Ausgaben.

Aufständische Rotgardisten marschieren in Shanghai, 1967

Ein anderer Aspekt der Orientierung an China hatte damit zu tun, dass wir nach Deutschland geschaut haben, welche Entwicklungen es dort gab. Nachdem Deutschland einfach größer war und mehr ökonomische Möglichkeiten hatte als Österreich, hatten auch die deutschen Linken eine andere Ausstrahlung. Eine dieser Entwicklungen in Deutschland, die wir beobachtet hatten, war die aus ähnlichen Ansatzpunkten wie bei uns entstehenden Organisationen, die man später dann immer als „K-Gruppen“ bezeichnet hat. Man darf auch nicht vergessen, dass das kleine, aber doch berühmte Standardwerk von Peter Gäng und Jürgen Horlemann über Vietnam,3 erschienen bei Suhrkamp – das erste fundierte „West“-Buch über Vietnam – in der ganzen Linken durchgereicht wurde. Einer dieser beiden Autoren, Horlemann, war dann Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (Aufbauorganisation) in Berlin, also der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands. So haben sich andere dann eben auch in diese Richtung entwickelt beziehungsweise sich im Weltmaßstab für China und gegen die Sowjetunion positioniert. Aus meiner Sicht ist es außerdem sehr wichtig festzuhalten, dass es damals ungleich mehr Befreiungsbewegungen in verschiedenen neokolonialen Ländern als heute gab, die alle links oder national-links ausgerichtet waren. Das hat eben auch auf Länder wie Österreich, Deutschland oder Frankreich ausgestrahlt.

Was konnte man von der Chinesischen Revolution für den Kampf um Sozialismus eben auch in Österreich lernen? Was konnte man mitnehmen? Was war inspirierend?

Was man lernen konnte, kann ich Ihnen nicht beantworten, aber was inspirierend war, schon. Nämlich: Die Sowjetunion war ein starres Gebilde, das international dubios agierte, teilweise auch herrisch, wie man aus Osteuropa wusste, jedenfalls nicht umwälzend, gar revolutionär wirkte. China hingegen war erstens gegen diesen sowjetischen Weg und dazu kam noch die Ausstrahlung der Kulturrevolution. Man hat damals auch relativ wenig gewusst. Einen wesentlichen Aspekt dieser Ausstrahlung machte aus, dass die Partei eben nicht sakrosankt sei, oder dass Intellektuelle manuelle Arbeit verrichten sollen, um sich nicht nur im Wolkenkuckucksheim oder im Elfenbeinturm der Wissenschaft einzuigeln. Somit war das schon eine wesentliche Ausstrahlung, die aus China kam, die ich ja nach wie vor nicht abwegig finde. In der DDR musste man zum Beispiel nach der Schule oft vor dem Studium auch irgendetwas Manuelles machen, was damals nicht so beliebt war, aber das ist auch kein Geheimnis. Das Prinzip selbst aber war durchaus anziehend. Es ist klar, dass dadurch anderes, was sich im Nachhinein als absurd herausgestellt hat, überstrahlt wurde. Aber dass man auf manche Dinge kommt, die nicht so sind, wie sie scheinen, ist im Leben grundsätzlich so.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ging es um die Abgrenzung zur Sowjetunion, um die Möglichkeit, „radikale Kritik“ an der Partei zu äußern und auch darum, die Trennung zwischen Arbeitern und Intellektuellen als solche in Frage zu stellen und zu überwinden?

Nicht nur die Trennung zwischen Arbeitern und Intellektuellen, sondern auch zwischen Stadt und Land. Natürlich war damit viel an Illusion verbunden, aber man sollte das durchaus in Beziehung setzen zu dem, was nach den Schriften von Marx und Engels die Zukunft des Sozialismus betrifft, nämlich, dass – wie es dann bei Lenin heißt – die Köchin regieren können muss, und natürlich dann auch der Bauer, der am Land ist, sich betätigen können muss. Dieser Gedanke hat hier eine große Rolle gespielt.

Wie beurteilen Sie diese damals inspirierenden Aspekte mit Blick auf das heutige China? Wie stehen für Sie diese inspirierenden Momente in Verbindung zur aktuellen Führung der KPCh? Ist es ein Fortschritt? Eine Niederlage?

Mit den Kategorien Fortschritt und Niederlage kann ich in diesem Zusammenhang wenig anfangen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich dieses Staatswesen China heute charakterisieren soll. Natürlich ist dort viel Kapitalismus vorhanden. Auch nationalistische und imperiale Ansprüche zeigen sich in mancher Hinsicht. Zugleich spielt aber meiner Ansicht nach die vergleichsweise beachtliche Rücksichtnahme auf soziale Verhältnisse eine große Rolle. Natürlich kann man die Lebensumstände chinesischer Wanderarbeiter kritisieren, aber man muss das damit vergleichen, wie sie vor 50 Jahren gelebt haben und wie es Wanderarbeitern zum Beispiel in Indien geht. Ein anderes Beispiel ist die Gesundheitsversorgung: Die ist etwa im Vergleich zu Indien oder Indonesien außergewöhnlich gut, aber grundsätzlich ist mein Eindruck des heutigen Chinas sehr widersprüchlich.

Wir haben vorher über die politischen Ausgangsbedingungen der Linken der 70er-Jahre in Österreich, konkret von der MSO gesprochen. Über deren intellektuelle Ausgangsbedingungen schreiben Sie: „Praktisch sämtliche Debatten früherer Jahrzehnte, die der Anwendung, Kritik oder Weiterentwicklung der marxistischen Theorie galten, waren unterbrochen oder Geheimwissen. Die untergegangenen Schriften aus den 1930er Jahren von Walter Benjamin, Karl Korsch und August Wittfogel, aber auch von innerparteilichen oder parteinahen Auseinandersetzungen, erschienen erst wieder nach und nach in einer dafür ziemlich eng gewordenen Öffentlichkeit der 1970er Jahre, aber eben nicht als aktuelle Debattenbeiträge, sondern als historische Belege für ein spezielles Publikum.“4 Was erschien Ihnen in den 70er-Jahren wichtig an diesen Debatten, die sozusagen nur mehr als Geheimwissen für ein – wie Sie schreiben – „spezielles Publikum“ langsam wieder in Erscheinung getreten sind?

Zunächst möchte ich anmerken, dass der Faschismus bzw. der Nationalsozialismus bis in die 70er-Jahre über marginale Kreise hinaus theoretisch nicht thematisiert wurde, praktisch schon gar nicht. Das ist eine Spezialität von Deutschland, Österreich und Italien, spielt aber auch in Frankreich eine Rolle in Bezug auf die Kollaboration mit den Nazis, die neben der Glorifizierung der Résistance untergegangen ist. Diese mangelnde Durchdringung dessen, was der Faschismus war, bis in die 70er-Jahre, ist zentral, denn dadurch hat man nicht bemerkt, dass die Leistungen der Arbeiterbewegung eigentlich durch den Faschismus und Nationalsozialismus – auch intellektuell – zerstört worden sind. Auch mir ist das erst viel später wirklich bewusst geworden. Wenn man sich ansieht, was vor dem Jahr 1933 in Österreich auf sozialdemokratischer Seite an kulturellen Leistungen vorhanden war, wie die Arbeiter etwa in Gesundheitswesen, Wissenschaft oder die Arbeiterkulturbewegung einbezogen wurden, realisiert man, dass heute rein gar nichts davon übergeblieben ist. Nichtsdestotrotz, die österreichische Nachkriegssozialdemokratie war erstens bis auf ein paar linke Feigenblätter politisch rechts und zweitens über weite Strecken antisemitisch, aber das Bedeutsame meiner Ansicht nach ist, dass es eine Arbeiterbewegung gab, die zerstört wurde. Natürlich ist das Intellektuelle, das damit verbunden ist, auch bedeutsam, aber nur weil es diese Arbeiterbewegung heute nicht mehr gibt. Die drei Namen Benjamin, Korsch und Wittfogel habe ich eher willkürlich gewählt. Man hätte andere auch nehmen können. Ich persönlich hatte am ehesten Zugang zu Benjamin gehabt, habe aber auch Wittfogel über die Sowjetunion und die asiatische Produktionsweise gelesen. Grundsätzlich wurden diese Autoren aber von einer breiteren linken Öffentlichkeit nicht rezipiert. Aus meiner Sicht ist es auch sehr schwierig, als junger Mensch aktiv irgendwo einwirken zu wollen und sich gleichzeitig um ein theoretisches Fundament zu kümmern. Daraus haben sich für mich sicher auch Probleme ergeben: Man hat einfach manchmal die Lektüre beiseitegeschoben und Betriebsflugblätter geschrieben oder umgekehrt.

Es gibt in Ihrem Buch eine auffällige Leerstelle in Bezug auf den Trotzkismus im Österreich der 70er-Jahre. 1972 wurde die trotzkistische Gruppe Revolutionäre Marxisten aus den Marxistisch Leninistischen Studenten (MLS), – also dem Wiener Pendant zur MSO – ausgeschlossen. Es gibt eine Sondernummer der Hochschulzeitung der MSO von 1973 zum Thema „Marxismus oder Trotzkismus“, in welcher sich zum Beispiel der Artikel „Wie die Trotzkisten die revolutionäre Arbeiterbewegung sabotieren“ finden lässt. Wie dachten Sie über den Trotzkismus jener Zeit und worin bestand Ihre Kritik an ihm?

Ich habe mich mit den Trotzkisten und dem Trotzkismus immer nur am Rande beschäftigt, aber schon in den 1960er-Jahren Ernest Mandel gelesen. Den von Ihnen erwähnten Artikel aus der Kommunistischen Hochschulzeitung der MSO von 1973, ein Text aus Wien, wenn ich mich richtig erinnere, kann ich Ihnen wie folgt erklären: Die Gruppe Revolutionäre Marxisten wurde von den MLS im Prinzip aus demselben Grund ausgeschlossen, aus dem wir von der KPÖ separiert wurden, die Haltung zu China. Wir haben uns von der KPÖ auch aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber China getrennt, diese Haltung wurde von den Trotzkisten geteilt, weshalb sie schließlich von der MLS in Wien ausgeschlossen wurden. Kaum sind die Trotzkisten in Wien ausgeschlossen worden, traten Wiener Mitglieder der MLS an uns heran und warnten uns vor den Trotzkisten. Und schon kam der erste Trotzkist – nämlich Raimund Löw5 – nach Graz zu einem Vortrag und versuchte dort wortreich, aus meiner heutigen Sicht – aus meiner damaligen Sicht auch – phraseologisch mit revolutionärem Gestus bis zum Kotzen zu agitieren. In meiner Einschätzung der Trotzkisten habe ich mich mehr von meinen Gefühlen leiten lassen und ich teile diese Gefühle bis heute. Erst gestern habe ich im Newsletter der Wochenzeitung Falter einen Beitrag von eben diesem Raimund Löw über die „tolle“ Demokratie in den USA gelesen, die gerade gesiegt hat, weil sie sich bei den Midterms als „wehrhaft“ erwiesen habe. Dabei hatte ich dasselbe Gefühl in Bezug auf den Trotzkismus von Raimund Löw wie vor 50 Jahren, als er bei seinem Auftritt in Graz war. Ich weiß aber, dass das gegenüber anderen damaligen Trotzkisten auch ungerecht sein mag. Als vor 6 Jahren mit Johann Schögler einer der wichtigsten Grazer Trotzkisten starb, habe ich einen meiner Ansicht nach respektablen Nachruf auf ihn geschrieben und in einer Literaturzeitschrift und einem Buch veröffentlicht. Johann Schögler war in der für mich entscheidenden Zeit – ab Mitte der 70er-Jahre – in Frankreich und wurde dort bei einer Demonstration so schwer verletzt, dass er mehrere Wochen lang um sein Augenlicht bangen musste und schließlich in Handschellen von Paris nach Österreich abgeschoben wurde. Ich hatte demnach sehr wohl vor manchen Trotzkisten auch damals schon persönlichen Respekt und auch heute, aber ich habe im Trotzkismus nie etwas für mich Greifbares gefunden außer Kritik. Viele ihrer Kritiken hatten durchaus etwas für sich, aber es ist in der aktiven Politik einfach schwierig, wenn ich in jeder Bewegung, die es auf der Welt gibt, immer die Opposition forcieren muss. Zum Beispiel beschreibe ich in meinem Buch, dass manche mit dem Begriff „Dritte Welt“ Probleme hatten, weil sie nur zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Welt unterschieden haben – das waren unter anderem die Trotzkisten. Außerdem waren mir die Trotzkisten in Bezug auf die Einschätzung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt nicht geheuer, weil sie den Sozialismus in den unterentwickeltsten Ländern suchen wollten, wo überhaupt keine Voraussetzungen dafür gegeben waren. Das war mein vorsichtiger Einwand.

Inwiefern hat sich denn die Position der MSO von trotzkistischen Positionen in Bezug auf Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ unterschieden?

Wir haben diese Bewegungen meist fast kritiklos unterstützt, und zwar nicht, weil wir blind waren, sondern weil diese Befreiungsbewegungen einfach in Opposition zu allem gestanden haben, was hier verbreitet worden ist. Diese Stimmung hier war ja etwas völlig Reaktionäres. Es gab damals nur nächstenliebende Christen oder Linke, die für ärmere Länder eingetreten sind. Wobei man auch die Christen nicht unterschätzen darf, da gibt es durchaus revolutionäre oder hat es gegeben. Deswegen beziehe ich solche linke Christen ein, die ebenfalls als Überbleibsel der revolutionären Arbeiterbewegung gelten können.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann besteht die Unterscheidung darin, dass die MSO grundsätzlich Befreiungsbewegungen und antikoloniale Kämpfe in der „Dritten Welt“ unterstützt hat, aber im Unterschied zu trotzkistischen Gruppen per se noch kein Potenzial für den Aufbau des Sozialismus damit verbunden hat?

Richtig.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist auch die KPÖ beinahe zerfallen. Anfang der 90er-Jahre gab es innerhalb der KPÖ nicht nur Diskussionen über eine Namensänderung, sondern auch über eine mögliche Auflösung beziehungsweise völlige Perspektivenänderung der Kommunistischen Partei. Heute stellt die KPÖ in Graz, in Ihrer Heimatstadt, seit September 2021 die Bürgermeisterin. Wie schätzen Sie die heutige Situation der KPÖ, insbesondere auch diesen Wahlerfolg ein? In welchem Zusammenhang steht er mit der Geschichte der KPÖ? Welches Potenzial, wenn überhaupt, würden Sie darin sehen?

Der Aufstieg der KPÖ in Graz begann erst nach dem Ende der Sowjetunion. Nicht unbedeutend war die Rolle von Ernest Kaltenegger, der wesentlich an diesem Aufstieg beteiligt war. Ernest Kaltenegger war schon lange vor dem Zerfall der Sowjetunion der einzige KP-Gemeinderat in Graz. Er war Nachfolger des Widerstandskämpfers Ferdinand Kosmus. Mit Kaltenegger hat etwas angefangen, was dann mit der Idee bedeutsam geworden ist, dass KPÖ-Mandatare den Teil ihres Gehalts, welches ein passables Durchschnittsgehalt übersteigt, für wohltätige Zwecke verwenden. Eine zweite dafür wichtige Person nach dem Ende der Sowjetunion war Franz Stephan Parteder, der im Hintergrund viel an Grundsätzlichem vertreten und koordiniert hat. Er ist meiner Ansicht nach richtigerweise davon ausgegangen, dass man nicht Wolkenkuckucksheime in dieser Situation errichten kann, sondern ein paar wesentliche Dinge immer wieder sagen und sich um diese kümmern muss. Und in keiner anderen Partei gibt es eine Abwesenheit von finanziellen Skandalen. Im Gegensatz dazu gab es in der KPÖ Graz nie finanzielle Skandale. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, wie auf Dauer Vertrauen erworben wird. Man kann sagen – und ich habe das auch lange vertreten –, dass der Name der Partei nicht so günstig ist. Inzwischen glaube ich aber, dass es gut ist, dass der Name beibehalten wurde, denn sie machen zwar keine kommunistische Politik im Sinne des revolutionären Kommunismus, aber man kann sich zumindest im Hintergrund darauf berufen, dass das irgendwann notwendig und möglich wäre. Ich schätze die KPÖ-Politik derzeit in Graz im Unterschied zur nicht mehr sozialdemokratischen SPÖ als durchaus sozialdemokratisch ein. Die Bürgermeisterin und auch die verschiedenen Mandatare sagen, dass sie für die kleinen Leute, für die Arbeiter und Angestellten da sind, haben aber zugleich auch keine schlechten Kontakte zu manchen Unternehmen. Diese primitive frühere Haltung, die in den 50er- und 60er-Jahren auch in der Sozialdemokratie üblich war, nach der man jeden Unternehmer als Feind betrachtet, ist nicht mehr da. Die KPÖ hat zum Beispiel in ihrer Stadtzeitung seit Jahren immer wieder Porträts von Kleinunternehmen und Kleinunternehmern. Der Eigentümer einer Werkstatt oder eines Geschäfts ist nicht der Kapitalist. Das ist richtig aus meiner Sicht. Man muss sich gegen Konzerne, Großkapital, Industrie positionieren. Natürlich ist das auch eine Gratwanderung. Es hat sich zum Beispiel seit mehr als einem Jahr erwiesen, dass alle Versuche der medialen und politischen Gegner, die KPÖ durch Bezüge auf Stalin oder Che Guevara zu diskreditieren, nichts bringen. Das glaubt ihnen niemand mehr. Elke Kahr6 antwortet darauf immer: „Ja, aber das hat nichts mit mir zu tun.“

Hat sie damit recht?

Jein. Wieso sollte sie sich als Grazer Stadtchefin medial mit irgendwelchen Geschichten aus der Vergangenheit auseinandersetzen, wenn die gegnerischen Parteien das mit ihrer eigenen Vergangenheit auch nicht tun. Alfred Hrdlicka hat vor 30 oder 40 Jahren im Fernsehen gefragt, warum sich die Leute so über Stalin aufregen. Erstens hätte Stalin Österreich befreit und zweitens regten wir uns auch nicht darüber auf, was die Christen alles angestellt haben.

Beschäftigung mit der Vergangenheit heißt ja nicht nur, dass man sich die Legitimation erwirbt, die Vergangenheit zu denunzieren. Die Frage zielt eher darauf ab, welche Bedeutung das Erbe hat, das man antritt. In welchem historischen Zusammenhang steht man, wenn man sich bewusst dafür entscheidet, den Namen und die Organisation der drittältesten Kommunistischen Partei der Welt, der KPÖ, weiterzuführen?

Mit der Frage rennen Sie bei mir offene Türen ein. Ich kritisiere an der KPÖ gerade auch in Graz, dass sie sich vor allem nicht ausreichend theoretisch mit der eigenen Geschichte beschäftigt. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist für mich überhaupt von allem anderen abgesehen etwas ganz Grundlegendes. Und zwar nicht nur die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, sondern auch damit, was die verschiedenen Mächte in der Vergangenheit alles angestellt haben. Wenn man sich nur darauf verlässt, was man in der Zeitung liest und im Fernsehen sieht, dann ist man verkauft.

Was hat denn die Linke, wenn überhaupt, aus den Erfahrungen der 70er-Jahre gelernt? Was hätte sie Ihrer Ansicht nach lernen sollen?

Ich glaube, sie hat nichts gelernt. Aber was ist überhaupt „die Linke“? – ein meist ausgefranster Begriff. Wir sollten von Vertreterinnen und Vertretern des Sozialismus (oder Kommunismus) reden. In dem Zusammenhang möchte ich noch etwas ansprechen, das mir wichtig ist: Die KPÖ hat gegen den Nationalsozialismus eine herausragende Rolle gespielt und hat viele wesentliche Kader verloren. Sie hat während der Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus eine gute Politik für die demokratische Republik entwickelt und war schließlich Mitbegründerin der Zweiten Republik. Ernst Fischer, der bedeutendste österreichische Kommunist, über den ich in einem anderen Zusammenhang geschrieben habe, war von 1934 bis 1945 in Moskau. Was sich aber in den Jahren danach ausgewirkt hat, ist, dass sich die KPÖ zwar immer als die antifaschistische Partei betrachtet und dies auch bei den anderen Parteien eingeklagt hat, den Antifaschismus aber nicht richtig fortsetzen konnte, denn das Antikapitalistische ist dabei ziemlich untergegangen. Zumindest spätestens nach dem Oktoberstreik 1950. Es gab einen Widerspruch zwischen Antifaschismus und Antikapitalismus, der sich in der KPÖ manifestiert hat. Vielleicht ist Widerspruch auch nicht das richtige Wort, vielleicht ein Nebeneinander. Es fand jedenfalls eine Einengung ihrer Politik auf Antifaschismus statt, was mit dem Ausschleifen des Begreifens, was denn Kapitalismus überhaupt sei, einherging. Das scheint mir ein Problem zu sein. Ich will damit nicht sagen, dass ich dieses Problem durchdrungen hätte, ich bilde mir nur ein, es zu erkennen. Wie man es auflösen könnte, weiß ich nicht.

Ich kann mich gut erinnern, dass es in den 1970er-Jahren mehr Leute gegeben hat, die sich hauptsächlich theoretisch mit dem Marxismus beschäftigt haben. Ich habe das immer akademischen Marxismus genannt. Ich habe diese Leute eigentlich immer ein bisschen verachtet, weil sie immer mit dem Anspruch des Besserwisserischen auf alle heruntergeschaut haben, die – natürlich habe ich mich da auch betroffen gefühlt – etwas Praktisches versucht haben. Wenn man sich, was ich selbstverständlich für wichtig halte, mit marxistischer Theorie beschäftigt, muss dies im Sinne des Brecht-Zitats passieren, das sich verkürzt auch in meinem Buch findet:

In den folgenden Jahren der Weimarer Republik waren es die Schriften der Klassiker des Sozialismus, die durch den großen Oktober neu belebt worden waren, und die Berichte von Ihrem kühnen Aufbau einer neuen Gesellschaft, die mich diesen Idealen verpflichteten und mit Wissen versahen. Die wichtigste der Lehren bestand darin, daß eine Zukunft für die Menschheit nur „von unten her“, vom Standpunkt der Unterdrückten und Ausgebeuteten aus, sichtbar wurde. Nur mit ihnen kämpfend, kämpfte man für die Menschheit.7

Das finde ich bei aller Beschäftigung mit Theorie zentral. In diesem Sinne hat mir auch mein Bruder, der Jahrzehnte lang parteiloser Betriebsrat in einem Betrieb mit mehreren tausend Arbeitern und Angestellten war, nachdem er mein Buch gelesen hat, folgende Antwort geschrieben, aus der ich kurz zitieren möchte:

Die Bedeutung der damals organisierten Schulungen – oder „Theoriearbeit“ – darf durchaus höher eingeschätzt werden, als du es ohnehin tust: Gründliches „Kapital-Studium“, aber auch der Texte zu Strategie, Taktik oder „Aktionseinheit“ haben zumindest meine Arbeit als Betriebsrat danach vier Jahrzehnte lang nicht nur geprägt, sondern auch den Boden dafür bereitet, diese Arbeit auch möglichst konsequent, aber auch gelassen zu tun, ohne bei den vielen Niederlagen in Depressionen zu verfallen. Einfach, weil wir die „Bewegungsgesetze“ gelernt haben und auf dieser Basis recht schnell wussten, was falsch gelaufen war und was daher zu tun (und zu vermitteln) ist. Auch heute noch würde ich jedem in der Arbeitswelt Tätigen – Betriebsräten und Gewerkschaftern sowieso – empfehlen, einen derart intensiven „Kapital“-Kurs zu machen, wie wir ihn in Göstling an der Ybbs – quasi in Selbstschulung – absolvierten. Betriebsratsarbeit und Gewerkschaftsarbeit war und ist in erster Linie Bildungsarbeit […].

|P


1. Eine FPÖ-nahe Studentenorganisation an österreichischen Hochschulen.

2. Karl Wimmler: Kein Spiel. Als österreichischer Linker in den 1970er-Jahren. Wien 2022, S. 48.

3. Peter Gäng und Jürgen Horleman: Vietnam. Genesis eines Konflikts. Berlin 1967.

4. Wimmler: Kein Spiel. Als österreichischer Linker in den 1970er Jahren, S. 83–84.

5. Raimund Löw ist Auslandskorrespondent des ORF und schreibt für die Wochenzeitung Falter.

6. Elke Kahr ist KPÖ-Mitglied und Bürgermeisterin der Stadt Graz.

7. Bertolt Brecht: Rede anlässlich der Verleihung des Stalin-Preises „Für Frieden und Verständigung zwischen den Völkern“. Moskau 1955. Online abrufbar unter: https://sascha313.wordpress.com/2017/07/13/bertolt-brecht-mit-dank-fuer-eine-friedensgabe/