Psychoanalyse und Marxismus
von Stefan Hain und Andreas Wintersperger
Die Platypus Review #22 | November/Dezember 2022
Teil I
Da Platypus ein Projekt ist, das sich vorwiegend mit der Frage nach Marxismus und der Linken beschäftigt, liegen Fragen nahe: Was ist Psychoanalyse? Weshalb sollte sich die Linke für sie interessieren? Was ist ihr geschichtlicher Zusammenhang?
Die Psychologie als eigenständige Disziplin entstand im 19. Jahrhundert. Sie beschäftigte sich mit den physikalischen und biologischen Grundlagen der psychologischen Apperzeption, „des Eintretens der Bewusstseinsinhalte in das Aufmerksamkeitsfeld“, aber auch in Form der „Völkerpsychologie“ mit geteilten Grundlagen kultureller Gruppen.
Freud hingegen war der Erste, der eine naturwissenschaftliche Konzeption des Unbewussten lieferte; ein Begriff, der vorher der Kunst und Philosophie vorbehalten war. Freud kam im Verlaufe seiner medizinischen Arbeit zur Erkenntnis, dass die Seele keineswegs immateriell und ihrem Wesen nach unabhängig vom Leib sei. Ihn interessierte, wie Freiheit und Subjektivität in ihrer konkreten Form erzeugt und verhindert wurden durch eine seelische Spaltung, die durch den Menschen gehe. Die Psyche ist für Freud die Verbindung von Körper und Geist. Ihr liegen zwei basale Triebkräfte zugrunde: Eros, der Leben zusammenschließen, erweitern und zu höheren Komplexitäten führen soll. Demgegenüber (beim späten Freud) Thanatos, der Todestrieb, der Leben als Endliches feststellt.
Diese beiden Urtriebe stellen für Freud Realabstraktionen dar, die nie in freier Form vorliegen. Die Triebe waren für Freud die psychischen Repräsentanten der biologischen Natur des Menschen: aus dieser hervorgehend, aber auch über diese hinausgehend. Psychologie und Bewusstsein, so Freud, seien weder durch Biologie noch durch Philosophie lückenlos zu erklären. Die Psyche selbst sei ein Vermitteltes.
Freuds Wissenschaft vom Unbewussten war somit bewusst anders ausgerichtet als beispielsweise die psychologische Verhaltensforschung von Iwan Pawlow: Freud wollte bewusst eine Naturwissenschaft des Menschen als modernem Individuum formulieren. Er hoffte, die Grundlagen des Bewusstseins in Mythen, Kunst und Alltagsphänomenen aufspüren zu können, wohingegen Pawlows bevorzugte Forschungsgegenstände Drüsen, Nerven und Reflexe waren. Freud wollte in seinen Werken mehr als eine Therapie, mehr als eine weitere klinische Anwendung oder medizinische Theorie formulieren. Er sah seine Theorie, nach denen Kopernikus’ und Darwins, als „dritte große Kränkung der Menschheit“: den wissenschaftlichen Beleg, dass „der Mensch nicht Herr im eigenen Hause“ sei. Freud begriff seine Theorie, ohne sie als solche beabsichtigt zu haben, als die letzte radikale bürgerliche Selbstkritik. Radikal, denn sie ging an die Wurzel: Sexualität als Quelle des Lebens und zwischenmenschlicher Beziehungen. Freud formulierte, wie Chris Cutrone einmal sagte, keine sexuelle Theorie der Neurosen, sondern eine neurotische Theorie der Sexualität. Freud fasst die Grundlage der Gesellschaft ins Auge: Die Grundlage aller bisherigen Gesellschaft war die Einschränkung und Unterdrückung der Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder. Freud denaturalisiert Grundlagen bürgerlicher Gesellschaft: Der Status quo ist nicht der natürliche Idealzustand des Menschen, sondern das Produkt von Kultur, Phylogenese und Ontogenese. Das Konzept des selbstbestimmten bürgerlichen Subjekts ist, soweit es Teil der Unterdrückungsgeschichte des Menschen ist, Oberflächenphänomen. Diese Oberfläche sei nicht falsch, aber sie sei nicht das Wesentliche am Menschen und seiner Kultur. Das „Unbehagen in der Kultur” ist für Freud rational begründet, ein Symptom uranfänglicher Unterdrückung. Die menschliche Seele sträubt sich mit den Energien einer rasenden Bestie gegen ihre gesellschaftlich für notwendig erklärte Unterdrückung.
Das führt laut Freud zum Zerfall der Seele, der Ausbildung eines psychischen Apparats mit widerstreitenden Anteilen: dem Es, Repräsentant der Triebe, dem Über-Ich, der Verinnerlichung kultureller Ge- und Verbote; und zuletzt in der traurigen Mitte dem Ich, dessen Aufgabe es ist, zwischen den beiden Tyrannen und den heteronomen Anforderungen der Außenwelt zu vermitteln. Freud präsentierte diese Instanzen als wesentlich unharmonisch, aber auch als Produkte der Geschichte. In ihrer momentanen Form versprachen sie keine absolute Freiheit, kein garantiertes Glück, keine Auflösung des Widerspruchs. Darin kann man einen tiefen philosophischen Pessimismus erkennen; oder eine Parallele zu Marx‘ und Engels‘ Kritik der Geschichte, in der Freiheit im Kern immer die Herrschaft über Menschen bedeutete.
Hoffnung für die Triebschicksale lag für Freud und später für Marcuse im Charakter der erwähnten Triebe: sie seien „polymorph-pervers“, vielgestaltig abweichend. Ihre Natur sei, dass sie in Ziel und Form nicht fixiert seien. Die Grundlage für die seltsamsten und schmerzhaftesten Abweichungen der menschlichen Seele stellten in ihrem Wesen auch das Potential für die Veränderung schlechter Normen dar. Freud wie Marx erkannten, dass in der Katastrophe der Menschheit Splitter ihrer Befreiung verborgen lagen.
Das Zusammentreffen von naturwissenschaftlicher Genauigkeit und kulturellem Verständnis Freuds machte die Psychoanalyse innerhalb kürzester Zeit zu einem gesellschaftlichen Instrument völlig ungeahnter Kontroll- und Organisationsmöglichkeiten. Freud selbst erkannte nicht ohne Schrecken, was es bedeutete, dass Gesellschaft sich im Kapitalismus immer weiter zentralisierte und konzentrierte: Die Organisation der Soldaten im Ersten Weltkrieg verwies ihn nicht nur erstmalig auf das Konzept des Todestriebs, sondern auch auf die Frage, welche seelischen Mechanismen der Massenbildung zugrunde lagen. Freud erkannte in der autoritätssüchtigen Massenform des Kapitalismus das natürlich-unnatürliche Pendant der neurotischen Vereinzelung der Individuen. Über die Frage nach Massen und Politik begann Ende der 1920er-Jahre die vielleicht interessanteste Annäherung von Psychoanalyse und Marxismus. Doch zuerst ein Schritt zurück.

Französische Soldaten harren während des 1. Weltkriegs in Granattrichtern aus (circa 1917).
Der russische Revolutionsführer Leo Trotzki lernte die Psychoanalyse in Wien durch einen engen Mitarbeiter kennen, der bei Alfred Adler in Behandlung war. Der Sozialist Adler, ein ehemaliger Freud-Schüler, der sich nicht als solcher begriff, hatte seit ca. 1911 begonnen eine eigene „Individualpsychologie“ zu entwickeln. Vielleicht war er der erste „Revisionist“ der Psychoanalyse.
Ironischerweise postulierte Adler gegen Freud einen primären „Aggressionstrieb“. In Freuds späterer Entdeckung des Thanatos sah Adler seine Theorie bestätigt, während Freud darauf bestand, sein Todestrieb sei etwas qualitativ anderes: Aggression sei ein sekundäres Phänomen. Freud stand dem Sozialismus, wenn auch nicht ablehnend, so doch skeptisch gegenüber. Adler war durch seine Frau Raissa mit revolutionärer russischer Politik in Kontakt gekommen und kannte die Schriften Trotzkis, bevor Trotzki ihn kannte. Adler wird uns später wieder begegnen.
Trotzki selbst sah in der Psychoanalyse nicht nur einen der fortgeschrittensten Bereiche menschlicher Kultur und menschlicher Produktivkraft: Er dachte auch, dass Marxismus und Psychoanalyse mehr verbinde, als Marxisten vielleicht gewillt seien, zuzugeben. Isaac Deutscher schreibt in seiner Biographie Trotzkis, dieser habe bis zu seiner Ermordung „psychoanalytische Probleme tief und systematisch studiert“. 1927, drei Monate bevor er unter Stalins Führung aus dem Zentralkomitee der KPdSU ausgeschlossen wurde, schrieb Trotzki in Kultur und Sozialismus (1927) über die kulturelle Bedeutung bspw. der Psychologie. Pawlows Reflexlehre verfahre nach der Methode des dialektischen Materialismus, zeige, wie sich aus Reflexen Bewusstsein bilde. Schritt für Schritt verfahre Pawlow experimentell und gewissenhaft. Trotzki fährt fort:
Die Schule des Wiener Psychoanalytikers Freud verfährt auf andere Weise. Sie nimmt von vornherein an, daß die Triebkraft der komplexesten und sublimsten psychischen Prozesse ein physiologisches Bedürfnis ist. In diesem allgemeinen Sinn ist sie materialistisch, läßt man die Frage beiseite, ob hier nicht dem sexuellen Faktor auf Kosten anderer zu viel Gewicht eingeräumt wird, denn das ist bereits ein Streit innerhalb der Grenzen des Materialismus. Aber der Psychoanalytiker geht an die Probleme des Bewußtseins nicht experimentell heran, indem er von den niedrigsten Erscheinungen zu den höchsten fortschreitet, vom einfachen Reflex zum komplexen Reflex, sondern indem er die Zwischenstufen in einem Satz von oben nach unten zu überspringen sucht, vom religiösen Mythos, dem lyrischen Gedicht oder den Träumen direkt zur physiologischen Grundlage der Psyche. […] Die Idealisten sagen uns, die Psyche sei eine selbständige Wesenheit, die Seele, ein Brunnen ohne Boden. Pawlow wie Freud meinen, der Boden der Seele sei die Physiologie. Aber Pawlow steigt wie ein Taucher auf den Grund hinab und erforscht den Brunnen sorgsam von unten bis oben, Freud steht über dem Brunnen und sucht mit scharfem Blick die ständig bewegte, unruhige Wasseroberfläche zu durchdringen und die Gestalt der Dinge, die darunter liegen, zu erkennen oder zu erraten. Pawlows Methode ist das Experiment, Freuds Methode die Konjektur, manchmal die phantastische Vermutung. Der Versuch, die Psychoanalyse für unvereinbar mit dem Marxismus zu erklären und den Freudismus einfach zu ignorieren, ist allzu einfach, genauer: einfältig. Wir sind ja nicht gezwungen, den Freudismus zu akzeptieren. Es handelt sich dabei um eine Arbeitshypothese, die im Rahmen der materialistischen Psychologie Deduktionen und Konjekturen ermöglicht. Durch Experimente wird man zu gegebener Zeit diese Vermutungen auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen. Wir haben keinen Grund und kein Recht, das psychoanalytische Verfahren mit einem Bann zu belegen. Auch wenn es weniger sicher ist, versucht es doch, die Schlußfolgerungen vorwegzunehmen, zu denen die experimentelle Psychologie nur sehr langsam vorstößt.1
Im selben Monat als Trotzki Kultur und Sozialismus veröffentlichte, wurde der damals 30-jährige Freud-Schüler Wilhelm Reich durch die Wiener Julirevolte politisiert, bei der 84 Arbeiter erschossen und 600 verletzt wurden. 1928 schloss Reich, dessen Spezialgebiet die Sexualkunde war, sich der Kommunistischen Partei Österreichs an. Victor Cova hat neulich ein Platypus-Teach-In zu Reichs Kritik des Faschismus gehalten, das ich allen Zuhörenden empfehlen möchte. Daraus entborgt sei eine kurze Zusammenfassung des Versuchs von Reich, Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden:
Es war die Desintegration der marxistischen Parteiform seit 1914, welche es für Reich möglich wie auch notwendig machte, auf Freudianische Konzepte zu vertrauen. Allem voran, um die autoritäre Charakterstruktur der Arbeiter zu verstehen, welche erst zu jener Desintegration geführt hatte. Allerdings sollten die Freudianischen Konzepte zu einer echten Wiederentdeckung des orthodoxen Marxismus führen, nicht diesen durch eine heterogene Theorie ersetzen oder ergänzen.2
Dabei war Reichs wissenschaftliches Objekt, die Sexualität der Individuen und die Subjektivität der Massen, keineswegs frei gewählt. Es war die Krise und Desintegration der marxistischen Parteiform, die in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt hatte. Doch nach dem Krieg verschwanden die Massen nicht. Sie waren zu einer neuen sozialen Form geworden. Während diesem Phänomen in der Sowjetunion mit einer Kollektivierung begegnet wurde, musste die Lösung in den offen kapitalistischen Ländern anders aussehen. Das passende Instrument fand sich in der Psychoanalyse Freuds.
In seiner Dokumentationsreihe The Century of the Self lässt der Filmemacher Adam Curtis Freuds Neffen Edward Bernays zu Wort kommen. Bernays, der mit Woodrow Wilson als psychologischer Berater nach dem Krieg in Europa war, fand Anfang der 1920er eine ungeahnte Nische für die Analyse: als theoretische Grundlage für die Vermarktung von Luxusartikeln. Werbung sollte nicht mehr darauf zielen, ein Produkt zu bewerben, sondern das Gefühl, das der Erwerb der Ware versprach, oft Freiheit und Freizügigkeit. Schon bald begriff Bernays, dass, was mit materiellen Produkten, auch mit Ideen möglich sein müsse: Werbung als Propaganda. Bernays Rationale war so einfach wie genial: „Wenn man Propaganda für Krieg benutzen kann, kann man das bestimmt auch für Frieden.“

Edward Bernays (3. von links) bei der Eröffnung einer Verkaufsstelle für „Liberty Bonds“, die als Kriegsanleihen während des 1. Weltkriegs in den USA verkauft wurden, in New York am 5. Juni 1917.
Bernays war ein demokratisches Vorspiel der totalitären Katastrophe: Noch bevor Goebbels und andere Faschisten sich die Grundlagen der Analyse in ihrer Propaganda zunutze machten, war Bernays in einem demokratischen Rahmen auf diese Idee gekommen, die er „the engineering of consent“ nannte. Es sind Tendenzen dessen, was Herbert Marcuse 1955 in Triebstruktur und Gesellschaft benannte: „Unsere Epoche neigt dazu, totalitär zu sein, selbst dort, wo sie keine totalitären Staaten hervorgebracht hat.“
Bernays’ Tochter Ann sagt in der Dokumentation:
Für meinen Vater war Demokratie ein wunderbares Konzept, aber ich denke nicht, dass er das Gefühl hatte, dass das Volk ein verlässliches Urteil habe; und dass es sehr schnell den falschen Mann wählen oder die falsche Sache wollen könnte und deshalb geführt werden müsste.
Freud selbst begann sich zu fragen, was es bedeutete und worin genau die Bewegkräfte lagen, dass die moderne Massengesellschaft das Individuum scheinbar einfach aufsauge. Seine Massenpsychologie entwuchs aus der Kritik zeitgenössischer Konzepte durch die triebbasierte psychische Struktur der Individuen. In geradezu dialektischer Weise erklärt Freud 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse, dass Menschen in Massen zielgerichtet, wenn auch nur halb-bewusst Teile ihrer Individualität ablegten, getrieben von libidinösen Forderungen, die innerhalb des Individuums selbst nicht bewältigt werden können. Die organisierte Masse ist kein spontanes Naturphänomen, sondern eine gesellschaftlich produzierte, halb-bewusste soziale Form, die Bedürfnisse der zutiefst leidenden und unfreien Individuen zu befriedigen. Die Masse der Individuen gibt ihre Individualität an einen Führer ab, eine Idee oder einen Menschen. Freud nutzt als Beispiele für organisierte Massen Heer und Kirche. Die Masse geht ineinander auf und wird eins für ein imaginiertes Anderes: Eine Figur, die weiß, was passiert und was zu tun ist. Alles, was sie verlangt, ist Hingabe an das gemeinsame Prinzip. Diese erlöst kurzfristig die Spannungen innerer, autoritätsgetriebener Triebkonflikte, lässt das Individuum zu etwas anderem werden, ohne dass es sich dafür wesentlich ändern müsste. Massenpsychologie ist Ich-Psychologie.
Für junge Intellektuelle, die in den 1920ern zum Marxismus stießen, war die Welt eine andere als für Trotzki, einen Radikalen der Vor-Weltkriegs-Sozialdemokratie. Ihre Welt war zutiefst geformt vom Scheitern der Weltrevolution und der Zersplitterung der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien. Die Massen waren konstitutiv und unumkehrbar ins Wesen der Gesellschaft übergegangen. Wenn Psychoanalyse nicht der Revolution dienen würde, dann würde sie der Konterrevolution dienen.
1930 zog Wilhelm Reich von Wien nach Berlin, wo er sich der KPD anschloss. Dort weilte bereits ein anderer junger Psychologe aus Wien: Manès Sperber, der sein Abitur in Wien abgebrochen hatte, um Alfred Adlers persönlicher Assistent zu werden. Sperber, acht Jahre jünger als Reich, war als Jugendlicher im „Roten Wien“ anpolitisiert und von Adler als Botschafter der Individualpsychologie 1927 nach Berlin geschickt worden, wo er noch im selben Jahr in die KPD eintrat. Mit Adlers Tochter Valentina, die bereits 1921 in die Partei eingetreten war, arbeitete er in der Ortsgruppe für Individualpsychologie. Anders als Reich, der am „orthodox“-freudianischen Institut für Psychoanalyse in marxistischen Arbeitskreisen mit u.a. Karen Horney und Erich Fromm engagiert war, war Sperber noch immer überzeugter Anhänger der Theorien Adlers. Sperber unterrichtete in der Marxistischen Arbeiterschule und wollte eine marxistische Individualpsychologie formulieren, die „Menschen in ihrem Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühl stärken, und den Menschen aus seinen sozialen Beziehungen, nicht dem Triebschicksal erfassen soll – das Morgen beachten, nicht das Gestern“. Die beiden Psychologen, die Nachbarn in Wilmersdorf sind, derselben Partei angehören und dasselbe politische Ziel teilen, gehen Wege, die sie für unvereinbar halten. Die stalinistische Tragödie wird sie wieder vereinen: als Abweichler und Abtrünnige. Denn die folgenden Jahre bedeuten den Tod der Psychoanalyse innerhalb der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Parteien.
Während des Aufstiegs des Nationalsozialismus wird Reich als „Pornograph“ aus der KPD ausgeschlossen – nicht zuletzt da Reichs Theorien zur Orgasmusstörung in den Massen der Partei auf wenig Verständnis stoßen. Sperber bricht über die Frage der Revolution mit Adler. Reich schreibt Trotzki aus seinem Exil Briefe, doch die beiden Männer treffen sich nie. Im Laufe seines Lebens zieht Reich sich mehr und mehr in esoterische Sexualtheorien zurück. Am Ende seiner Flucht vor dem Faschismus in den USA angekommen, wird Reich dort vom FBI verfolgt, seine Bücher werden verbrannt und er verstirbt inhaftiert im Jahre 1957.
Sperber wird, wie Adlers Tochter Valentina, Agent der Komintern. Sein tausendseitiger Roman Wie eine Träne im Ozean erzählt von den Schrecken des Stalinismus, an denen Sperber selbst beteiligt war. 1937, im Zuge der Schauprozesse, in denen die letzten überlebenden Teilnehmer der Oktoberrevolution physisch und sozial liquidiert werden, bricht er für immer mit dem offiziellen Kommunismus. Nicht zuletzt wegen der Freundschaft ihrer Familie zu Trotzki fallen auch Valentina Adler und ihr Mann den „Säuberungen“ der Partei zum Opfer und sterben in Internierungslagern. Sperbers – noch immer linker – Antikommunismus wurde später noch einmal populär mit den Helden der Neuen Linken nach ihrem „langen Marsch durch die Institutionen“: Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Wolf Biermann waren fasziniert von diesem Abweichler. Dass Sperber die Neue Linke vornehmlich als verwöhnt, abenteurerisch und unpolitisch ansah, störte sie dabei wenig.
Was bedeutete es, dass die Partei nicht willens oder in der Lage war, die Arbeit ihrer jungen Führer zu nutzen, um den Nationalsozialismus zu verhindern? Und wo sollte Theorie produziert werden können, wenn nicht in der Partei? Diese Fragen führten 1923/24 zur Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. 1930 stieß der bereits erwähnte Erich Fromm zum Institut. Unter der Leitung Max Horkheimers brachte Fromm als erster psychoanalytisch geprägte Theorien über Charakterologie, Sozialpsychologie und Autorität in die Arbeiten des Instituts ein. Anders als Wilhelm Reich legte Fromm wenig Emphase auf Sexualität. Noch 1930 fand seine Arbeit, so Reich, „weder an die sexualökonomischen Fragen noch an die aktuelle Politik Anschluss. Fromm akzeptierte in einem ausführlichen Gespräch, das wir bald hatten, meine sexualpolitische Deutung. Es leuchtete ihm ein, dass einzig die sexuelle Energie zur Aufhellung massenpsychologischer Dynamik hinreichte.“3
Was Fromm von Reichs psychoanalytischem Marxismus lernte, bleibt so unklar wie die Geschichte selbst,
deren wahres Bild „vorbeihuscht“. Rückblickend fragte sich Reich, wie Fromm
es zuwege brachte, in seinen Publikationen über Autorität und Familie, Angst vor Freiheit etc. das Sexualleben der Menschenmassen und seine Beziehung zur Freiheitsangst und Autoritätssucht komplett zu unterschlagen. Ich habe dieses Vorgehen nie begreifen können, da ich an der grundsätzlich ehrlichen Einstellung Fromms zu zweifeln keinen Grund hatte. Aber die Sexualverneinung im sozialen und persönlichen Leben spielt manchen Trick aus, der rationalem Begreifen unzugänglich ist.4
Die von Reich angesprochenen Punkte benannten das Zentrale der Kritik, die Theodor Adorno an der Arbeit seines Kollegen Fromm formulierte: „Er macht es sich mit dem Begriff der Autorität zu leicht, ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen“, schrieb er 1936 in einem Brief an Horkheimer. Vorausgegangen war Fromms Kritik, Freud behandle seine Patienten nicht mit genügend Liebe. Es brauche eine ethische und humanistische Psychoanalyse, um die kooperative, friedliebende und gesunde Natur des Menschen voll zum Vorschein zu bringen. Adorno sah hierin die Gefahr, dass die Psychoanalyse ihrer tiefsten Kraftquellen beraubt werde: der Sexualität, die in Form der Triebtheorie den kritischen Kern der Psychoanalyse bilde. Denn alleine durch sie werde der Widerspruch ausgedrückt, der im Ursprung menschlicher Subjektivität liegt: Die Freiheiten der Gesellschaft erwachsen aus der Beschränkung der (sexuellen) Freiheit der Einzelnen. Mensch zu sein hieß von Beginn der Zivilisation an Menschliches an sich und anderen verdrängen und tabuisieren zu müssen. Wie Reich sorgte Adorno sich, dass Fromm Autorität nur verdammte, nicht aber erkannte, wie tief sie in Freiheit selbst verstrickt war. Diese Frage war keine philosophische: an ihr hingen all die zentralen Fragen der Politik, die Lenin und Trotzki radikal zu verwirklichen suchten. War es doch der Weltkrieg, der selbstzerstörerische Verrat der marxistischen Sozialdemokratie gewesen, in dem Lenin, Trotzki und ihre Genossin Luxemburg die letzte Chance für eine proletarische, sozialistische Revolution gesehen hatten. Wie sollte der Marxismus, dessen politischer Kern die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse war, damit umgehen, dass diese Massen sich kampflos in Knechtschaft und Vernichtung führen ließen? Diese Fragen fanden in psychoanalytischer Terminologie Einzug in Adornos Werke, am prominentesten wahrscheinlich in den Studien zum Autoritären Charakter und in der Dialektik der Aufklärung.
Der Widerspruch, der in Freuds orthodoxer Psychoanalyse und im orthodoxen Marxismus bewussten Ausdruck gefunden hatte, war für Adorno „in der Welt“. Nur wenn die Unfreiheit und Barbarei der Zivilisation voll betrachtet würden, könnten sie in Freiheit umschlagen. Dieser Widerspruch sei keine Propaganda, sondern real. Der Widerspruch sei nur zu überwinden, wenn er ausgehalten werden könne, nicht aber, wenn man versuche, ihn zu überspringen. Lenin und Freud müssten in ihrer vollen Ambivalenz angenommen werden, nicht angepasst werden durch Abstumpfung. Das galt Adorno auch für das Verhältnis von Psychoanalyse und Marxismus selbst: Sollte das Spannungsverhältnis der beiden Theorien fortbestehen, müsste dieses aus ihrer Nichtidenität erwachsen. Sie zu einer Synthese zwingen zu wollen, ihre Unterschiede zu liquidieren, war für Adorno eine erpresste Versöhnung: „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibung“, schrieb er in den Minima Moralia. Fromm und das Institut trennten sich Ende der 30er-Jahre schleichend.
Mitte der 1950er erlebte die Psychoanalyse eine bemerkenswerte gesellschaftliche Akzeptanz in den USA. Psychoanalyse fand Einzug in Frauenzeitschriften, in Persönlichkeitsratgeber und Hollywood-Filme. Garry Grand hatte sich, bevor er seine Individualität mit LSD erkundete, einer Analyse unterzogen. Eine Krise der Verhaltenspsychologie gab der Psychoanalyse zusätzlichen Aufwind als Grundlage für die Konzepte klinischer Psychotherapie. Während Fromm vermehrt theologisch anmutende Selbsthilfebücher schrieb, wurde Karen Horney neben Melanie Klein, ihrer Weggefährtin aus Berliner Zeiten, zu einer der führenden Figuren der Psychoanalytikerinnen, die mit Freud gebrochen hatten. Wie auch seine ehemalige Kollegin und ehemalige Partnerin Karen Horney suchte Fromm nach einer liebevollen und stärker auf die sozialen Umstände fokussierten Form der Psychoanalyse. Dabei formulierten sie Konzepte, die eine starke Ähnlichkeit zu den Ideen der sozialdemokratischen Individualpsychologie Adlers aufwiesen. Die Triebe, die Libido und der Ödipus-Komplex waren verschwunden, das Über-Ich begriffen als pathologische Ausnahme, nicht als Norm. Seiner Natur nach sei der Mensch gesund, fidel und ganz bei sich. Lediglich die sozialen Einflüsse von außen störten ein nach innen eigentlich funktionales Ich. Dies bedeutete für Adorno nicht weniger als die „Revision“ der Psychoanalyse – eine Anspielung auf den Revisionsmusstreit innerhalb der II. Internationale. Wie dort die marxistische Theorie der politischen Krise des Kapitalismus aus Marx verschwinden sollte, sollte es hier die Sexualität tun. Die Problematik des Widerspruchs wurde wahlweise psychologisch ins Individuum verschoben, wie bei Klein, oder soziologisch in die Gesellschaft, wie bei Horney und Fromm. Beiden Extremen ist eigen, dass sie eine Spannung zwischen Subjekt und Objekt einseitig auflösen, die bei Freud und Marx nicht aufgelöst wird, laut ihnen theoretisch nicht aufgelöst werden kann. Es dennoch zu versuchen, tut Theorie, Menschen und der Wirklichkeit selbst Gewalt an, so Adorno.
In der revidierten Psychoanalyse wurde das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft theoretisch schlicht durchtrennt. Sie standen sich gegenüber als unvermittelte Antipoden. Die vielleicht wichtigste Lehre, die Adorno dem Marxismus – und seinem Scheitern – entnahm, war: Wenn Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Menschheit und Geschichte, Proletariat und Kapitalismus, Partei und Klasse wirklich zusammengehören, so tun sie dies nur in ihrer Nichtidentität. Denn damit eines das andere ändern kann, damit beide sich gegenseitig ändern können, müssen sie Unterschiedene aber dennoch Verbundene sein, nicht ontologisch als Getrennte verewigt werden. Diese Denkfigur findet sich in den Theorien Freuds, aber in keiner der psychoanalytischen Revisionisten. Sie re-naturalisierten die Psyche. Was Menschen vor Jahrhunderten als gottgegeben oder als „natürlich“ erschienen war, war von Freud ins Licht der Aufklärung gezogen worden. Adorno, der erkannte, dass Psychoanalyse selbst Massenbetrug geworden war, schloss sich auf seine eigene Weise Freuds Diktum an: „Wo Es war, soll Ich werden.“ In diesem Satz erkannte Adorno ein letztes Ferment von Hoffnung: Wo einzig anti-kapitalistisches Unbehagen herrsche, könne und müsse, theoretisch, wieder Bewusstsein entstehen. Klassenbewusstsein, das Bewusstsein der Geschichte der Menschheit wäre.
Teil II
In den 50er- und 60er-Jahren setzt sich der Prozess der Integration der Psychoanalyse in größerem gesellschaftlichem Maßstab weiter fort. So genannte „focus groups“, in denen stichprobenartig bestimmte Zielgruppen von Konsumenten eingeladen werden, um zu den jeweiligen Produkten frei zu assoziieren, sind vor allem in der amerikanischen Massenproduktion von Konsumgütern weit verbreitet.5 Erkenntnisse über die libidinöse Triebstruktur der Massen dienen der Werbung von öffentlicher sowie privater Seite zu gezielteren Manipulations- und Kontrollstrategien. Auch innerhalb der psychoanalytischen Praxis selbst beginnen die sogenannten Neo-Freudianer den schmalen Grat zwischen analytischer Therapie zum Zweck der Besserung des Individuums durch eine Stärkung des Realitätsprinzips des Ich einerseits und zum Zweck der Anpassung an die schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit andererseits immer mehr zu verwischen.6

Werbung für die Zigarettenmarke „Lucky Strike“, 1936.
Während der Psychoanalyse in ihren Anfängen, dem späten 19. Jahrhundert, vom bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb zunächst heftiger Widerstand entgegnet wurde, erfährt sie also insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine unerhörte gesellschaftliche Verbreitung – nicht ohne dafür den Preis zu bezahlen. Adorno kritisiert zu Beginn der 50er-Jahre die Neo-Freudianer und ihre „revidierte“ Psychoanalyse. Wo Freud, wie alle radikalen bürgerlichen Denker, die von ihm theoretisierten Widersprüche von Bewusstsein und Unbewusstem, Individuum und Gesellschaft, Ich und Es unaufgelöst stehen lässt, wird die Psychoanalyse in den Händen der Revision schleichend zum Mittel der Integration seelischer Regungen in den gesellschaftlichen Status quo, zur Anpassung statt Emanzipation.7
Zunächst möchte ich über einen anderen Kritiker der revisionistischen Freud-Schule sprechen, der im Vergleich zu Adorno auf die Linke der folgenden Jahrzehnte womöglich den stärkeren Einfluss hatte: den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan.
Mit der Krise des Stalinismus und dem Entstehen der so genannten Neuen Linken in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre wächst auch das Interesse vieler Linker an psychoanalytischer Theorie. Mit dem Zerfall und der Degeneration radikaler Studentenverbände wie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund oder den Students for a Democratic Society in Amerika am Ende der 60er erreicht dieses Interesse an der Psychoanalyse schließlich einen neuen Höhepunkt – genauer gesagt das Interesse an einer bestimmten Interpretation der Psychoanalyse – der Jacques Lacans.8 Obwohl Lacan seine Theorien weder bestimmten linken Bewegungen zugeordnet wissen wollte noch explizite politische Ansprüche stellte, prägten diese zahlreiche „linke“ politische TheoretikerInnen der auf ihn folgenden Jahrzehnte – von Louis Althusser, Alain Badiou, Cornelius Castoriadis über Ernesto Laclau bis hin zu Slavoj Zizek. Der Politologe und Professor für politische Theorie und Diskursanalyse Yannis Stavrakakis spricht hier von der „Lacanschen Linken“.9 Was ist also das Ausschlaggebende, das so viele und unterschiedliche Denker-Innen auf der Linken aus den Theorien Lacans fruchtbar machen möchten? Theorien, die als Deutung der Freud-schen Psychoanalyse, wie gesagt, ihrem Selbstverständnis nach keinerlei Anspruch darauf hegen, einer wie auch immer gearteten linken Politik zugeordnet zu werden? Handelt es sich bei der Lacanschen Linken tatsächlich um eine „Repolitisierung“ der in der Mitte der Gesellschaft angekommenen Psychoanalyse? Um diese Fragen zu adressieren, ist es notwendig, zunächst ein paar Grundideen Lacans genauer zu betrachten.
Eines der wesentlichsten und weitverbreitetsten Motive Lacans ist, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei.10 Lacan baut damit auf Grundannahmen des Strukturalismus auf, einer intellektuellen Strömung, die in den 60er- und 70er-Jahren ihren Höhepunkt feierte. Eine Grundannahme des Strukturalismus bildet die Idee, dass sich Objekte nie als Alleinstehende verstehen lassen, sondern nur durch ihre Stellung und Verbindung zu anderen, in einem Ganzen, einem System, einer Struktur. Die Erkenntnis eines Objekts wird demnach erst ermöglicht durch die Erkenntnis seiner Bedeutung als Zeichen einer bestimmten Struktur. Als grundlegendes Paradigma hierfür dient die Sprache. Sprache, verstanden als System von Zeichen oder Symbolen, wird für den Strukturalismus zum fundamentalen Modell zur Erklärung der Wirklichkeit.
Lacan nun radikalisiert diese Grundannahmen des Strukturalismus, in dem er davon ausgeht, dass das Ganze, das System, die Struktur, aus welcher sich die jeweilige Bedeutung des Zeichens erst ergeben kann, selbst unabgeschlossen ist. Sprache kann also niemals ein abgeschlossenes System, einen in sich geschlossenen Bedeutungszusammenhang bilden, sondern ist geprägt von einem Mangel.11 Sprache als Struktur, als bedeutungsstiftendes Ensemble bleibt unabgeschlossen. Somit trifft die Bedeutung der Symbole auch nie vollends das, was eigentlich symbolisiert wird. Für Lacan ist die Spaltung des Seelenlebens in Bewusstsein und Unbewusstes geprägt von einer fundamentalen Nichtidentität zwischen den sozialen Symbolen, den geschaffenen Bedeutungszeichen unserer Wirklichkeit und dieser Wirklichkeit selbst, welche Lacan das „Reale“ nennt. Mehr noch ist diese Lücke zwischen Signifikanten, dem Bezeichnenden, und Signifikat, dem zu Bezeichnenden, konstitutiv. Das Finden von Sprache, das Erlernen eines Wortes für etwas ist demnach gleichzeitig das Erlernen der Unfähigkeit; Unfähigkeit, das, wofür das Wort steht, tatsächlich zu fassen. Der Ursprung des Unbewussten liegt also laut Lacan im Erlernen von Sprache. Die entwicklungspsychologische Ich-Werdung des Subjekts – also die Entwicklung der Persönlichkeit des Säuglings und Kleinkinds – ist somit eine notwendige Entfremdung, die unvermeidbare Spaltung des Seelenlebens in einen bewussten und einen unbewussten Teil. Sprache dient hier als ein Coping-Mechanismus, um mit dem Eindringen des Vaters in die Mutter-Kind-Beziehung umzugehen.12 Das heißt, sie dient immer schon hauptsächlich der Invokation der Abwesenheit einer libidinös besetzten Person. Es stellt sich nun die Frage, ob für Lacan die notwendig entfremdende Dimension von Sprache mit der gesellschaftlichen Organisation der Kernfamilie zu tun hat, als Ausdruck des Ödipuskomplexes oder vielmehr unabhängig von gesellschaftlichen Faktoren einfach das So-Sein des menschlichen Seelenlebens, unveränderliche Natur beschreibt.
Die wesentliche Grundannahme ist, dass das Objekt des Begehrens immer schon verloren ist, das Immer-schon-verloren-Sein des Objekts des Begehrens ist vielmehr konstitutiv, das heißt liegt an der Wurzel- menschlichen Schaffens, an der Wurzel menschlicher Triebkraft selbst. Wir bekommen nie das, was uns versprochen wurde, was wir vom anderen erwarten, können es gar nicht bekommen. Diese hypostasierte Unmöglichkeit hält unser Verlangen, menschliches Tun sowie Geschichte per se am Leben.13 Hierin steckt Lacans Ontologisierung der „Natur“ des Begehrens – das heißt die Festschreibung des So-und-nicht-anders-Seins des Wesens der unbewussten Triebstruktur des Menschen.
Für Freud hingegen waren die Symptome, in denen sich die in erster Linie unbewussten Wünsche und Regungen ausdrücken (Träume, die sogenannten Fehlleistungen oder Neurosen) Teil einer Ökonomie. Das heißt Verdrängung oder Symptome im Allgemeinen sind stets der Ausdruck eines Versuchs der Zensur zu folgen und ihr gleichzeitig zu entkommen.14 Diese Dynamik einer ökonomischen Triebauffassung bietet Raum, jenen Zensor als durch Gesellschaft vermittelt zu begreifen. Demnach ließe sich das, was Inhalt meines Bewusstseins werden darf, in ein anderes Verhältnis zum gesellschaftlich Erlaubten und in weitestgehender Form ihrer materiellen Organisation setzen, und nicht als im Vorhinein festgelegte Natur – eben als Ontologie. Was das nun für die Frage von gesellschaftlichem Fortschritt bedeutet, beantwortet Lacan relativ eindeutig: „There is no such thing as progress. Everything one gains on one side, one loses on the other”.15
Das Spannungsverhältnis – die Nichtidentität von Subjekt und Objekt – wird bei Lacan zu einer unüberwindbaren negativen Ontologie ohne Sinn für das und Verbindung zu dem, was sein sollte.
Wie steht es nun um die so genannte Lacansche Linke?

Ausgaben der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie.
Ich möchte hier ein paar wenige Worte zu Cornelius Castoriadis sagen. Castoriadis war Mitbegründer der Gruppe und gleichnamigen Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, welche große Relevanz für die Neue Linke vor allem in Frankreich besaß. Gleichzeitig war er einer der ersten bekannteren linken Theoretiker, der sich bereits Anfang der 60er-Jahr mit Lacan beschäftigte. Obwohl Castoriadis schließlich mit Teilen der Lacanschen Psychoanalyse bricht, sind sie sich in ihren Grundannahmen sehr ähnlich. Beide gehen davon aus, dass nicht bloß unsere Realität, sondern auch das Subjekt selbst – oder die grundsätzlichen Kategorien, in denen ich mich selbst wahrnehme – gesellschaftlich konstruiert sind. Dieser gesellschaftlich konstruierten Sphäre von Bedeutung steht eine vorsoziale Natur gegenüber, die die gesellschaftliche Fähigkeit, Bedeutung zu generieren, begrenzt und ihr Widerstand bietet. Es handelt sich dabei um etwas, das außerhalb des grundlegenden Diskurses steht, durch den das, was wir Wirklichkeit nennen, gebildet wird. Die Ähnlichkeit zu dem, was bei Lacan die Unterscheidung zwischen Realität und dem Realen heißt, ist unverkennbar. Auch die Art der Interaktion dieser zwei unterschiedlichen Sphären ist so gut wie identisch. Die sozial konstruierte Wirklichkeit und das Reale oder die vorsoziale Natur sind nicht ineinander übersetzbar, es gibt eine unüberwindbare Kluft zwischen ihnen. Zwar ziehen beide Denker andere Schlussfolgerungen aus dieser Ansicht, aber ihr ontologischer Apparat ist derselbe.
Für Slavoj Zizek, einen der heute wohl populärsten Kapitalismuskritiker, ist eben jene negative Ontologie der Lacanschen Psychoanalyse ein unersetzbarer Baustein. Die Möglichkeit einer radikalen Neuordnung des Symbolischen, das heißt der politisch-sozialen Einrichtung der gesamten Gesellschaft, entsteht nach Zizek durch einen „authentischen Akt“. Dieser Akt wird dann möglich, wenn es zur Intervention des Realen kommt.16 Das Reale nach Lacan bildet jene vom Symbolischen verschiedene Sphäre, welche das Unaussprechliche, das Unbewusste repräsentiert. Das heißt das, was eigentlich mittels Sprache ausgedrückt werden soll, kann eben dadurch niemals ganz in ihr aufgehen. Vorausgesetzt bleibt aber die von Lacan übernommene Vorstellung von der schließlich unüberwindbaren Kluft zwischen der Ordnung des Symbolischen und dem Realen. Wir müssen das Reale sozusagen als Preis opfern, um Zugang zur symbolischen Ordnung, das heißt zur sozial konstruierten Wirklichkeit zu erlangen.
Es stellt sich die Frage, wieso gerade die Deutung der Psychoanalyse Lacans, welcher sich selbst niemals zur Linken geschweige denn zum Marxismus zählen wollte, so viele DenkerInnen der Linken seiner Zeit und in den darauffolgenden Jahrzehnten beeinflusste. Woher kommt der ihnen zu Grunde liegende Versuch einer Politisierung der Lacanschen Deutung der Psychoanalyse, die selbst keinerlei ernsthafte Anstalten machte, politisch sein zu wollen? Woher die unbedingte Nutzbarmachung des Lacanschen Subjekts als konstitutiv mangelhaftes für die Veränderung von Gesellschaft?
Vielleicht ist Lacans Deutung der Versuch einer Antwort auf ein grundsätzlicheres Problem für Psychoanalyse in der spätkapitalistischen verwalteten Welt: die Depersonalisierung der Urbilder, die die Entwicklung des Über-Ichs lenken.17 Herbert Marcuse beschreibt dies in Triebstruktur und Gesellschaft Mitte der 50er-Jahre wie folgt:
Früher wurde das Über-Ich vom Meister, vom Chef, vom Prinzipal „genährt“. Sie repräsentierten in ihrer greifbaren Persönlichkeit das Realitätsprinzip: barsch und wohlwollend, grausam und belohnend, provozierten und bestraften sie den Wunsch nach Auflehnung; die Erzwingung des vorgeschriebenen Verhaltens, der Anpassung, war ihre persönliche Aufgabe und Verantwortung. […] Aber diese persönlichen Vater-Bilder sind allmählich hinter den Institutionen verschwunden; mit der Rationalisierung des Produktionsapparats, mit der Vervielfachung der Funktion nimmt alle Herrschaft die Form der Verwaltung an. […] Der sadistische Prinzipal, der kapitalistische Ausbeuter sind zu gehaltbeziehenden Mitgliedern einer Bürokratie geworden, und ihre Untergebenen begegnen ihnen als Mitglieder einer anderen Bürokratie. Der Schmerz, die Versagung, die Machtlosigkeit des Einzelnen stammen jetzt von einem höchst produktiven und erfolgreich funktionierenden System her, in dem dieser Einzelne einen besseren Lebensunterhalt verdient als je zuvor. Die Verantwortung für die Organisation seines Lebens liegt beim Ganzen, beim „System“, bei der Gesamtsumme der Institutionen, die seine Bedürfnisse bestimmen, befriedigen und lenken.18

Montagewerk der Bell Aircraft Corporation in Wheatfield (New York), aufgenommen in den 1940er-Jahren.
Man sieht: Der Schritt zur Umdeutung dieses von Marcuse beschriebenen Systems hin zur Lacanschen negativen Ontologie ist vielleicht kein allzu großer. Seinem Wesen nach geht er allerdings ums Ganze.
Ich möchte am Ende noch einmal auf Lacan zurückkommen. Dieser schreibt:
“Why couldn’t the family, society itself, be creations built from repression? They’re nothing less.” […] The unconscious ex-sists, is motivated by the structure, by language, and in that sense repression and the superego (logically) pre-exist their crystallisation in “discontents (symptom) in civilization”. […] For this reason, to attribute the lack of (total) enjoyment to “bad societal arrangements” can only be described as foolish.19
Lacan geht also explizit davon aus, dass die eigentliche Unterdrückungsinstanz logisch den von ihr in der jeweiligen Einrichtung der Gesellschaft produzierten Symptomen vorhergeht, mehr noch, völlig unabhängig von gesellschaftlicher Ordnung existiert. Damit wird die von Freud beschriebene unbewusste Dynamik des menschlichen Trieblebens als Ausdruck der Verquick-ung von Individuum und Gesellschaft bei Lacan zu einer außerhalb der Gesellschaft liegenden Ontologie, zu einer Lehre des Seins beziehungsweise Nicht-Seins.
Dem gegenüberzustellen sei abschließend ein bemerkenswertes Zitat von Freud selbst aus seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse:
Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken. Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot.20
Man beachte: Eben jene ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot – die Entwicklung von Kultur als beständige Verweigerung der vollen Bedürfnisbefriedigung – ist nach Freud im letzten Grunde ein ökonomisches Problem, und nicht Ausfluss einer sprachlich konstruierten Wirklichkeit. Obwohl schließlich auch Freud dachte, dass Kultur ohne Unterdrückung per se nicht möglich sei, „verteidigte Freud die tabuierten Strebungen der Menschheit, deren Umfang und Tiefe er sichtbar macht: den Anspruch auf einen Zustand, in dem Freiheit und Notwendigkeit übereinstimmen“.21 Für Adorno, die Frankfurter Schule und die besten Marxisten vor ihm war der grundsätzliche historische Rahmen dieses Problems von Freiheit jener des Problems des Kapitals.22 Jene von Freud aufgedeckten Widersprüche innerhalb des Seelenlebens der bürgerlichen Individuen erscheinen demnach als untrennbar verbunden mit und gebunden an die historisch-marxistische Auffassung des Kapitalismus: als Krise und Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft per se. Eine Gesellschaft, die „in ihrer senil irren Gestalt in einer Phase [sich befindet], da die Verfügung über fremde Arbeit andauert, während die Menschheit, um sich zu erhalten, ihrer nicht mehr bedürfte“.23 Heute stehen wir vor dem Erbe eben jener besiegten und restlos gescheiterten Tradition, deren kritischer Kern den Kampf um eine neue Gesellschaft ausmachte, in der ihre Individuen zum ersten Mal sie selbst sein könnten.24 Die Linke ist tot, lang lebe die
Linke! | P
Der vorliegende Text wurde als Teach-In im Rahmen der zweiten deutschsprachigen Platypus-Konferenz am 22. Januar 2021 vorgetragen. Das Teach-In einschließlich der darauffolgenden Diskussion kann hier angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=sNsU1xVWEsQ. Eine Übersetzung des Textes findet sich in der englischsprachigen Platypus Review #148 (Juli/August 2022): https://platypus1917.org/2022/07/03/psychoanalysis-and-marxism/.
1 Leo Trotzki: „Kultur und Sozialismus“, Das neue Russland Nr. 3/4 und Nr. 5/6 (Jg. 4, Mai/Juli 1927).
2 Victor Cova: „On the Marxist use of psychoanalysis to understand fascism”, Platypus Review Nr. 140 (Oktober 2021), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2021/10/01/on-the-marxist-use-of-psychoanalysis-to-un-derstand-fascism/.
3 Wilhelm Reich: Menschen im Staat. Frankfurt a. M. 1982.
4 Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Köln 1971, S. 221.
5 Adam Curtis: The Century of the Self – Part 3 (2002): “There is a Policeman Inside All Our Heads; He Must Be Destroyed”. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ub2LB2MaGoM&ab_chan-nel=JustAdamCurtis.
6 Vgl. Chris Cutrone: „Adorno and Freud”, Platypus Review Nr. 24 (Juni 2010), online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2010/06/10/adorno-and-freud/.
7 Vgl. Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse. Frankfurt [1952].
8 Vgl. Andrew Collier: Lacan, psychoanalysis and the left. London 1980. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/history/etol/newspape/isj2/1980/no2-007/collier.html
9 Yannis Stavrakakis: The Lacanian Left. Edinburgh 2007.
10 Vgl. Collier: Lacan, psychoanalysis and the left.
11 Vgl. Stavrakakis: The Lacanian Left, S. 39.
12 Collier: Lacan, psychoanalysis and the left, S. 4.
13 Ebd., S. 47.
14 Ebd., S. 6.
15 Ebd., Fußnote 21.
16 Stavrakakis: The Lacanian Left, S. 112.
17 Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt 1965, S. 99.
18 Ebd., S. 99–100.
19 Stavrakakis: The Lacanian Left, S. 28.
20 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 2007.
21 Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 23.
22 Vgl. Cutrone: „Adorno and Freud”.
23 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt 2019, S. 370–371.
24 Vgl. Cutrone: „Adorno and Freud”.