RSS FeedRSS FeedYouTubeYouTubeTwitterTwitterFacebook GroupFacebook Group
You are here: The Platypus Affiliated Society/Der Marxismus der Rosa Luxemburg

Der Marxismus der Rosa Luxemburg

Stefan Hain, Frigga Haug, Gert Meyer und Sascha Stanicic

Die Platypus Review Ausgabe #20 | Juli/August 2022

Am 10. April 2021 organisierte die Platypus Affiliated Society eine virtuelle Podiumsdiskussion mit Frigga Haug (feministische Marxistin), Sascha Stanicic (Sozialistische Organisation Solidarität), Gert Meyer (Historiker) und Stefan Hain (Platypus Affiliated Society), um über den Marxismus der Rosa Luxemburg zu diskutieren.

Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=rrV1qjGeWyo vollständig angesehen werden kann.

BESCHREIBUNG
Rosa Luxemburgs Politik bildet einen kontroversen Streitpunkt innerhalb der Linken: War sie während der Russischen Revolution eine Kritikerin der Bolschewiki, eine demokratische Verfechterin der Spontaneität von unten? Oder war sie eine orthodoxe Marxistin, eine Befürworterin der Revolution durch die entschlossene politische Führung der Arbeiterbewegung?

Bernsteins Diktum „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“ hält die damals 27-jährige Rosa Luxemburg entgegen, dass es das Endziel allein ist, das den Geist und den Inhalt des sozialistischen Kampfes ausmacht und ihn zum Klassenkampf macht. Wenn Luxemburg immer noch zu uns spricht, dann nicht in abstrakten Lehren aus der Geschichte, sondern, wie Walter Benjamin es ausdrückte, durch ihren Kampf in und gegen den Strich der Geschichte.

Wie können wir heute noch aus Luxemburgs Beispiel lernen? Warum müssen wir uns an ihren Versuch erinnern, den Sozialismus zu verwirklichen? Was könnten die Folgen des Vergessens sein

EINGANGSSTATEMENTS

Frigga Haug: Rosa Luxemburg war sowohl eine Kritikerin der russischen Revolution als auch eine glühende Befürworterin. Sie kritisierte die Revolution, weil diese das Volk nicht am Aufbau des Sozialismus beteiligt hat. Auf diese Weise konnte es kein Sozialismus werden, sondern jakobinische Demokratie. Sie war eine Verfechterin der Demokratie von unten, nicht der Spontaneität. Das Rezept für den Sozialismus gibt es noch gar nicht, also muss man es lernen, indem man es tut.

Bei der Frage, ob Luxemburg eine orthodoxe Marxistin war, kommt es darauf an, was man darunter versteht. Wenn man meint, ob sie von Kopf bis Fuß bei Marx blieb, dann: ja; wenn man orthodox als Negativwort nimmt, dann war sie keine orthodoxe Marxistin – sie folgte dem lebendigen Marxismus.

War sie der Auffassung, dass die Revolution durch die entschlossene Führung der Partei gemacht wird? Dieser Formulierung würde Luxemburg widersprechen. Die Führung kann keine Revolution machen, oder, wie sie das für den Massenstreik ausführt, er würde am nächsten Tag platt zu Boden fallen. Für die Revolution, für den Massenstreik braucht es die Menschen, die das tun. Hingegen muss die Führung durch die Partei den Massen dienen, nicht umgekehrt.

Sie stellt Bernsteins „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“ entgegen, dass es allein das Endziel ist, das den Geist des sozialistischen Kampfes ausmacht. Es bestimmt das, was sie „revolutionäre Realpolitik“ nennt. Die Perspektive, das Ziel ist es, wonach sich die einzelnen Maßnahmen auszurichten haben. Letztere aber sind Reformen, weil sie an den Problemen und Nöten der Menschen verständlich anknüpfen müssen. Deswegen hat sie diesen widersprüchlichen Begriff „revolutionäre Realpolitik“ geprägt, der bis heute außerordentlich hilfreich ist.

Wenn Luxemburg immer noch zu uns spricht, dann vielleicht so: in den Widersprüchen Politik machen. Nehmen wir das Beispiel des Parlaments. Was ist, wenn Mitglieder der sozialistischen Partei zu Mitgliedern des bürgerlichen Parlaments werden? Sie befinden sich in einem Widerspruch, weil sie einerseits das Parlament unterlaufen wollen, andererseits aber darin tätig sein müssen, um das zu tun. Sie befinden sich permanent in Widersprüchen und müssen lernen, mit ihnen zu hantieren. In Widersprüchen Politik machen heißt, die Kämpfe im Parlament, auf der Straße, im Schreiben, im Streik zusammenzufügen.

Mit der Frage, warum wir uns an ihren Versuch erinnern müssen, den Sozialismus zu verwirklichen, kann ich nur ein großes Fragezeichen verbinden. Obwohl ich alle von ihr veröffentlichten Schriften kenne, habe ich nirgends gelesen, dass sie den Sozialismus zu verwirklichen versucht hat. Sie hat an Schulung gearbeitet, an Aufklärung, an Streikvorbereitung, an Politik, aber sie wollte nicht unmittelbar den Sozialismus verwirklichen. Ich erinnere dies nicht.

Zur Frage, welche Folgen es haben könnte, Luxemburg zu vergessen: Das könnte das sein, was wir heute Identitätspolitik nennen, also den Widerstand gegen den Neoliberalismus an Stelle des marxistischen Kampfes gegen Bürokratie. Zudem hat sie theoretisch Neues über Marx hinaus erbracht. Sie hat in ihren Akkumulationsbüchern1 die Imperialismustheorie von Marx weiterentwickelt und das, was man heute „Landnahme“ nennt, das heißt, Elemente aus dem zukünftigen Gemeinwesen zu übernehmen und in den alten Kapitalismus einzuverleiben. Der Kampf gegen Bürokratie und die Vorstellung, dass der lebendige Geist aus dem Marxismus verschwindet und stattdessen Prinzipien und starre Gesetze entstehen, welche den Marxismus töten, war einer ihrer Hauptkämpfe. Das kann man angesichts der tatsächlichen Entwicklung des Marxismus vergessen, der sich nicht in der luxemburgischen Weise entwickelt hat. Luxemburg war viel zu lange der blinde Fleck im Marxismus – vergessen, verleugnet. Aus Arbeiterbewegungsmund, in Dokumenten und Büchern erfährt man, Luxemburg habe theoretisch nichts geleistet und die Massen überschätzt. Keines von beidem stimmt. Die luxemburgische Theorie geht über Marx hinaus, sie ist ein lebendiger Marxismus. Sie hat die Massen keineswegs überschätzt, sondern wollte mit den Massen Politik machen. Ihr erstes Losungswort für die Politik war Schulung, da die Massen von selbst nicht reif sind, die Politik zu machen, die sie machen müssten. Sie stand für die Verwirklichung von sozialistischen Ideen von unten.

Sascha Stanicic: Es ist eine sehr zeitgemäße Diskussion, über Rosa Luxemburg, ihre Ideen und ihr politisches Wirken zu sprechen und überhaupt keine akademische Debatte, die nur von rein historischem Interesse wäre – sie sollte es zumindest nicht sein! Vielmehr ist eine Auseinandersetzung mit ihren Ideen und ihrem Handeln für uns als Linke und SozialistInnen eine Quelle für Inspiration und kann auch eine Anleitung für heute sein. Denn so sehr sich die heutigen Verhältnisse von denen zu Luxemburgs Lebzeiten unterscheiden mögen, so überwiegt doch die grundlegende Gemeinsamkeit, dass wir immer noch in einer kapitalistischen Klassengesellschaft leben und dass diese weiterhin tagtäglich auf der ganzen Welt Not, Elend, Krieg, Ausbeutung und auch ganz grundlegende existenzbedrohende Fragen im Zusammenhang beispielsweise mit dem Klimawandel hervorbringt.

Luxemburg war Revolutionärin, revolutionäre Marxistin und Parteiführerin. Es gibt vor allem zwei Fragen, in denen ihre Haltung oft falsch dargestellt oder fehlinterpretiert wird. Erstens wird ihr eine Spontaneitätstheorie zugeschrieben, die die Bedeutung von Organisation und Partei negiert oder zumindest gering schätzt. Zweitens wird sie oftmals als Gegnerin der russischen Oktoberrevolution dargestellt. Luxemburg als Revolutionärin zu verstehen, bedeutet, sie als die unerbittliche Gegnerin des Kapitalismus und auch jedweder Idee zu verstehen, den Kapitalismus zu einer sozial gerechteren Gesellschaft zu reformieren oder ihn schrittweise auf parlamentarischem Wege überwinden zu können. In ihrer vielleicht berühmtesten, gegen Bernstein gerichteten Schrift Sozialreform oder Revolution?2 bringt Luxemburg auf den Punkt, dass es nicht darum geht, sich gegen den Kampf um Sozialreformen auszusprechen, vielmehr sind jene ein Mittel zum Zweck. Für sie ist der Kampf für die Reform das Mittel, der Zweck ist die sozialistische Revolution. Das Erreichen der Reform, der materiellen Verbesserung im Hier und Jetzt, steht also nicht einmal im Mittelpunkt; vielmehr versteht sie dies als eine Schule der Arbeiterklasse für die Entwicklung von Bewusstsein, um zur Revolution zu kommen. Denn sie war überzeugt, dass jede im Rahmen des Kapitalismus erkämpfte Verbesserung nicht gesichert werden kann, solange die kapitalistischen Verhältnisse fortexistieren. Sie wandte sich gegen alle Ideen – die letztlich in der alten Sozialdemokratie die Oberhand gewinnen konnten –, den Kapitalismus zu zähmen oder durch parlamentarische Schritte zu überwinden.

Schauen wir uns die 103 Jahre seit Luxemburgs Ermordung und die heutige Welt an, so stellen wir fest, wie recht sie hatte. All die Sozialreformen, die es gegeben hat, zumindest in den entwickelten kapitalistischen Ländern, wurden auf Basis des Klassenkampfes erkämpft. Nichts davon ist uns geschenkt worden. Aber sie haben das System nicht grundlegend geändert und den Kapitalismus nicht zu einem sozialen, friedlichen und umweltfreundlichen Gesellschaftssystem umgestaltet. Ganz im Gegenteil: Wir leben in Zeiten der tiefsten Weltwirtschaftskrise, wir haben eine Coronapandemie und den Klimawandel. All das muss uns vor Augen führen, dass das kapitalistische System tatsächlich die Lebensgrundlage der Menschheit bedroht und dass sich der berühmte Ausspruch von Luxemburg: „Sozialismus oder Barbarei!“ tatsächlich entscheiden wird. Das heißt, linke Politik muss immer mit dem Ziel verbunden sein, mit diesem System zu brechen und es durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen.

Ich glaube schon, dass Luxemburg sich bewusst war, dass es kein automatischer Prozess sein wird, der einfach als Krise oder Zusammenbruch des Kapitalismus erwachsen wird. Sie war außerordentlich optimistisch – ein Charakterzug, den viele MarxistInnen haben. Aber ihre Schriften wurden durchströmt von der Notwendigkeit, die ArbeiterInnnenklasse zu organisieren, zu schulen und ihr sozialistisches Klassenbewusstsein zu fördern und zu entwickeln. Und so sehr sie einerseits darauf vertraute, dass die ArbeiterInnenklasse imstande ist, die Welt zu verändern und aus eigener Erfahrung weitgehende Schlussfolgerungen zu ziehen, so sehr war sie andererseits doch davon überzeugt, dass eine revolutionäre sozialistische Partei nötig ist, um diesen Prozess zum Erfolg führen zu können. Nicht zuletzt auch um die Bewusstseinsentwicklung innerhalb der Klasse zu sozialistischem Bewusstsein, zu Klassenbewusstsein zumindest zu beschleunigen. Ihre Partizipation in der Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL), im Internationalen Sozialistischen Büro sowie ihr Zutun zur Gründung der Kommunistischen Partei ist eine Widerlegung einer Interpretation von Spontaneitätstheorie, die zum Inhalt hat, dass die Arbeiterklasse ohne Organisation, ohne Partei und auch ohne Führung dieses große Ziel erreichen könnte.

Ihre revolutionäre und konsequent antikapitalistische Haltung drückt sich auch in der Frage der Koalitionsregierungen mit prokapitalistischen Parteien aus. Das ist eine aktuelle Debatte innerhalb der Linkspartei: Soll die Linkspartei mit SPD und Grünen, die ich als prokapitalistische Parteien bezeichnen würde, koalieren? Als Mitglied der Sozialistischen Organisation Solidarität und auch als Mitglied der Linkspartei kämpfe ich seit Jahren gegen diesen Kurs und konnte mich dabei immer auf Luxemburgs Schrift Die sozialistische Krise in Frankreich3 stützen, in der sie den historisch ersten Eintritt eines Sozialisten in eine bürgerliche Regierung scharf kritisierte. Sie erklärt, dass man sich nicht waschen kann, ohne nass zu werden, dass eine linke Partei, die MinisterInnen in eine kapitalistische Regierung schickt, die Verantwortung für die gesamte Politik dieser Regierung übernimmt und dass eine solche Politik dem Ziel der sozialistischen Veränderung der Gesellschaft widerspricht. Alle Erfahrungen – auch die jüngeren Koalitionen der Linkspartei bzw. der PDS mit SPD und Grünen – solcher linken Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien haben die Haltung Luxemburgs bestätigt. Innerhalb der Linkspartei findet gerade eine Debatte statt, in der der Gedanke des „rebellischen Regierens“ propagiert wird; es wird behauptet, es gäbe überhaupt keinen Gegensatz zwischen einerseits Regieren und andererseits dem Stehen an der Seite sozialer Bewegungen. Aus meiner Sicht widerspricht dieses Mitregieren dem Kerngedanken Luxemburgs, die Unabhängigkeit von SozialistInnen gegenüber dem bürgerlichen Staat immer zu verteidigen.

Sitzungssaal im Taurischen Palais, Sankt Petersburg, in dem am 18. und 19. Januar die russische verfassunggebenden Versammlung tagte, bevor die bolschewistische Regierung diese für aufgelöst erklärte.4

In der Frage der Russischen Revolution wird Luxemburg gern als Gegnerin der Bolschewiki dargestellt. Sie war eine glühende Unterstützerin nicht nur der Oktoberrevolution, sondern auch der Politik der Bolschewiki. Diese hat sie anerkannt als eine Voraussetzung dafür, dass diese Revolution überhaupt zum Sieg kommen konnte. Ihre Kritik, und das ist ja in der Regel die, die propagiert wird, war eine an demokratie-feindlichen Maßnahmen durch die bolschewistische Regierung 1918. Dies wird oftmals mit der Auflösung der Nationalversammlung in Russland im Januar 1918 und der grundsätzlichen Abschaffung dieser Institution begründet, mit der Luxemburg sich kritisch beschäftigt hat. Wenn man aber ihr Handeln in der Novemberrevolution anschaut, erkennt man, dass sie die ähnliche Fragestellung, die in Deutschland bestand, eindeutig beantwortet und sich selbst gegen die Nationalversammlung und für die Losung „Alle Macht den Räten!“ aussprach.

Wenn wir aus Luxemburgs Denken und Wirken Schlussfolgerungen für heute ziehen wollen, so wären das aus meiner Sicht: Erstens, der Kapitalismus muss und kann nur revolutionär überwunden werden. Zweitens, der Kampf für Verbesserung im Hier und Jetzt muss geführt werden, aber als Mittel zur Herausbildung von Selbstorganisation der Arbeiterklasse zum sozialistischen Klassenbewusstsein. Drittens, die Arbeiterklasse ist die entscheidende Kraft für eine solche sozialistische Veränderung der Gesellschaft und sie braucht Organisation, sie braucht die Partei. Viertens, es darf keine Zusammenarbeit mit prokapitalistischen Kräften geben, insbesondere nicht in Form von Regierungsbeteiligungen.

Gert Meyer: Rosa ist vor 150 Jahren in Zamość, in Kongresspolen geboren worden. Als 16-jährige Schülerin wurde sie in einer Organisation, die Zweites Proletariat hieß und Verbindungen zu Russland hatte, politisch aktiv. Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs von den Volkstümlern, den Narodniki, zum Marxismus. Luxemburg geht später nach Zürich, ein Zentrum des russischen Marxismus, dessen Ursprünge in der Gruppe Befreiung der Arbeit von 1883 liegen. Sie lernte unter anderem Plechanow, Axelrod und Sassulitsch kennen.

Sie gründet 1894 die Partei, die später SDKPiL heißen wird. Eine kleine Partei, die aber zeitweilig in der russischen Revolution von 1905 durchaus eine Massenverankerung bei den Textilarbeitern in Lodz und in Warschau hatte. Interessant an dieser Partei ist, dass sie weder nationalistisch noch antinationalistisch war, sondern sich gegen die Konkurrenzpartei der Polen wendete, gegen die Polnische Sozialistische Partei (PPS), die beides miteinander verquicken wollte. Wir lernen, dass die Verquickung von Nationalismus und Sozialismus, wie wir sie aus der deutschen Geschichte kennen, in keiner Weise vorwärtsweisend, sondern ein Teil der Reaktion ist.

Die SDKPiL hat sich, wie Luxemburg selbst auch, immer als Teil der gesamtrussischen Arbeiterbewegung verstanden, die es aber damals noch gar nicht richtig gegeben hat. Die Sozialdemokratie Russlands wird erst vier Jahre später gegründet. Luxemburg schreibt während ihrer Zeit in Zürich eine Dissertation mit dem Titel Die industrielle Entwicklung Polens5. Es ist eine sehr genaue Beschreibung der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung des polnischen Kapitalismus und seiner Verknüpfung mit dem russischen Markt. Es wäre doch eine Aufgabe für uns, uns in wissenschaftlicher Form um den heutigen Kapitalismus zu kümmern.

1898 geht Luxemburg nach Berlin. Im Jahr 1904 veröffentlicht sie den Artikel Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie6 über den zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Das war der Parteitag im äußeren London, auf dem sich die Spaltung in Bolschewiki (Mehrheitler) und Menschewiki (Minderheitler) vollzieht. Luxemburg setzt sich mit der leninschen Theorie des Zentralismus, die sie teilweise teilt, auseinander und sagt, man müsse diese einzelnen versprengten politischen Organisationen gegen den konzentriert arbeitenden Gegner, den autokratischen Zarismus, zusammenfassen. Diese Organisationsfrage müsse aber als ein sozialer Lernprozess, als eine wesentliche Selbstorganisation verstanden werden, statt mechanistisch. Diese Organisationsfragen begleiten uns bis heute und insofern ist die Lektüre ihrer Schrift nach wie vor sehr lehrreich.

Demonstranten marschieren am 22. Januar 1905, der als Blutsonntag in die Geschichte einging, zum Winterpalast in St. Petersburg.7

Im Dezember 1905 geht Luxemburg illegal nach Warschau und wird aktiv in ihrer Partei. Im August 1906 reist sie nach Kultala in Finnland, wo sie ein längeres Zusammentreffen mit Lenin hat und arbeitet an Massenstreik, Partei und Gewerkschaften<8/sup>. Wie der Titel andeutet, sieht sie die Organisationen der Arbeiterbewegung herausgeboren aus den Massenstreikaktionen, die also zentral sind für den Aufbau der Arbeiterorganisation der Partei, der Gewerkschaften, der Genossenschaften usw. Diese Idee der Massenstreikaktion trägt sie 1906 nach Deutschland. In Kooperation mit Lenin und Martow brachte Luxemburg auf dem Internationalen Sozialistenkongress einen Änderungsantrag durch, der einstimmig angenommen wurde. Darin wird beschrieben, dass die Arbeiterorganisationen alles tun müssen, um einen Krieg zu verhindern. Eine Methode müsse der Massenstreik sein. Das Verhältnis von Krieg und Revolution ist dort markiert und nahm später in Russland Wirklichkeit an.

Der interessanteste Punkt ist ihre Stellungnahme zur Russischen Revolution von 1917. Hat sich Luxemburg gegen die Oktoberrevolution gestellt? Im Kalten Krieg wurde diese Frage bejaht. Es gibt zwei Modelle: das luxemburgische und das leninsche. Dieselbe Antwort hat Stalin im Jahre 1931 in seinem Beitrag zu der Zeitschrift Proletarskaja Revolucija9 gegeben. Natürlich werden von Luxemburg zentrale Kritikpunkte geäußert, die jedoch nichts an ihrer Gesamteinschätzung ändern, nämlich dass die Russische Revolution im Rahmen ihrer internationalen Konstellation und ihrer internationalen Möglichkeiten gezeigt hat, dass die zentralen Fragen, nämlich Krieg und Frieden, Sturz des Kapitalismus, sehr wohl durch die aktive politische Kraft des russischen Proletariats angegangen worden sind. Sie steht den bolschewistischen Impulsen der Oktoberrevolution sehr positiv gegenüber, sagt allerdings, dass viele Fragen nur international gelöst werden können, sodass viele Probleme in Russland nur gestellt, aber nicht gelöst werden konnten. In diesem Sinne, und das ist die letzte Zeile ihrer Schrift, gehört die Zukunft überall dem Bolschewismus, das heißt, die Kraft der internationalen Arbeiterklasse muss mobilisiert werden, um diese zentralen Fragen von Krieg und Frieden weiterzubringen bis hin zu einer neuen Gesellschaftsordnung.

Stefan Hain: Luxemburgs Tod ist das Sinnbild der sich fortsetzenden Katastrophe der Geschichte. Die Erinnerung an den Marxismus scheint abstrakt, poetisch verklärt und gar nicht dem entsprechend, was die Linke in den letzten Jahren einfordert: „materialistisch sein“. Und doch stellt sich die Frage, ob das neue linke Verlangen nach Materialismus, Konkretion und Realismus wirklich näher an dem ist, was der Marxismus als Wirklichkeit verstand. Mit ihrer Ermordung starb nicht nur das bürgerliche Individuum Rosa Luxemburg, sondern der Marxismus, für den sie mit ihrer ganzen Existenz einstand. Sie folgte dem Diktum des jungen Marx: der „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden“.10 Luxemburg war eine immanente Kritikerin der organisierten Arbeiterbewegung und der einem marxistischen Programm folgenden revolutionären Partei, die die Klasse führen sollte.

Das Problem der gegenwärtigen Linken beginnt, aber endet nicht bei Jargon, Codeworten. Davon kann sich niemand ausnehmen. Es ist eine Folge des rapide schwindenden Geschichtsbewusstseins unserer Epoche als Ganzes, aber besonders der Linken. Dies- wie jenseits des Atlantiks sammelte sich die Linke in den letzten Jahren unter dem Banner des „demokratischen Sozialismus“, dem Luxemburg meist subsumiert wird. Wesentlich bedeutet das: Distanzierung vom Stalinismus; oder zumindest von seinen schlimmsten Auswüchsen. Die geschichtliche Entstehung des Begriffs unterscheidet sich jedoch von diesem heutigen Gebrauch: Vor gut 100 Jahren geprägt als Kampfbegriff gegen die III. Internationale und die Oktoberrevolution unter Führung Lenins und Trotzkis, zeugte der „demokratische Sozialismus“ schon bald einen konterrevolutionären Zwilling: „Marxismus-Leninismus“. Ein weiteres Codewort, das wesentlich Stalins Bezeichnung für seine „Weiterentwicklung“ des Marxismus war.

Für den „demokratischen Sozialismus“ der 1920er-Jahre war Luxemburg das bedauerliche Opfer eines gefährlichen und abenteuerlichen Kurses, den sie selbst willentlich eingeschlagen habe. Frei nach dem Motto: „Wer sich in den Bürgerkrieg begibt, wird in ihm umkommen.“ – Doch die SPD, die demokratischen Sozialisten der 1920er-Jahre, wusste sehr genau, wen sie aus welchen Gründen von den Freikorps ermorden ließ:

Der Platz jener, welche erschlagen oder kampfunfähig gemacht sind, wird schlecht und recht aus den Reihen der Kämpfenden ausgefüllt; meist schlecht, denn der Feind weiß die zu treffen, welche ihm gefährlich sind,

schreibt Max Horkheimer Ende der 1920er-Jahre in seiner Aphorismen-Sammlung Dämmerung11. Im stalinistischen „Marxismus-Leninismus“ hingegen wird Luxemburg zur naiven Märtyrerin. Zwar hat sie sich für die Revolution geopfert, doch gescheitert sei sie daran, die SPD nicht rechtzeitig verlassen, nicht – wie Lenin in Russland – „rechtzeitig“ eine Organisation aufgebaut zu haben. Eines der größten Verdienste dieser Radikalen der II. Internationale – Lenin, Luxemburg und Trotzki – war dabei, dass sie niemals die strikte Trennung von Theorie und Praxis akzeptierten.

Georg Lukács schrieb in seinem Aufsatz Rosa Luxemburg als Marxist:

[D]ie Hegelsche – dialektische – Ineinssetzung von Denken und Sein, die Auffassung ihrer Einheit als Einheit und Totalität eines Prozesses bildet auch das Wesen der Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus.12

Theorie, die auf das Niveau einer Sonntagspredigt herabfällt, das heißt, von der politischen Praxis entkoppelt ist, war für Luxemburg keine Theorie; Praxis, die nicht oder nur nominell durch marxistische Theorie geleitet ist, war nach einem Wort Adornos: Pseudo-Praxis. Die Neue Linke griff das stalinistische Narrativ invertiert auf: Luxemburg wurde verklärt zu einer Ikone des Anti-Autoritarismus, zur „demokratischen“ Gegenspielerin Lenins.

Dass dies wenig bis nichts mit der realen Politik Luxemburgs zu tun hat, ist einer der zentralen Gründe, weshalb kein ernstzunehmendes politisches Projekt aus dieser scheinbaren Wiederentdeckung erwuchs. Theorie und Praxis standen in der Neuen Linken nicht in einem dialektischen Spannungsverhältnis, sondern wurden in eine erpresste Versöhnung mitei-nander gezwungen: Wie bereits in der II. Internationale und der stalinisierten III. Internationale wurde „die Theorie zur Magd der Praxis erniedrigt“. Sie rechtfertigte, was die Protagonisten und Protagonistinnen ohnehin bereits taten. Luxemburg wurde zur imaginierten Vorkämpferin eines politischen Konflikts, dessen Inhalt keineswegs die Krise der Sozialdemokratie ihrer Lebzeiten war, sondern zu einer chiffrierten Abarbeitung an den Problemen der Welt des Kalten Krieges wurde. So tat die Neue Linke ihrer eigenen wie Luxemburgs Zeit unrecht, und hinterlässt uns desorganisiert und desorientiert.

Was hieße es, das Erbe Luxemburgs anzutreten? Marxismus ist heute nicht in der Lage, die Welt zu verändern, weder durch politische Aktionen noch Ideen. Inwiefern also können wir die Welt überhaupt marxistisch begreifen? Inwiefern hat unsere Situation überhaupt zu tun mit jener Luxemburgs und wie können wir kritisch an das politische Projekt anknüpfen, dem sie sich zugehörig fühlte: dem Marxismus, der es als seine Aufgabe verstand, in der Arbeiterklasse das Bewusstsein für seine revolutionäre Führungsrolle zu entzünden? Für Luxemburg war klar, dass es keinen organisierten Klassenkampf, „keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann“.13

Für Luxemburg wie auch für Lenin und Trotzki konnte es nur einen Sozialismus geben: einen internationalen. Der Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ war für sie eine contradictio in adiecto, eine Unmöglichkeit, da sie im Sinne Marxens den Sozialismus als eine neue, weltweite Stufe der Entwicklung der Menschheit betrachteten. Wie also stellten sich die Radikalen der II. Internationale das „sozialistische Endziel“ vor? Kurz gesagt, im Sinne Marxens: In seinem berühmten Brief an Weydemeyer schrieb er, dass er weder die „Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt“ habe. Sein Verdienst seien stattdessen folgende Erkenntnisse über das „sozialistische Endziel“ gewesen:

1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.14

Doch ergibt es überhaupt Sinn, im 21. Jahrhundert noch von der Diktatur des Proletariats zu sprechen? Vorschläge gibt es auf der Linken genug: „Wir dürfen heute nicht mehr sprechen wie Luxemburg“, oder: „Diktatur des Proletariats – das würden wir heute nicht mehr so sagen“. Sollte man nicht mehr in den Worten von Marx und Luxemburg sprechen? Darf man es nicht mehr? Vielleicht. Doch die Frage bleibt: Weshalb? Wer hört und versteht, was wir jetzt mit den neuen Worten sagen? Inwiefern bringt es uns näher zum Sozialismus? Wir können Worte tauschen, aber nicht Begriffe. Wir können Dingen beliebig neue Namen geben, aber ihr Wesen können wir nicht beliebig ändern. Wenn wir von Marxismus, von Sozialismus und Revolution reden, dann müssen wir der Realität unserer Gegenwart ins Auge blicken: Die Geschichte der Linken ist die Geschichte der selbst zugefügten Niederlagen der Linken. Es ergibt durchaus Sinn, dass wir die permanente Niederlage der Revolution nicht wahrhaben wollen. Sozialismus und Marxismus haben nie aufgehört, sich beständig selbst zu besiegen.

Vielleicht können wir im Moment nicht ernsthaft von „internationaler Solidarität“, von „Marxismus“ oder von „Klassenkampf“ sprechen, da sie nicht existieren. Sie erforderten ein Bewusstsein von Geschichte, für dessen Tod symbolisch der Luxemburgs einsteht. Denn „Marxismus“ und „Klassenkampf“ existieren nicht in dem Sinne, den Marx, Engels, Luxemburg und Lenin für wesentlich hielten. Der Kampf der arbeitenden Menschen für bessere Lebensbedingungen wird nicht zum politischen Kampf um die Staatsmacht geführt. Zumindest nicht in dem Sinne, in dem er für Luxemburg und den Marxismus von Bedeutung war: Die Übernahme der Staatsmacht sollte dazu genutzt werden, den Staat absterben zu lassen – ihn als Herrschaftsinstrument durch die Diktatur des Proletariats historisch ein für alle Mal überflüssig zu machen. Es gibt weltweit keine Organisation von Bedeutung, deren politisches Programm diese Möglichkeit auch nur denken könnte. Ökonomische, soziale und politische Kämpfe stehen unvermittelt nebeneinander – sofern überhaupt noch die Fähigkeit besteht, sie zu unterscheiden. Mit dem Begriff der „Totalität“ wurde auch der der „Differenz“ obskur.

Der Begriff der Totalität existiert im Kapitalismus nur in seiner negativen Form: die Tradition aller besiegten Geschlechter, die wie ein Alp auf dem Hirn der Lebenden lastet, der Feind, der zu siegen nicht aufgehört hat – die fortlaufende Katastrophe, die uns beständig neue Trümmer vor die Füße schleudert. Der Tod der Linken ist, anders als die Ermordung Luxemburgs, nicht die Folge dieser oder jener politischen Verbrechen oder Verantwortungslosigkeiten. „Sozialismus oder Barbarei“ benannte Luxemburg den geschichtsphilosophischen Kern des Marxismus. Da der Sozialismus bis jetzt nicht gesiegt hat, leben wir in der Barbarei. Ein Verbrechen gegen Luxemburg wäre es, das zu verleugnen. Wenn wir so radikal wie die Wirklichkeit selbst sein wollen, wie Lenin schrieb, müssen wir uns zuerst dieser Wahrheit stellen: Im Moment existiert weder Partei noch Klasse noch das Endziel des Sozialismus. Zumindest nicht im Sinne des Marxismus, für den Rosa Luxemburg mit ihrem Leben und ihrem Tod eingestanden hat.

Das ist die Bedeutung des Satzes: „Die Linke ist tot!“ – „Es lebe die Linke!“ ist der zweite Teil des Platypus-Slogans. Was wir wollen, ist klar: Sozialismus. Wie wir dorthin kommen, wissen auch wir nicht. Aber wir glauben, dass wir aus der besiegten und gescheiterten Tradition des Marxismus noch immer lernen können. Im Sinne Luxemburgs sehen wir es nicht als unsere Aufgabe, den Marxismus zu adaptieren oder zu „verbessern“. Wir sehen es als unsere Aufgabe, an die verpassten Möglichkeiten der Revolution zu erinnern, und daran, wie der Marxismus versucht hat, Sinn aus ihnen zu schaffen: „Wir gleichen wahrhaft den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Aber wir sind nicht verloren und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben“, schreibt sie 1915 in der Junius-Broschüre15.

Haben wir nicht verlernt, aus der linken Geschichte der Niederlagen zu lernen? Wenn wir Luxemburg ernst nehmen wollen, müssen wir sie begreifen in dem, was sie besonders gemacht hat: ihrem Marxismus. Und das bedeutendste an diesem Marxismus ist: Er existiert nicht – nicht mehr. In Margarethe von Trottas Film Rosa Luxemburg sagt diese über sich und Clara Zetkin: “Auf unserem Grabstein wird stehen: ‚Hier liegen die letzten beiden Männer der deutschen Sozialdemokratie.‘“16 In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, lässt sich verstehen, was Walter Benjamin mit seiner XVI. These über den Begriff der Geschichte meint:

Auf den Begriff der Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten [...] Er überlässt es anderen, bei der Hure „Es war einmal“ im Bordell des Historismus sich auszugeben, Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.17

Wer wäre heute Luxemburg genug, das Kontinuum linker Niederlagen aufzusprengen? Können wir es ertragen, die Zeit in unserer Gegenwart zum Stillstand kommen zu lassen?

ANTWORTRUNDE

SS: Meiner Meinung nach gehört der Begriff „revolutionäre Realpolitik“ zu den Begrifflichkeiten, die oft fehlinterpretiert werden. In der Regel wird nicht verstanden, in welchem Kontext Luxemburg das gesagt hat, und eine Realpolitik im Sinne der Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft und an Regierungsbeteiligungen begründet. Sie gebraucht den Begriff im Kontext der Abgrenzung von den utopischen Sozialisten und schrieb:

Wir sind keine Phantasten, sondern Realpolitiker. So täuschen wir niemanden darüber, dass der Zustand des ewigen Friedens erst dann eintreten kann, wenn der Kapitalismus ausgerottet ist.18

Auch im 21. Jahrhundert bedeutet realistisch sein zu erkennen, dass der Kapitalismus keine der großen Fragen – Umweltfrage, Krieg, soziale Frage – lösen kann und darum Sozialismus im revolutionären Sinne tatsächlich die realistischste Politik ist. Gert sagte, dass die Verquickung von Nationalismus und Sozialismus, wie die Geschichte es gezeigt habe, gefährlich und reaktionär sei. Du hast das aber in einen Kontext mit der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg zur Nationalitätenfrage gesetzt, und das finde ich gefährlich. Den Nationalsozialismus, der den Sozialismus im Namen trug, kann man keines sozialistischen Inhalts überführen. Die Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg zur Nationalitätenpolitik und die Unterstützung Lenins für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis hin zum Recht auf Abspaltung, wie das dann in der jungen Sowjetunion praktiziert wurde, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was als Nationalsozialismus in die Geschichte eingegangen ist. In diesem Zusammenhang finde ich es interessant, dass es nichts mit der wahren Geschichte zu tun hat, Luxemburg in der Frage der Kritik an der Russischen Revolution als grundsätzliche Gegnerin der Bolschewiki und ihrer Politik darzustellen. Gerade wenn man die Frage von Demokratie in diesem Zusammenhang betrachtet, dann handelte die Kritik Luxemburgs gar nicht von dieser Frage. Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki war, vereinfacht dargestellt, demokratischer als Luxemburgs Vorstellung, da in ersterer das Recht auf Selbstbestimmung anerkannt wurde. Entscheidend ist, dass Luxemburg im Kontext der Russischen Revolution auch stets eine internationale Perspektive hatte und ganz bei Lenin und Trotzki war, die die Russische Revolution als Auftakt verstanden haben und gar nicht die Vorstellung hatten, dass die Arbeiterklasse Russlands die Macht ohne eine Ausdehnung der Revolution auf andere Länder halten könnte. Aber wir sollten solche Diskussionen nicht in einem akademischen Stil und nicht nur rückwärtsgewandt führen. Das Entscheidende ist, dass wir uns in Auseinandersetzungen befinden – auch wenn sich das viele nicht bewusst machen –, die tatsächlich Klassenkampf sind, und dass die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu verändern, dringender ist denn je. In dem Sinne kann ich überhaupt nichts damit anfangen, wenn Stefan sagt, der Marxismus existiere nicht mehr und müsse neu verhandelt werden. Es geht eher darum, dass wir uns in die existierenden Auseinandersetzungen und Kämpfe einbringen, ob bei Amazon, den Krankenhausbeschäftigten, die um mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, oder in der Frage von Arbeitsverkürzung in der Metallindustrie und anderen Bereichen. Wir müssen im luxemburgischen Sinne den Kampf um die Reformen führen und sie verbinden mit einer sozialistischen Intervention, Aufklärungsarbeit, mit sozialistischer Propaganda, um den Zusammenhang herzustellen. Aber wenn wir uns nur auf abstrakte Diskussionen zurückziehen, dann werden wir Luxemburg überhaupt nicht gerecht. Und das wäre mein Wunsch, meine Aufforderung, sich in die praktischen Auseinandersetzungen in Gewerkschaft, sozialen Bewegungen, in der Linkspartei einzubringen und dort für sozialistische und die Ideen Luxemburgs einzutreten.

FH: Die einzelnen Positionen sind unglaublich verschieden, man hat Schwierigkeiten, Brücken zu finden. Sascha sagte, das Problem sei gewesen, dass man die gewonnenen Reformen nicht habe halten können. Das sieht Luxemburg realistischer. Das Problem ist, dass jede Reform die Arbeiterklasse friedlicher macht. Die Wände zu irgendeinem Umsturzgedanken werden immer höher, weil die Arbeiter mit jeder Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einverstanden sind. Das ist ein Widerspruch, mit dem man umgehen und für den man eine eigene Strategie finden muss. Das ist eine aktuelle Frage für uns. Wir haben keine revolutionäre Arbeiterklasse, sondern eine winzige befriedete Arbeiterklasse. Und dann haben wir das „Hightech-Proletariat“, das wiederum ein eigenes Studienobjekt für euch sein müsste. Wie denkt Luxemburg Schulung, wenn sie die Lebensweise, die Kultur, die Integration der Arbeiterklasse in die Gesellschaft nicht als eigenes Problem aufgreift? Wie kann man denn Schulung machen, ohne Arbeits- und Lebensweisen zu studieren? Nun musste sie nicht die Arbeiter im Hightech-Kapitalismus studieren, aber wir müssen das, um zu lernen, wie man jetzt Schulung macht. Wisst ihr das? Schulung ist ihr erstes Losungswort. Die andere Seite ist: Wir kämpfen doch in dem, was man mit Gramsci Zivilgesellschaft nennen würde, also die Art, wie die Menschen leben, arbeiten, lernen, in die Schule gehen, sich Bildung aneignen usw. Darin bewegen wir uns und müssen die verschiedenen Widersprüche herausfinden, an denen sich die Sache bewegt. Dialektisch gesprochen: Nur wo sich etwas bewegt, können wir befördernd in Veränderung eingreifen. Direkt dagegen zu sein, bringt überhaupt nichts, so findet man weder Anhänger noch Durchführende. Also muss man, wie Brecht das sagt, in Flussrichtung arbeiten, die Veränderungen am positiven Ende ergreifen und dort zu stützen versuchen.

GM: Bei der Frage des Nationalismus und selbstständiger Staatlichkeit, der berühmten Kontroverse zwischen Luxemburg und Lenin, habe ich Schwierigkeiten, Position zu beziehen, weil beide recht haben. Lenin hatte recht, wenn er sagt, wir können die unterdrückten Nationalitäten nicht mit Zwangsgewalt in ein gesamtstaatliches Gebilde einfügen, wenn sie das nicht wollen. Sie haben als unterdrückte Nationen das Recht der nationalen Selbstbestimmung bis hin zur staatlichen Selbstständigkeit. Luxemburg hat aber auch recht, wenn sie sagt, dass diese nationalen Selbstständigkeiten sofort von der jeweiligen nationalen Bourgeoisie okkupiert werden, bis hin zum blutigen Terror gegen das Proletariat. Ein Beispiel ist Finnland, wo es eine starke proletarische Bewegung gab, die mit den Sowjets der Russen verbunden war, bis es 1918 eine Offensive der Bourgeoisie gegen diese proletarischen Aktionen gibt, beflügelt von der Idee der nationalen Selbstständigkeit und Staatlichkeit und unterstützt vom deutschen Imperialismus, der ihnen Waffen liefert. Luxemburg sieht die Idee der nationalen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit als ein Einfallstor für gegenrevolutionäre Aktivitäten bis hin zum offenen protofaschistischen Terror, wie Finnland zeigte.

SH: Sascha hat darauf hingewiesen, dass wir nicht so akademisch reden sollten – leider ist in unserer Zeit das meiste, was sich als Theorie ausgibt, akademischen Charakters. Aber vielleicht ist nicht jede theoretische Frage eine akademische. Luxemburg schreibt, dass es keine größere Beleidigung für das Proletariat geben könne, als zu sagen, das seien bloße Fragen der Theorie. Sascha meinte, Bernstein hätte nur einen besseren Kapitalismus gewollt – das stimmt natürlich nicht, Bernstein war Sozialist. Er war anti-revolutionär; er meinte, es bedürfe keines Bürgerkriegs, da die Arbeiterbewegung in ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen – die wir laut Sascha ja aufbauen sollen – bereits so stark geworden sei, und dieser Umstand sei das Entscheidende. Entscheidend sei demnach nicht, dass wir uns in einer revolutionären Partei organisieren, die das Proletariat in einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung zum Sieg führt. Eine solche Partei braucht es laut Bernstein nicht, da das Proletariat über andere Organisationen verfügt, die jetzt schon einflussreicher sind. Heute können sich die Leute, die eindeutige Reformer des Kapitalismus sind und klar sagen, dass sie keinen Sozialismus wollen, als Sozialisten bezeichnen, während ein wirklicher Sozialist wie Bernstein retrospektiv umgeformt wird zu einem bloßen Vertreter eines besseren Kapitalismus.

Gert hat von einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus gesprochen, die wir jetzt bräuchten. In Anbetracht der Vielzahl vorhandener Auseinandersetzungen muss ich fragen: welche meinst du? Womit müssen wir uns auseinandersetzen? Wie wird das den Klassenkampf ermöglichen? Uns ist doch im Grunde klar, dass sich diese Fragen für uns gar nicht wirklich stellen, deshalb drücken wir uns davor. Ich würde gerne wissen, warum sie sich uns nicht stellen, wenn wir doch alle darüber reden und unser gemeinsames Ziel Sozialismus zu sein scheint.

OFFENE FRAGERUNDE

Sascha, was wäre deiner Meinung nach eine adäquate Strategie für die Linkspartei, wenn sie nicht in Koalitionen mit bürgerlichen Parteien gehen sollte? Hältst du es für realistischer, dass die Linkspartei in absehbarer Zeit dazu in der Lage wäre, eine Revolution zu leiten?

SS: Aus meiner Sicht kann die Frage der Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung und der des vielen Scheiterns von Bewegungen nicht losgelöst von den Auseinandersetzungen und Kämpfen, die hier und heute stattfinden, geführt werden. Lebendiger Marxismus ist nicht nur Lebendigkeit im Denken, sondern auch Lebendigkeit im Handeln und ein Bewusstsein darüber, dass Geschichte vor unseren Augen stattfindet. Ich bin überhaupt nicht bei Frigga, die sagt, die Arbeiterklasse sei befriedet und winzig. Als Internationalist auch im luxemburgischen Sinne würde ich hier einen globalen Blickwinkel einnehmen. Ich würde auch sagen, dass sich die Arbeiterklasse vielleicht in ihrer Zusammensetzung verändert hat, aber heute weitaus größer ist als zu Luxemburgs Zeiten. Zur Arbeiterklasse zähle ich die Lohnabhängigen – egal ob im Blaumann, weißen Kittel oder am Computer sitzend. Die Frage, inwiefern sich die Arbeiterklasse ihres Klassenzustands bewusst ist, ist eine andere. Aber auch das war etwas, was sich zu anderen Zeiten durch Erfahrungen, Kämpfe und Eingreifen von SozialistInnen entwickelt hat. Und darum ist für mich die aktive Beteiligung an diesen Prozessen, ob in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, wie Black Lives Matter oder Fridays for Future, absolut entscheidend. Alles andere ist graue und nicht lebendige Theorie.

Banner auf der Fridays for Future-Kundgebung am 27. September 2019 im Invalidenpark, Berlin.19

Man kann darüber streiten, ob die Linkspartei ein Teil dieser notwendigen Auseinandersetzung ist oder nicht. Ich glaube, dass die Linkspartei in all ihrer Widersprüchlichkeit ein Ausdruck dafür ist, dass es eine politische Vertretung für die Lohnabhängigen geben muss, die ein politisches Gegenmodell zum Einheitsbrei der prokapitalistischen, neoliberalen Parteien von Grünen bis AfD darstellt. Ich würde nicht sagen, dass sie eine Arbeiterpartei ist oder sich in ihrer Gesamtheit ohne Brüche zu einer wirklich sozialistischen Arbeiterpartei wird entwickeln können. Es ist ein Ort, wo Linke und SozialistInnen heute die Auseinandersetzung darüber führen sollten. Sie ist ein Ort, den man dazu nutzbar machen kann, in die stattfindenden Bewegungen einzugreifen, sie zu unterstützen, antikapitalistische Ideen in sie hineinzutragen und damit Bewusstseinsprozesse voranzutreiben. Luxemburg war sich über den Charakter der deutschen Sozialdemokratie wahrscheinlich klarer als Lenin. Aber sie war organisatorisch nicht so sehr vorbereitet, was ein Faktor dafür war, dass es, als 1918 die Revolution ausbrach, eben noch keine festgefügte Parteistruktur gab. Ich glaube, dass man sich heute schon in der Art und Weise organisieren muss, sich aber nicht isolieren sollte, sondern sich an den Auseinandersetzungen, Kämpfen und Prozessen in einer Partei wie der Linkspartei beteiligen sollte, um dadurch auch einen größeren Resonanzboden zu erlangen. Ich teile den Gedanken nicht, dass jede gewonnene Reform die Arbeiterklasse friedlicher macht. Ich finde das tatsächlich ein bisschen undialektisch, weil die gewonnenen Reformen ja wieder in Frage gestellt werden. Im Umkehrschluss würde das ein Stück weit den Gedanken fördern, dass eine Arbeiterklasse, der es besonders dreckig geht und die besonders verarmt ist, besonders kämpferisch sei. Das ist und war auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung nicht der Fall. Es geht darum, dass sich die Arbeiterklasse Dinge erkämpfte, die aufgrund der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus wieder angegriffen und in Frage gestellt werden. Das beinhaltet ein enormes Potenzial für Gegenwehr, Widerstand und einen Erkenntnisprozess der Klasse, um das Wegnehmen des Erreichten zu verhindern. Der Kampf für Verbesserungen kann im luxemburgischen Sinne geführt werden. Aber vor allen Dingen erwächst die Verteidigung des Errungenen daraus; und die Tatsache, dass der Kapitalismus als krisenhaftes System das Errungene wieder angreift, birgt ein enormes Potenzial.

FH: Nicht ich habe gesagt, dass die Arbeiterklasse immer zufrieden sein wird. Das ist mein Referat über Luxemburg gewesen. In diesem Fall heißt das: Mit jeder Reform, die wir gewinnen, werden die Wände höher, die wir zu überwinden haben, denn die Arbeiterklasse ist mit jeder Reform einverstandener mit dem kapitalistischen System. Auch wenn unsere Agitation, unsere Arbeit, die Weise, in der wir jetzt vorgehen müssen, komplizierter wird, müssen auch wir lernen, wie das geht. Wovon sprecht ihr eigentlich, wenn ihr von Arbeiterklasse sprecht? Wir haben heute eine Hightech-Arbeiterklasse, ihr müsst von dieser sprechen und nicht von einer, die zu Zeiten von Rosa Luxemburg aktiv war und für uns schön handlich mit den roten Fahnen herumging. Dies müsstet ihr einbeziehen. Noch viel schlimmer finde ich, dass ihr von Internationalismus sprecht, aber keine Frauen habt. Kurz, ihr habt keine Kenntnis von dem, was die marxistischen FeministInnen getan haben, was sie jetzt tun, welches ihre Strategien sind. Es gibt eine marxistisch-feministische Internationale, die schon viermal getagt hat. Das sind Kongresse riesiger Art gewesen. Es gibt dreizehn marxistische Thesen von den entsprechenden Feministinnen bezüglich der Frage, wie wir mit dem Kapitalismus verfahren. Die solltet ihr zur Kenntnis nehmen.

Sowohl Stalin während des ersten Fünfjahresplans als auch Mao während der Kulturrevolution mobilisierten die Massen gegen die Bürokratie. Was sagt uns das über die Gegenüberstellung von Bürokratie und Masse?

Frigga, könntest du noch etwas ausführen, inwiefern Luxemburg einen lebendigen Marxismus im Gegensatz zum bürokratisierten, dogmatischen Marxismus vertritt? Wer waren die VertreterInnen dieses dogmatischen Marxismus und was zeichnet demgegenüber Luxemburgs Marxismus aus?

FH: Plechanow wäre ein Beispiel. Ein lebendiger Marxismus ist einer, der die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt und seine Strategien aus den Analysen der wirklichen Prozesse gewinnt und nicht aus irgendwelchen Papieren. Als Folge dessen müssen wir ständig die Wirklichkeit analysieren und dementsprechend unsere Strategien entwerfen. Außerdem ist ein historisch-kritisches Bewusstsein, wie Gert das vorführt, notwendig. Wenn man die Geschichte der Bewegungen studiert, sieht man die Punkte, an denen sie gescheitert ist, und kann aus dem Scheitern lernen und wieder neu anfangen. Das würde ich auch zu einem lebendigen Marxismus zählen. Primär sind, wie Marx das in der ersten Feuerbachthese schreibt, die wirklichen, sinnlichen, praktischen Taten der Menschen. Davon ist auszugehen und davon ist die Strategie, die Theorie, die Praxis zu entwickeln. Das nennt sich dann Philosophie der Praxis. Das hört sich jetzt schon wieder abstrakt für euch an, ist es aber eigentlich nicht. Von den wirklichen Menschen auszugehen, würde auch notwendig machen, dass ihr nicht vergesst, dass es außer Männern auch noch Frauen gibt. Ihr hättet das zur Kenntnis nehmen können, könnt es noch und solltet es unbedingt.

SH: Wir sollten sehen, dass Luxemburg die von Frigga aufgeworfenen Fragen nicht so wichtig zu sein schienen. Ihr ging es nicht darum, welches Geschlecht die Leute haben, sondern vielmehr um die Frage, wie die Revolution politisch durchführbar ist.

Der Hinweis auf ein kritisches historisches Bewusstsein ist ein gutes Stichwort. Wir sprechen davon, dass wir lernen beziehungsweise etwas ausbilden müssen, aber das passiert ja ganz offensichtlich nicht. Die Neue Linke war viel entscheidender für die Weltgeschichte als das, was wir jetzt die Millennial Linke nennen. Ob erstere eine größere Chance für die sozialistische Revolution darstellte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es geht immer nur darum, dass weiter aufgebaut und etwas gelernt wird, wogegen ich auch überhaupt nicht bin. Ich frage mich aber, was wir da wirklich aufbauen und lernen.

Wenn es heißt, wir müssten uns an den Menschen orientieren, dann mag das korrekt sein, aber offensichtlich ist die Arbeiterklasse ja eben nicht bereit, wie vor 100 bis 120 Jahren eine Revolution zu machen. Bereit war sie. Es waren Fehler der revolutionären Führung, die geschichtlich für uns verschüttet und schwer erklärbar scheinen. Warum ist die II. Internationale eigentlich konterrevolutionär geworden? War das Problem die Bürokratisierung? Stalin und Mao waren gegen Bürokratisierung. Hat das das Zersplittern der II. Internationale erlöst? Da wir immer noch in der Barbarei leben: ganz offensichtlich nicht. Es ist genau das Problem, dass diese Verbindung zwischen den großen, vielleicht auch abstrakten theoretischen Fragen und der Organisierung zerrissen wurde. Auch der Marxismus-Feminismus fungiert nicht als die Führung des Feminismus, sondern bleibt ein Randphänomen.

Saschas Hinweis, die Linkspartei verweise darauf, dass es einer Vertretung der Lohnabhängigen bedarf, habe ich mehr in den Worten des Marxismus zu formulieren versucht: Es bedarf einer revolutionären Arbeiterpartei, um die Diktatur des Proletariats zu errichten. Eine politische Vertretung der Lohnabhängigen – inwiefern ist die Linkspartei etwas anderes als das, was die SPD war? Letztere verstand sich einst auch als Vertretung der Lohnabhängigen oder zumindest als deren Statthalter. Mir bleibt unklar, inwiefern wir seit Luxemburgs Tod etwas gelernt haben sollen, das die Welt zum Sozialismus hin verändert.

FH: Die Beschwerde, dass hier keine Frauen sind und dass ihr nicht an den Fragen arbeitet, ist doch eine praktische. Das ist doch nicht symbolisch: erst ab einer bestimmten Anzahl von Frauen kann das etwas taugen. Die repräsentieren doch etwas. So ist es auch bei Luxemburg. Natürlich hat sie keine extra Frauenpolitik gemacht, zu dieser Zeit war das nichts. Eine Posse hat sie das genannt. Was sie aber getan hat, ist, an den Erfahrungen der Menschen anzusetzen. Das bringen die FeministInnen in die Politik: Ihr müsst mit den Erfahrungen der Menschen arbeiten. Luxemburg hat, als die Sozialdemokraten die Kriegskredite bewilligt haben, angefangen, die Medien zu studieren und festgestellt, welchen Einfluss diese auf das Verhalten der Abgeordneten hatten. Das solltet ihr in euer Programm aufnehmen: die Beeinflussung, sowohl durch die Medien, sofern sie noch existieren, und, viel schlimmer noch, durch das Internet, Facebook etc. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte sind die Verhältnisse doch anders, wir können nicht in gleicher Weise fortfahren.

SS: Ich würde die Begriffe dogmatisch und bürokratisch gar nicht in einem Atemzug nennen, weil sie zwei unterschiedliche Probleme benennen. Lebendiger Marxismus bedeutet, die Augen nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen, den Marxismus als eine Methode zu betrachten, als eine Analysemethode, aber auch als eine Methode, um in Aktion zu treten, in den Kampf einzutauchen, und auf eine sich verändernde Welt anzuwenden. Dies setze ich in Gegensatz zur Herangehensweise, bestimmte Lehrsätze, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht richtig waren, einfach fortzuschreiben statt permanent mit der Realität zu überprüfen. Ich bin Trotzkist und der Meinung, dass Trotzki an einigen wichtigen Stellen den Marxismus lebendig auf eine veränderte Welt angewendet hat. Da war Luxemburg, ohne dass sie es sich vielleicht bewusst war, sehr nah an Trotzki. Sie opponierten diesem Klischee-Schema des klassischen Marxismus – wobei das bei Marx und Engels auch gar nicht so war –, wonach die Geschichte in der Reihenfolge Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus verlaufen muss, dass also nach dieser Logik in einem Land wie Russland 1917 gar keine Arbeiterrevolution hätte stattfinden können. Das hat Trotzki mit seiner Theorie der permanenten Revolution in Frage gestellt und den Marxismus lebendig weiterentwickelt und auf die Entwicklung der stalinistischen Sowjetunion angewendet. Man musste das in der weiteren Geschichte, zum Beispiel nach dem Zerfall der Sowjetunion, immer wieder anwenden. Man darf nicht die Augen verschließen, sondern muss die Veränderungen anerkennen und nicht abstrakte Lehrsätze wiederholen. Wenn man das Vertrauen in diese Methode und in den Marxismus hat, kann man ohne Angst jede neue historische Entwicklung betrachten, sie mit offenem Visier angehen und analysieren.

Bürokratismus ist nochmal etwas anderes als Dogmatismus. Bürokratismus ist eher ein Problem der Arbeiterbewegung, der Organisationen; die Bürokratie entwickelte sich in der Sowjetunion als die soziale Schicht, die die politische Macht ausübt. Führung und Organisation sind zwar wichtig, aber nicht als Ersatz für die Klasse, ArbeiterInnen oder für die Massen, sondern als notwendiges Instrument, um diese tatsächlich auf den Weg zu gesellschaftlicher Veränderung zu bringen. In dem Sinne existiert der Widerspruch zwischen Bürokratie einerseits und Selbstorganisation und Demokratie andererseits, aber nicht zwischen Selbstorganisation und Partei oder Führung.

GM: Der Marburger Sozialdemokrat Robert Michels untersucht in Soziologie des Parteiwesens die Dialektik von Organisation, Bürokratisierung und Oligarchisierung.20 Wenn man seiner Analyse folgt, ist nicht ganz unklar, warum die Spitze der Sozialdemokratie im August 1914 für den Krieg gestimmt hat. Mir ist nicht bekannt, ob Luxemburg sein Buch gelesen hat. Eine der Fragen, die Luxemburg beschäftigt haben, ist die von Krieg und Frieden. In ihrer 1900/1901 veröffentlichten Schrift Verschiebungen in der Weltpolitik21 erkennt sie, dass eine neue internationale Politik in Erscheinung tritt. Sie nennt und kennt das Wort „Imperialismus“ noch nicht, aber sieht die Konflikte der zentralen Mächte, die in kriegerische Kollision kommen werden. Zeit ihres Lebens war das ein zentrales Thema, das wir uns auch heute auf die Fahnen schreiben sollten. Eine weitere Frage ist die der Verwüstung des Imperialismus in den Peripherien der Dritten Welt, die Ausbeutung ganzer Kontinente. Sie exemplifiziert das in ihrer großen Schrift Akkumulation des Kapitals anhand Chinas, Indiens und Nordafrikas. Was wir heute „ökologische Problematik“, „ökologische Folgen der Kapitalakkumulation“ nennen, also das, was heute für uns die Klimafrage ist, hat sie schon mit ihrer Analyse der Kapital-akkumulation angedeutet. Der dritte Punkt waren die horrenden Unterschiede zwischen arm und reich ihrer Zeit. In ihrer Akkumulationsschrift sagt sie, dass man diese nur steuern und regulieren kann, wenn man eine grundlegend andere Gesellschaftsordnung im Visier hat. Ihre Lebenserfahrung und Eindrücke in der Russischen Revolution 1905 gaben ihr eine nahe Perspektive auf den Zusammenbruch des Kapitalismus. Diese Hoffnung oder Projektion können wir heute nicht mehr teilen. Was wir von ihr lernen können, ist die sorgfältige Analyse dieser genannten Probleme, vor allem das Problem von Krieg und Frieden. Angesichts dieser neuen Hochrüstungsphase müssen die Arbeiterbewegung und alle möglichen anderen pazifistischen, religiösen usw. Gruppen einen neuen Impuls setzen, sodass wir in dieser Richtung weiterkommen. Das wäre ganz im Sinne Luxemburgs.

SH: Viele Fragen sind offen. Was alle Leute zu teilen scheinen, ist, dass wir die Theorie beibehalten, ihr treu bleiben und sie weiterentwickeln müssen. Dieses Problem bereitet uns schon lange Kopfzerbrechen. Das ist der Streit, den Luxemburg mit Bernstein ausficht. Bernstein sieht veränderte Umstände, die Welt habe sich weiterentwickelt, deshalb müssten wir nun anders an die Sache herangehen; Marx treu zu bleiben, heiße, ihn umzuwandeln, anzupassen an die veränderten Umstände. Was wir nur sehr rudimentär gestreift haben und eher als Gespenst über uns schwebt, ist die Neue Linke. Feminismus, Dritte Welt, die Frage, wie man mit den sozialdemokratischen Parteien zusammenarbeitet, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbilden. Sind letztere zum Beispiel eine Rekrutierungsbasis, um eine revolutionäre Partei abzuspalten? All das sind Fragen, die mit der Neuen Linken aufgekommen sind. Es herrscht Einverständnis, dass Marxismus wichtig ist und dass wir an der marxistischen Methode festhalten sollten. Ja, die Welt hat sich weiterentwickelt und wenn Marxismus etwas sein will, muss er lebendig sein. Mein Punkt ist: das ist er nicht. Die Frage ist, wieso er es nicht ist, wenn diese Debatten doch scheinbar immer noch so aktuell sind, wir scheinbar immer noch um irgendwelche Antworten ringen. Vielleicht sind es an manchen Stellen einfach die falschen Fragen. | P


1 Rosa Luxemburg: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 5), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1975, S. 5–411. Online abrufbar unter: http://mlwerke.de/lu/lu05/lu05_005.htm.
2 Rosa Luxemburg: „Sozialreform oder Revolution?“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 1.1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1970, S. 369–445. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1899/sozrefrev/.
3 Rosa Luxemburg; „Die sozialistische Krise in Frankreich“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 1.2), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1975, S. 5–73. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1901/sozkrfr/index.htm
4 Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.
5 Rosa Luxemburg: „Die industrielle Entwicklung Polens“, in: Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke (Bd. 1.1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1979, S. 112—216. Online abrufbar unter: https://www.duncker-humblot.de/_files_media/leseproben/9783428560325.pdf.
6 Rosa Luxemburg: „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1979, S. 422–446. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/orgfrage/text.htm.
7 Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.
8 Rosa Luxemburg: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“, in: Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke (Bd. 2), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1986, S. 93–170. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/.
9 Josef Stalin: „Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift ‚Proletarskaja Rewoluzija‘“, in: J. W. Stalin Werke
(Bd. 13), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1955, S. 56–64. Online abrufbar unter: https://kommunistische-geschichte.de/
StalinWerke/stalin-band13.pdf
10 Karl Marx: „Brief an Arnold Ruge“, in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke (Bd. 1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1976, S. 344.
11 Max Horkheimer: „Diskussion über die Revolution“, in: Max Horkheimer Gesammelte Schriften (Bd. 2), Hrsg. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 348.
12 Georg Lukács: „Rosa Luxemburg als Marxist“, in: Georg Lukács Werke (Bd. 2), Neuwied 1977, S. 206.
13 Rosa Luxemburg: „Sozialreform oder Revolution“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1982, S. 369–445. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1899/sozrefrev/kap2-4.htm.
14 Karl Marx: „Brief an Weydemeyer, 15. März 1852“, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe (Bd. 5), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1986, S. 76. Online abrufbar unter: https://thecharnelhouse.org/wp-content/uploads/2016/02/megac2b2-iii-5-karl-marx-friedrich-engels-briefwechsel-januar-bis-august-1852-text.pdf.
15 Rosa Luxemburg: „Die Krise der Sozialdemokratie“, in: Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke (Bd. 2), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1974. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil1.htm.
16 Margarethe von Trotta: Rosa Luxemburg [Film], 1986.
17 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften (Bd. 1.2), Hrsg. Rolf Teidemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 702.
18 Vgl. Rosa Luxemburg: „Diskussionsbeitrag in der Protestversammlung in Freiburg i. Br.“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 3), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1970, S. 414-425.
19 Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.
20 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1925.
21 Rosa Luxemburg: „Verschiebungen in der Weltpolitik“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 1.1), Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1970, S. 361-365. Online abrufbar unter: https://www.sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/luxemburg/luxemburg-1899/rosa-luxemburg-verschiebungen-in-der-weltpolitik.