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Rosa Luxemburg in der strategischen Falle

von Michael Brie

Die Platypus Review Ausgabe #20 | Juli/August 2022

Für Luxemburg lag das Wesen des Sozialismus in der Verbindung von „revolutionärer Tatkraft und weitherzigster Menschlichkeit“.1 Sie hat der Linken für das 20. Jahrhundert eine Aufgabe hinterlassen gehabt, an der diese scheiterte: die Einheit von Sozialismus und Demokratie. Dafür gibt es viele Ursachen. Ich will nur auf eine einzige Ursache eingehen – es ist das Verständnis von Sozialismus und von Demokratie, mit dem die marxistische Linke in das 20. Jahrhundert gegangen ist.

Wenn die Linke gegen den Sturmwind von Kapitalismus und Imperialismus segeln will in Richtung demokratischem Sozialismus, dann muss sie lernen, die Segel so zu setzen, dass man gegen den Wind kreuzend ankommt. Strategie bedeutet, die Widersprüche, in die der Gegner verwickelt ist, die in der Sache liegen, die uns selbst prägen, in eigene Kraft zu verwandeln. Wie Walter Benjamin, an Niederlagen geschult, schrieb: „Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.“2 Luxemburg hat vor allem die Fahne auf dem Schiff des Sozialismus gesetzt, damit wir nie vergessen, was wir sind. Und sie war ein Kompass, um das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies war ihre Stärke. Listenreich die Segel setzen zu lassen und dabei die gegensätzlichen Kräfte richtig zusammen zu führen, war ihre Sache nicht.

Als Strategin ist Luxemburg immer wieder gescheitert. Ihre Streitschrift gegen Bernstein bot keinen neuen Ansatz zu jener Strategie, die die SPD Ende der 1890er-Jahre verfolgte und deren Potentiale sich zu diesem Zeitpunkt schon erschöpft hatten. In der polnischen Frage war sie auf eine einzige Strategie – den sozialistischen Kampf in den existierenden Großreichen – fixiert. Aus ihrer großartigen Revision der marxschen Akkumulationstheorie hat sie nicht die möglichen strategischen Konsequenzen des Bündnisses des Kampfes in den Metropolen mit dem Kampf in den Kolonien gezogen.3; Sie hat sich im Gefängnis während des Ersten Weltkriegs keineswegs systematisch auf die bei der Niederlage Deutschlands absehbare offene Situation vorbereitet. Die Junius-Broschüre ist eine glühende Anklage und versagt als strategische Handlungsorientierung. Luxemburg war wie viele andere in der Novemberrevolution strategisch überfordert. In ihrer großen Schrift Zur russischen Revolution wandte sie sich dagegen, den Bauern das Land der Großgrundbesitzer und des Staates zu geben und möglichst sofort zu gesellschaftlichen Formen des Eigentums überzugehen. Und sie wandte sich entschieden gegen das Recht auf Abtrennung der unterdrückten Völker vom Russischen Reich. Beides wäre auf den entschiedensten Widerstand der Bauern und der Völker im Reich gestoßen. In diesem Zusammenhang müsse, so sagt sie, auch mit eiserner Hand vorgegangen werden. Und zugleich forderte sie die unbeschränkteste Rede-, Versammlungs- und Wahlfreiheit. Realpolitisch war dies nicht vereinbar, strategisch völlig ausgeschlossen. Sie forderte von den Bolschewiki das Unmögliche und wollte es radikal demokratisch.

Worin liegt ausgehend davon die strategische Herausforderung für die Linke im 21. Jahrhundert? Um es pathetisch zu sagen: Wir sollten weiter der Fahne und dem Kompass von Luxemburg folgen. Die Einheit von Sozialismus und Demokratie ist unverzichtbar. Aber zugleich kann diese Vision nur dann aufrechterhalten werden, wenn beide Begriffe, der von Sozialismus und der von Demokratie, einer grundsätzlichen Revision unterzogen werden. Einer der vielen Gründe für die strategische Schwäche der Linken in Europa und den USA liegt darin, dass sie Begriffe benutzen, die es unmöglich machen, die Segel dialektisch zu setzen und gegen den Wind zu segeln.

Die Ursache dafür ist, dass diese Begriffe selbst undialektisch sind. Marxʼ Vision von einem Verein freier Menschen, der gemeinsam nach einem einheitlichen Plan über die vergesellschafteten Produktionsmittel verfügt, ist ein derart widerspruchsfreier Begriff. Marx und seine Nachfolger gingen davon aus, dass in der Tendenz dann die gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen keine Gegensätze mehr bilden, sondern zusammenfallen. Auch Luxemburg folgt dieser Auffassung.
Im zweiten Teil des Programms des Spartakusbundes entwickelte Rosa Luxemburg im Spätherbst 1918 Grundvorstellungen über den Weg zum Sozialismus. Dabei schrieb sie unter anderem:

Die Proletariermassen müssen lernen, aus toten Maschinen, die der Kapitalist an den Produktionsprozess stellt, zu denkenden, freien, selbsttätigen Lenkern dieses Prozesses zu werden. Sie müssen das Verantwortungsgefühl wirkender Glieder der Allgemeinheit erwerben, die Alleinbesitzerin alles gesellschaftlichen Reichtums ist. Sie müssen Fleiß ohne Unternehmerpeitsche, höchste Leistung ohne kapitalistische Antreiber, Disziplin ohne Joch und Ordnung ohne Herrschaft entfalten. Höchster Idealismus im Interesse der Allgemeinheit, straffste Selbstdisziplin, wahrer Bürgersinn der Massen sind für die sozialistische Gesellschaft die moralische Grundlage, wie Stumpfsinn, Egoismus und Korruption die moralische Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft sind.4

Um es in aller Schärfe zu sagen, wie auch Luxemburg es getan hätte: Das ist politischer Romantizismus, keine reale Utopie. Sozialismus ist eine komplexe Gesellschaft. Die Widersprüche zwischen individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Entwicklung und den damit verbundenen Interessen verschwinden nicht, sie können nur auf eine neue Grundlage gestellt und anders vermittelt werden. Ich kann dies an dieser Stelle nicht ausführen, sondern nur Grundsätze formulieren: Eine sozialistische Wirtschaft vermittelt zwischen der gesellschaftlichen Kontrolle über die Reproduktion der gemeinschaftlichen, der kommunistischen Grundlagen der Gesellschaft und der eigenverantwortlichen unternehmerischen Nutzung von gesellschaftlichen Ressourcen für die Zwecke der Kollektive und Individuen. Eine solche Wirtschaft verbindet gesellschaftliche Steuerung und marktwirtschaftliche Selbstregulation. Es ist eine Mischwirtschaft von Gemeingüterökonomie und Ökonomie der Klubgüter in genossenschaftlicher, assoziierter, privater Form. Wichtig ist die Richtung der Vermittlung der Widersprüche. Es geht darum, dass beides realisiert wird: Die Entwicklung Aller soll die freie Entwicklung der Individuen befördern, die freie Entwicklung jedes Einzelnen die freie Entwicklung Aller vorantreiben. Es geht darum zu erreichen, dass eine solidarische Entwicklung erreicht wird – im Unterschied zur antagonistischen Entwicklung im Kapitalismus.

Die Linke muss auch die Vorstellung überwinden, dass die radikale Ausdehnung der demokratischen Formen von Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, freien Wahlen aus sich heraus sozialistische Tendenzen freisetzt. Auch der Demokratie liegt ein fundamentaler Widerspruch zugrunde. Es geht um die Herrschaft des Volkes als Ganzes, die aus dem freien Handeln der Einzelnen hervorgehen soll. Zugleich geht es um die freie Selbstbestimmung der Einzelnen, die erst durch die Herrschaft des Volkes entsteht. Demokratie als Wille Aller gemeinsam und Demokratie als Willensausdruck der Vielen in ihrer Verschiedenheit sind nicht identisch.

Porträt von Jean-Jacques Rousseau, gemalt von Maurice Quentin de La Tour, 1753.5

Luxemburgs Forderung der Einheit von „Diktatur der Klasse“ und „uneingeschränkter Demokratie”6 ist eine bleibende sozialistische Orientierung. Man darf aber den dahinter sich verbergenden Widerspruch nicht übersehen. Es gibt einen tiefen Widerspruch zwischen Klassenherrschaft als Herrschaft sehr konkreter gemeinsamer Interessen einer großen Gruppe und der demokratischen Expression der Interessen der Einzelnen als Einzelne in dieser Gruppe. Auch in einer sozialistischen Gesellschaft verschwindet dieser Widerspruch zwischen den Interessen der Einzelnen als Glieder der Gesellschaft und als Einzelne nicht. Es ist der von Jean-Jacques Rousseau zuerst aufgedeckte Widerspruch zwischen volonté générale und volonté des tous. Die demokratischen Freiheiten der Einzelnen erzeugen keinesfalls die Fähigkeit, die Herrschaft „des Volkes“ als Ganzem, die Artikulation, Organisation und Durchsetzung von Gesamtinteressen zu befördern, sondern stehen oft sogar im Gegensatz dazu. Es ist kein Zufall, dass die liberale Ideologie diesen Gegensatz leugnet und Versuche, solidarische Gesamtinteressen zur Geltung zu bringen, als autoritär oder totalitär denunziert. Der entfesselte Kapitalismus geht oft mit einer Entfesselung der liberalen Demokratie einher, bis die Entwicklung in den Faschismus umkippt.

Die auch in der heutigen Linken weit verbreitete Vorstellung, dass jenseits des Kapitalismus das Reich der Widerspruchslosigkeit beginnt, steht der Strategiefähigkeit der Linken diametral entgegen. Es hindert, sich den im Heute und Hier vorhandenen Widersprüchen emanzipatorischer Politik zu stellen. Es werden „falsche Gegensätze“7 erzeugt, anstatt die realen Gegensätze strategisch richtig zu vermitteln.

Um diese Fähigkeit zu entwickeln, die realen Gegensätze richtig zu vermitteln, muss die Linke das kommunistische wie das liberale Erbe in seiner Widersprüchlichkeit annehmen und diesem doppelten Erbe eine sozialistische Richtung geben. Wir brauchen eine Praxisphilosophie der Widersprüche komplexer Gesellschaften und eine darauf aufbauende Strategie revolutionärer Realpolitik. Kommunistische Gemeinschaftlichkeit und liberale Freiheiten sind beide unverzichtbar. Transformatorische Strategien müssen beides integrieren. Sie müssen mehr Kommunismus wagen, mehr volonté générale wagen! Sie müssen aber auch nach Formen von Freiheit suchen, die einen solchen Kommunismus, die die solidarischen Gesamtinteressen befördern und ihnen nicht im Wege stehen. Es sind Strategien einer doppelten Transformation zu entwickeln, die im Kapitalismus über ihn hinausführen, Strategien für Zeiten relativer Stabilität und der Defensive und Strategien in Zeiten von Brüchen und möglicher Offensive.

Wir müssen von Luxemburg, der Prophetin des demokratischen Sozialismus, von Lenin, dem Strategen des eingreifenden Handelns, und von Gramsci, dem Philosophen der dialektischen Praxis, in Zeiten der passiven Transformation lernen. Und wir müssen jene Segel weben und dialektisch setzen, die der heutigen Zeit angemessen sind. | P

Der Autor ist Philosoph und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


1 Rosa Luxemburg: „Eine Ehrenpflicht“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 4), Hrsg. Annelies Laschitza und Günter Radczun, Berlin 1974, S. 406.
2 Walter Benjamin: „Das Passagen-Werk“, in: Gesammelte Schriften (Bd. 5.1), Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 592.
3 Raya Dunayevskaya: Rosa Luxemburg, Women’s Liberation, and Marx’s Philosophy of Revolution. New Jersey 1981, S. 37.
4 Rosa Luxemburg: „Was will der Spartakusbund?“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 4), Hrsg. Annelies Laschitza und Günter Radczun, Berlin 1974, S. 445.
5 Dieses Foto besitzt gemeinfreien Status.
6 Rosa Luxemburg: „Zur russischen Revolution“, in: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke (Bd. 4), Hrsg. Annelies Laschitza und Günter Radczun, Berlin 1974, S. 332–375; siehe zur Interpretation dieser Schrift Michael Brie und Jörn Schütrumpf: Rosa Luxemburg. Eine revolutionäre Marxistin an den Grenzen des Marxismus. Hamburg 2021, S. 165–177. Online abrufbar unter:
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Rosa_Luxemburg/Rosa_Luxemburg_An_den_Grenzen_des_Marxismus.pdf.
7 Mario Candeias: „No Exit. Falsche Gegensätze in der Euro-Debatte“, Standpunkte (Juli 2013), S. 5. Online abrufbar unter: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_07-2013.pdf.