Einen roten Stern gebären!
Das links–nietzscheanische1 Moment und seine tragische Geschichte
von Paul Stephan
Die Platypus Review Ausgabe #15 | Sommer 2021
„Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Seele nicht weg! Halte heilig deine höchste Hoffnung!“
- Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
„Leuchte mein Stern, auf jedem Hut, in jedem Herz, in jedem Haus. Leucht‘ roter Stern und gib mir Mut, leuchtet mein Stern weit hinaus.“
- Lied der Freien Deutschen Jugend
Was ist der Links–Nietzscheanismus?
In meinem Buch Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung2 untersuche ich erstmals in umfassender Form einen nahezu übergangenen Bestandteil der Geschichte der Linken. Weder in der allgemeinen Geistesgeschichte noch in der Historiographie der linken Bewegung hat diese Strömung die Aufmerksamkeit erhalten, die sie eigentlich verdiente. Es ist Zeit das zu ändern – nicht zuletzt, weil mit dem Etikett „Links–Nietzscheanismus“ ein unabgegoltenes Erbe verbunden ist. Dieses zu verstehen kann dabei helfen, das Scheitern des linken Experiments an sich zu begreifen – und es vielleicht in Zukunft besser zu machen.
Die Ignoranz bürgerlicher wie linker Geschichtsschreibung gegenüber dem Links–Nietzscheanismus hat eine gewisse Berechtigung darin, dass es sich um eine sehr heterogene und dazu marginale Strömung handelt. Nietzsches Werk ist in sich unglaublich heterogen und seine Rezeption erfolgt daher meist äußerst selektiv. Es ist keineswegs klar, welche Lehrinhalte man genau unterschreiben muss, um als „Nietzscheaner“ zu gelten – zumal sich die meisten Nietzscheaner, ihrem Meister treu3, als ungebundene Freigeister und nicht als Angehörige einer bestimmten Schule verstehen. Betrachtet man die Dinge jedoch genauer, ergeben sich durchaus auffällige Kontinuitätslinien, die es berechtigen, trotz der Vielstimmigkeit von einem „links–nietzscheanischen Chor“ zu sprechen – ein Chor freilich, der, anders als der Freudianismus oder der Marxismus einen äußerst unsteten Dirigenten hat, der auch mal den Einsatz vergeigt oder selbst einen Misston hineinplärrt, wenn es zu harmonisch wird. Und der von Anfang an ein äußerst polyphones Stück aufführt.
Doch die größten Fragezeichen eines solch ambitionierten Projekts wirft womöglich nicht der zweite, sondern der erste Bestandteil des Namens auf: Was ist überhaupt schon „links“? Der entscheidende Punkt am linken Projekt besteht darin, das Utopische in die Politik einzuführen: Linke Politik ist niemals bloße Interessenpolitik im Namen dieses oder jenes Kollektivs, sondern – sofern sie ihrem Ideal entspricht – Politik unter dem Gesichtspunkt der Utopie, ganz „große Politik“ in Nietzsches Sinne. Linke Politik ist stets Politik orientiert am roten Stern, am radikalen Ziel einer Gesellschaft ohne Entfremdung, für die nach Marx das bekannte Motto „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ gilt.
Ohne dieses radikale, authentisch-linke oder auch links-linke4 Moment verliert linke Politik ihre eigentliche Kraftquelle und verkümmert zu seichtem Linksliberalismus, prinzipienloser Sozialdemokratie, kleingeistiger Identitätspolitik. „Links“ sein bedeutet dann nur noch, sich als der bessere Sachverwalter des realexistierenden Kapitalismus aufzuspielen – eine Haltung, die, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat, zum Niedergang der linken Bewegung führt, zu ihrem Zerfall von innen heraus. Links-Sein ist dann bestenfalls eine säkulare Alternative zu einer christlichen Gesinnung, schlimmstenfalls nur ein Etikett, das man sich anklebt, um an Pöstchen ranzukommen.
Der Sieg des „letzten Menschen“ über die Utopie
Man mag sich nun wundern: Ist Nietzsche nicht gerade der Verkünder der „ewigen Wiederkunft“, der Verspotter der „Hinterweltler“, der Kritiker aller Utopie? Nicht nur rechte und bürgerliche Interpreten haben uns dieses Bild von Nietzsche in den letzten Jahrzehnten geradezu eingetrichtert, sondern auch Rezipienten wie Georges Bataille, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder Judith Butler, die gelegentlich der „Linken“ zugeordnet werden. Diese postmoderne, neue Linke hat sich vermeintlich im Anschluss an Nietzsche vom utopischen Impuls abgeschnitten, der für die Frankfurter Schule oder den Existenzialismus noch selbstverständlich war. Zwar spielte eine, oft sehr diffuse, Vorstellung von Gerechtigkeit, eine liberale Kritik an Repression oder an autoritären, starren Identitätsmodellen eine gewisse Rolle bei diesen Autoren und sie äußerten wiederholt Sympathien für linke Bewegungen, doch unterm Strich trug ihr Wirken dazu bei, den praktischen, politischen und theoretischen Verfall der Linken zu beschleunigen, nämlich durch Preisgabe des „übermenschlichen“ Moments, das der linken Bewegung bis in die 1970er Jahre hinein ihre Stärke und ideologische Konsistenz gegeben hatte.
Doch auch die Erben der Frankfurter Schule übernehmen dieses Bild vom Anti-Utopisten Nietzsche: In Der philosophische Diskurs der Moderne von 1983 warf Jürgen Habermas etwa dem Post-Strukturalismus vor, eine Philosophie der Gegenaufklärung mit Nietzsche als wichtigstem Vordenker zu propagieren; ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Ernst Bloch und Georg Lukács. Während für die letztgenannten Marxisten der utopische Impuls eine Sache revolutionärer Praxis war, womit sie eine klare militante Parteinahme für die sozialistische Bewegung verbanden, verwässerten ihn Habermas und seine Schüler zu einer Art Kantschen regulativen Idee, von der man mit Nietzsche sagen müsste: „Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.“5
Dass es in den letzten Dekaden zu einer Aussöhnung von Post-Strukturalismus und Habermasscher Kritischer Theorie gekommen ist, verwundert vor diesem Hintergrund eigentlich nicht: Während auf Frankfurter Seite der utopische Impuls immer mehr moralisiert wurde, baute ihn der Post-Strukturalismus teilweise mit besonders radikaler Geste, doch wieder in sein theoretisch-politisches Projekt in moralisierter Form ein. Zentral ist hier die gemeinsame Abkehr vom Marxismus als Projekt der praktischen Realisierung der Utopie im Klassenkampf – und die, mehr oder weniger direkt ausgesprochene, Unterstützung des „links“-neoliberalen Hegemonieprojekts.
Was also zu beobachten ist, ist eine völlige Abwendung vom Stern Utopia einerseits, seine Abstraktifizierung zu einer rein moralischen Idee andererseits. Man kann sich darüber moralisch echauffieren und dem verlorenen utopischen Elan vergangener Dekaden hinterhertrauern: Diese Entwicklung ist zunächst einmal ein Fakt, den es zu akzeptieren gilt. Unsere Realität ist derjenigen von Habermas und Foucault weitaus ähnlicher als jener von Lukács oder Bloch aus dem schlichten Grund, dass es heutzutage kein revolutionäres Subjekt im Marxschen Sinne mehr gibt. Blochs gesamte Philosophie fußt etwa auf der Überzeugung, dass es in Gestalt der kommunistischen Bewegung eine praktische Statthalterin der Utopie gäbe – in der Abwesenheit einer revolutionären Praxis, die aufs Utopische zielt, die also im emphatischen Sinne links-links ist, ist sie als Gesamtentwurf nur noch bedingt überzeugend. Es hat einen beeindruckenden kulturellen Sieg des neoliberalen Individualismus gegeben.
Der Grund für seinen bemerkenswerten Erfolg liegt darin, dass er es wie kaum eine andere politische Ideologie verstanden hat, sich als einzige übriggebliebene realistische Utopie zu verkaufen. Zwar verliert auch diese letzte Utopie mehr und mehr ihre Zugkraft – der Erfolg der Neusten Rechten bestätigt das –, doch gerade in den Ländern der Peripherie des Weltsystems bleiben die neoliberalen Gesellschaften Sehnsuchtsorte, in denen das bürgerliche Glücksversprechen, dass jeder, der sich anstrengt und ein bisschen Glück hat, wenn nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, so doch zumindest zum Tellerwäscher mit Smartphone und Dreizimmersingleappartement werden kann. Besonders lockt dabei der mit dem neoliberalen Individualismus verbundene Hedonismus und die Vision sexueller Freizügigkeit: das Versprechen, selbst ohne große finanzielle Mittel in Clubs zu gehen, Drogen zu konsumieren und erotische Abenteuer zu genießen. Ein Versprechen, das sich natürlich für die meisten Menschen auf den ungehinderten Konsum von Pornofilmchen reduziert. Werden die Menschen unzufrieden, lockt man sie, indem man das nächste Rauschmittel legalisiert und die sittlichen Schranken ein klein wenig weiter öffnet. Der Neoliberalismus hat nicht zuletzt deswegen gesiegt, weil er eine überzeugende Sexualpolitik entwickelt hat.
Der „letzte Mensch“, der nihilistische Hedonist, der sich am Ende der Geschichte wähnt, von dem Nietzsche in Also sprach Zarathustra spricht: Sein Sieg war wohl nie so vollkommen wie heute und so hoffnungslos die Lage für all diejenigen, die sich den Sinn für das utopische Mehr nicht nehmen lassen.
Pathos und Eros – Die beiden Kernthemen des Links–Nietzscheanismus
Wie eine genuin links-linke Sexualpolitik aussehen könnte, kann man den Werken links–nietzscheanischer Autoren wie Otto Gross (der wenig bekannte Begründer des Freudomarxismus), Wilhelm Reich, Ernst Bloch oder auch Luce Irigaray entnehmen: Sie müsste sich ausrichten nicht an einem primär quantitativen Verständnis sexueller Eroberung, wie es bereits in der Pionierzeit der Moderne der Sexualpolitiker de Sade in seinen pornographischen Essays propagierte, sondern an einem qualitativen Verständnis sexueller Erfüllung, in der Sexualität an die romantische Vision erfüllter Liebe gekoppelt ist. Ein Feld, in das sich selbst der nüchterne Friedrich Engels in seiner Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats vorwagte, in der er dem nietzscheanischen Impuls so nahe kommt wie sonst nirgends. Er bezieht sich dabei auf die in jener Zeit intensiv geführte Debatte um ein „Ur-Matriarchat“, eine egalitäre mutterrechtliche Ordnung ohne Privateigentum, Klassenunterschiede und Staatlichkeit, die von Nietzsches Freund und Kollegen Johann Jakob Bachofen entfacht worden war und in links–nietzscheanischen Zirkeln bis heute fortlebt. Natürlich kann eine solche Vision nicht getrennt werden von der Aufhebung des Privateigentums auf dem Gebiet des Sexuellen – sprich: der Beseitigung der bürgerlichen Monogamie –, doch zugleich hätte sie nichts von den vermeintlich „befreiten“ Orgien, die der Liberalismus verheißt, wo Polygamie zum Zwangsprinzip wird und das Leistungsprinzip noch das Privateste bestimmt.
Pathos und Eros, Leidenschaft und Liebe, das sind über alles Philosophische hinaus die beiden Kernthemen des Links–Nietzscheanismus und dasjenige, was er als Beitrag eigenen Rechts in die linke Diskussion einzubringen hätte. Es ginge darum, den Horizont reiner Interessenpolitik zu transzendieren. Sicherlich hat Bertolt Brecht Recht mit seinem berühmten Diktum über das Primat des Fressens. Doch eine sozialistische Revolution ist eben keine Hungerrevolte. Die zu entfaltende These lautet, dass der linke Kampf stets Siege verbuchte und den „Stern Erde“ (Bloch) ein kleines Stück Richtung Utopia verschob, wenn in ihm materielle Not und pathetische Dimension eine konkret-praktische Einheit bildeten. Zerspringt diese selbst leidenschaftliche (und deswegen nicht immer einfache) Beziehung, macht sich Ernüchterung breit und die Stunde der Moralisten und Nihilisten hat geschlagen. Dann gewinnen die antiutopischen Kräfte an Boden, die es in dieser Situation besser verstehen, das Bedürfnis der Menschen nach ästhetischen Werten zu stillen. Das Antihoffnungssymbol Hakenkreuz – das seinem handgreiflichen Gehalt nach für die Antiutopie, für die „ewige Wiederkehr“ steht – wurde zum Zeichen der „Hoffnung von Millionen“6, weil die Menschen von der bürgerlichen Libertinage enttäuscht waren und weil der rote Stern scheinbar aufgehört hatte zu glühen.
Der entscheidende philosophische Beitrag von Nietzsche liegt in einer vierfachen Entdeckung: 1) Der Mensch ist von einem Bedürfnis nach Sinn getrieben, das sich nicht auf materielle Triebe reduzieren lässt, 2) das Experiment der Moderne scheitert daran, dieses Bedürfnis nicht befriedigen zu können, 3) dies führt zum Attraktivwerden von spektakulären Sinnprothesen, die jedoch das Sinnvakuum der modernen Welt letztlich nur vertiefen, 4) ein wirklicher Ausweg könnte nur der Entwurf einer gänzlich neuen Sinnordnung auf Basis der wirklichen Bedürfnisse der Menschen und ihrer entsprechenden Fähigkeiten sein. Modernistische Denker würden darauf beharren, dass Option 4) eben keine reale Möglichkeit darstellt und man sich mit dem Nihilismus der modernen Welt abfinden müsse – was auch der Weg des Postmodernismus ist, auch wenn sich teilweise, vor allem bei Deleuze, radikalere Aspekte finden lassen. Links– wie Rechts–Nietzscheaner hingegen eint, dass sie diese Option zumindest denkbar halten möchten – auch wenn sie dem jeweiligen Widerpart vorwerfen, keinen wirklichen Ausweg aus dem modernen Nihilismus zu bieten. Nietzsches politische Vieldeutigkeit ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er in diesem entscheidenden Punkt äußerst vage bleibt und mal Vorschläge unterbreitet, die eher nach links7 und solche, die eher nach rechts8 deuten.
Die marxistische Linke, angefangen bei Marx und Engels selbst, war weitgehend blind für diese Dimension des Menschlichen – die sozialdemokratische Linke hingegen gab eine rein moralisch gedeutete Sinnorientierung vor, der jedes Gespür für das Bedürfnis nach ästhetischer und spiritueller Sinnstiftung abging. Rechte Ideologien stellen demgegenüber jenen Aspekt des Menschlichen oftmals ins Zentrum ihres Menschenbilds (man denke etwa an Heideggers Begriff der „Stimmung“) und bewähren sich dadurch, trotz ihres vermeintlich „irrationalistischen“ Charakters, oftmals erstaunlich gut in der politischen Praxis. Man sah es kürzlich erneut: Trotz des moralisch fragwürdigen Charakters seines Agierens, stimmten die Menschen zu Millionen für Trump, weil er genau an jene emotionale Seite in ihnen appelliert. Umgekehrt war die Linke stets dann stark, wenn es ihr gelang, ein die Massen überzeugendes Angebot der Sinnstiftung zu machen – das gesamte realsozialistische Experiment fußte darauf, aber auch die sozialistische Bewegung in den westlichen Staaten: Die klassischen linken Führer wie Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Wladimir I. Lenin oder Fidel Castro hatten eben, oftmals trotz ihrer Theorien, ein intuitives Gespür dafür, wie man die Massen begeistern kann: Sie sprachen nicht nur zum Bauch und zum Kopf der Proletarier, sondern auch zu ihrem Herz, verbanden das sozialistische Experiment mit dem Hauch einer unverbrauchten, authentischen Spiritualität.
Freilich steckt genau in diesem Aspekt auch die Problematik des links–nietzscheanischen Experiments: Droht es nicht linksfaschistisch auszuarten? Erringt man praktischen Erfolg um den Preis statt einer befreiten Gesellschaft eine autoritäre Diktatur zu errichten, die am Ende auf einer unglaubwürdig gewordenen Staatsreligion fußt, die dem Liberalismus wenig entgegenzusetzen hat? Dieser Einwand ist sehr berechtigt und wenn er zuträfe, dann hätte die „links“-neoliberale Ideologie Recht damit, dass es heute keinen Platz mehr für ein genuin links-linkes Projekt jenseits von Liberalismus, Konservativismus und Faschismus gibt.
Die Geschichte des Links–Nietzscheanismus – Ein sehr kurzer Abriss
Diese Gefahr des Umschlagens der praktischen Bemühungen in den eigenen Zwecken gänzlich entgegengesetzte Intentionen wurde von den Akteuren des Links–Nietzscheanismus durchaus erkannt und auf vielfältige Art und Weise beantwortet. Allerdings muss man anerkennen, dass es sich hier im Wesentlichen um eine Folge gescheiterter Experimente in zweierlei Hinsicht handelt: die Mainstream-Linke9, zu der die Links–Nietzscheaner meist in einem ambivalenten Verhältnis standen, scheiterte daran, den nietzscheanischen Impuls aufzugreifen; die Links–Nietzscheaner scheiterten umgekehrt meist daran, ihn der Mainstream-Linken verständlich zu machen, geschweige denn, für ihre konkreten positiven Antworten auf die Frage nach einer „Umwertung aller Werte“ zu werben. Ihren kühnen Versuchen war meist dasselbe Schicksal wie Nietzsche beschieden: Sie waren isolierte und weitgehend verkannte Einzelgänger, die oft dem Wahnsinn verfielen oder tatsächlich – wenn auch nur sehr selten – ideologisch umkippten und Rechte wurden.
Die Geschichte des Links–Nietzscheanismus lässt sich grob in drei Wellen gliedern, in denen jeweils unterschiedliche Aspekte von Nietzsches vielfältigem und widersprüchlichem Denken in den Vordergrund traten. Die erste ist untrennbar verwoben mit dem, was man als „Lebensreformbewegung“ bezeichnet: Zwischen 1890 und 1914 kam es weltweit zu einem gewaltigen kulturellen Aufbruch im Zeichen der Suche nach dem, was man eine „alternative Moderne“ nennen könnte. Man wollte eine positive Antwort auf die Sinnfrage finden, doch nicht konservativ oder gar reaktionär, sondern nach vorne gerichtet: durch das Erfinden ganz neuer Lebensweisen, ästhetischer Darstellungsformen und politischer Strukturen. Eine klassen- und länderübergreifende Massenbewegung, für die Nietzsche der zentrale ideologische Bezugspunkt war, dem geradezu die Rolle des Propheten eines neuen Zeitalters zukam. Seine Werke wurden ab 1890 geradezu schlagartig auf der ganzen Welt rezipiert und erreichten Auflagen in Millionenhöhe. Nietzsche, der stets den Nimbus der Unzeitgemäßheit vor sich hertrug, war nun plötzlich zum Popularphilosophen geworden, der für viele derjenige war, der in Stil und Inhalt den Geist der Zeit am besten wenn nicht auf den Begriff brachte, so doch in leicht zugängliche, zu eigenen Schöpfungen inspirierende Metaphern und Bildern fasste. Entscheidende Protagonisten dieser ersten Welle sind beispielsweise Ludwig Klages, Gustav Landauer, Emma Goldman, Lilly Braun, Helene Stöcker, Hermann Hesse, Rudolf Steiner und Harry Graf Kessler. Trotz ihres Nietzscheanismus (so scheint es jedenfalls, wenn man nur den postmodernen dunklen Nietzsche kennt) verband sie ein ungeheurer Optimismus: Sie waren überzeugt davon, dass aus einer veränderten Kultur ein „neuer Mensch“ hervorgehen könnte, sodass die Wunden des Modernisierungsprozesses nicht nur vernarben, sondern heilen könnten. Ihre Hoffnung galt dabei vor allem dem Leib, den sie geradezu als „revolutionäres Subjekt“ entdeckten, als Ursprung aller menschlichen Leidenschaft und Lebensfreude. Die individuelle wie kollektive Besinnung auf den Leib sollte zu einem Umdenken führen, zu einer Wiederentdeckung des von der Zivilisation verschütteten echten, natürlichen Lebens. Einige von ihnen tendierten nach links im engeren Sinne, andere eher zu romantischen oder individualistischen Vorstellungen.
Die Arbeiterbewegung tat sich von Anfang an schwer damit, dieses gänzlich neue kulturelle Massenbedürfnis in sich zu integrieren. Schon 1890 wurden einige Nietzscheaner, bekannt als „die Jungen“, aus der SPD ausgeschlossen und aufstrebende marxistische Parteiintellektuelle wie Franz Mehring, Eduard Bernstein und Kurt Eisner verfassten spitze Polemiken gegen Nietzsche und die seinen, die die wesentlichen Argumente von Lukács und Habermas vorwegnahmen. Weitgehend einig waren sie sich darin, dass man Nietzsche nicht wirklich ernst zu nehmen brauche: Er sei ein Modephilosoph, der dem Proletariat nichts zu sagen habe, der allenfalls ein paar verwirrte kleinbürgerliche Spinner anspräche, die in der Arbeiterbewegung ohnehin nichts verloren hätten.
Es gab freilich auch Mitglieder der Arbeiterbewegung, die sich anders zu Nietzsche verhielten. 1905 durfte etwa der stark von Nietzsche inspirierte Künstler Fidus – Vertreter eines bemerkenswerten proletarischen Jugendstils, der leider ab 1914 nach rechts abdriftete – das Titelblatt der Mai-Sonderausgabe des SPD-Organs Vorwärts gestalten mit einer Zeichnung, in der er der nietzscheanischen Vision einer befreiten Menschheit konkret-sinnlichen Ausdruck verleiht. Doch der Mainstream war entweder marxistisch oder kantianisch ausgerichtet. Bei anderen sozialen Bewegungen wie der Frauenbewegung verhielt es sich ähnlich: Sowohl der bürgerliche als auch der proletarische Flügel der Frauenbewegung grenzte sich vom lebensreformerischen Flügel ab. Besonderen Anstoß erregte dabei in beiden Lagern die propagierte wie auch gelebte sexuelle Libertinage zahlreicher Links–Nietzscheanerinnen.
Der Kriegsausbruch 1914 markierte eine Zäsur, die die erste Welle brechen ließ. Auch wenn die Themen dieser ersten Generation von Links–Nietzscheanern bestimmend blieben – an sie knüpften etwa die in dieser Zeit sozialisierten späteren unorthodoxen Marxisten Walter Benjamin und Ernst Bloch an –, konnte sie nie zu jenem kühnen Optimismus, jenen ungehemmten Geist des Experimentierens zurückfinden, der welthistorisch seinesgleichen sucht. Während die einen, geführt von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, dem „Burgfrieden“ beitraten und versuchten Nietzsche – der eigentlich eher Pazifist gewesen war – dem Mainstream als „Bismarck im Professorenrock“ (O-Ton E. F.-N.) schmackhaft zu machen und die Kriegsbegeisterung gar (wie etwa Thomas Mann) als Erfüllung ihrer kulturrevolutionären Hoffnungen interpretierten, radikalisierten sich die anderen nach links und traten dem pazifistischen Lager bei. Es kam zu einer Spaltung der zuvor zwar heterogenen, aber nicht regelrecht gespaltenen Nietzsche-Gemeinde, die deren Diskurs bis heute bestimmt. (Ein Bruch und ein Verrat, von dem freilich auch die marxistische Arbeiterbewegung nicht verschont blieb!)
Neben Benjamin und Bloch – die ihren nietzscheanischen Wurzeln treu blieben –, waren es etwa Figuren wie Theodor Lessing oder Rudolf Rocker, die noch in der Weimarer Republik für eine klar links–nietzscheanische Haltung im Geiste der Lebensreformbewegung eintraten. Zu nennen ist auch der eher in Vergessenheit geratene sozialdemokratische Politiker Julius Leber, Veteran des Ersten Weltkriegs, Mentor von Willy Brandt und Hauptrepräsentant des linken Flügels des Stauffenberg-Kreises, der nach seiner Inhaftierung durch die „braunen Bataillonen“ 1933 im Gefängnis eine bemerkenswerte Schrift mit dem Titel Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie verfasste. In dieser sagt er sich unter dem Eindruck des Siegs des Faschismus von Hegel und Marx los und erblickt in Nietzsche den Philosophen, mit dem man das Scheitern der Arbeiterbewegung am besten erfassen könne: Gescheitert sei sie nämlich nicht an materiellen Faktoren oder an mangelnder theoretischer Analyse, sondern an ihrem Moralismus und Intellektualismus, der zu zahlreichen strategischen Fehlentscheidungen geführt habe. und zu einer zunehmenden Entfremdung von der eigenen Wählerschaft, insbesondere von den Kriegsheimkehrern, die sich vom Pazifismus der Mainstream-SPD abgestoßen gefühlt hätten. Anstatt zum Aufstand aufzurufen, habe man letztlich vor dem Faschismus kapituliert und damit den eigenen Untergang besiegelt.
Doch von 1914 bis 1945 bestimmte in Deutschland wesentlich der Rechts–Nietzscheanismus das Nietzsche-Bild. Nietzsches Aufruf zur Schaffung neuer Werte wurde so interpretiert, dass es darum ginge, nicht mehr konservativ vormoderne Restbestände zu bewahren, sondern „konservativ-revolutionär“ bzw. faschistisch unter Rekurs auf eine vermeintliche „archaische Ursubstanz“ eine hierarchische soziale Ordnung neu zu begründen. Man muss eingestehen, dass es von der Bejahung des Leibes zu jener tumben Mystik nur ein kleiner Schritt ist – wenn auch kein notwendiger. Die beiden politischen Bewegungen, die sich am offensivsten auf Nietzsche bezogen, waren ironischerweise genau diejenigen, die er selbst als dem Ressentiment zugeordnet hatte: Faschismus und Anarchismus.10 Sekundär ist dabei die Frage, wieviel Hitler, Mussolini oder Goebbels tatsächlich von Nietzsche übernahmen: Es waren vor allem Realpolitiker, die sich dadurch behaupteten (hierin eben womöglich durchaus von Nietzsche geschult) einen klaren Sinn für die emotionale Seite des politischen Kampfes zu haben. Aus heutiger Sicht sehr ernst zu nehmen sind die zahlreichen theoretischen Versuche, auf Grundlage von Nietzsches Philosophie ein reaktionäres Weltbild zu begründen, sei es etwa seitens Oswald Spenglers, Ernst Jüngers oder Martin Heideggers.11 Es gälte diese Denker nicht einfach als irrationalistische Spinner abzutun, wie es Nietzsches Schicksal war, sondern sie zumindest als fähige „Seismographen“ (Jünger über Nietzsche) ihres Zeitgeists zu deuten, die ein feines Gespür für einige kulturelle Tendenzen besaßen, die ihren linken Antipoden weitgehend entgingen.
Parallel zu diesen beiden Wellen der allgemeinen Nietzsche-Rezeption entwickelte sich ab etwa 1900 eine bis in die Nachkriegszeit hineinwirkende zweite Welle der linken Nietzsche-Rezeption, die Nietzsche, anders als die erwähnten Lebensreformer, nicht als Propheten, sondern als Theoretiker, als Psychologen und Sozialdiagnostiker, betrachtete. Ihr Ursprung liegt einerseits in der klassischen deutschen Soziologie (z. B. Max Weber und Georg Simmel), andererseits in der Psychoanalyse. Diese beiden Strömungen vereinigten sich nach dem Ersten Weltkrieg zum Freudomarxismus und der klassischen Frankfurter Schule, die sich durchaus als links–nietzscheanische Formation bezeichnen lässt. Die Diagnose von Theoretikern wie Wilhelm Reich, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und auch dem erwähnten Bloch und Benjamin ähnelt zumindest hinsichtlich der zentralen Problemstellung derjenigen Lebers: Schwäche des traditionellen Marxismus sei die Vernachlässigung der Psychologie gewesen. Bestätigt wurde dies in den Augen dieser Theoretiker durch den strikt materialistisch nicht erklärbaren Sieg des Faschismus. Während Marcuse, Bloch und Reich als positive Antwort auf diese Erkenntnis den Weg einer Emotionalisierung des Politischen von links wählten, erhofften sich Adorno und Horkheimer von derlei Experimenten wenig. Sie beschieden sich in ihrem Spätwerk mit einer eher konservativen Haltung der Bewahrung bürgerlicher Traditionsbestände. Die in jenen Jahren geführten Debatten markieren nach wie vor eine Passhöhe, hinter der die Frankfurter Schule leider im Zuge ihrer Moralisierung durch Habermas und Co. zurückgefallen ist.
Zuletzt ist die dritte Welle der linken Nietzsche-Rezeption, ihre französische Variante, zu nennen. Während die deutschen Links–Nietzscheaner Nietzsches theoretische Einsichten mit einer universalistischen Grundhaltung, einer klaren Orientierung hin auf Utopia verbanden, vertraten ihre französischen Zeitgenossen, ausgehend vor allem von Georges Bataille und seinen Partnern rund um die Zeitschrift Acéphale, einen Nietzsche des sich selbst bejahenden fröhlichen Nihilismus, also gewissermaßen eine spiegelbildliche Umkehr des faschistischen. Interessanterweise nahmen die Vertreter des Instituts für Sozialforschung (Benjamin lebte zu dieser Zeit in Paris und war mit Bataille befreundet) dieses Experiment durchaus zur Kenntnis, lehnten es aber ab und erblickten in ihm sogar ein gewisses faschistisches Potential. Bataille selbst stellte in seiner Schrift Die psychologische Struktur des Faschismus von 1933 eine ähnliche Diagnose wie Adorno & Co.: Der Faschismus habe gesiegt, weil es der linken Bewegung nicht gelungen sei, die aus modernen „homogenen“ Gesellschaften ausgeschlossenen „heterogenen“ Elemente an sich zu binden. Den auf Ordnung abzielenden Mythos des Faschismus müsse man, um seinen Sieg zu verhindern, mit einem antifaschistisch-dionysischen Mythos des Chaos konfrontieren. Wie bei den Faschisten geht es hier ganz dezidiert um eine Rückkehr zu archaischen Ursprüngen: Nur werden die von Bataille und den seinen im Sinne eines diffusen Ur-Chaos gedeutet. Das Ziel ist dabei für Bataille, anders als für die meisten seiner postmodernen Schüler, dennoch relativ eindeutig eine kommunistische Gesellschaft. Das utopische Moment wird bei ihm allerdings dadurch gebrochen, dass es stark mit rauschhaft-diffusen Assoziationen und von de Sade inspirierten Visionen einer Entfesselung der Sexualität gerade auch in ihrer perversen, dunklen Dimension verkoppelt ist. Wie auf dieser Grundlage eine tragfähige sozialistische Realpolitik aussehen könnte, ist unklar. Batailles postmoderne Nachfolger knüpfen denn auch eher an seinen Anti-Utopismus an und geben das bei ihm noch vorhandene utopische Moment mehr oder weniger ganz auf.
Freilich gibt es im französischen Links–Nietzscheanismus auch gegenläufige Tendenzen: Sartre, Camus und andere Existenzialisten entnahmen Nietzsches Denken einen ähnlichen, sich bejahenden Nihilismus wie Bataille und Co., distanzierten sich jedoch von den antisubjektivistischen und dionysischen Anwandlungen dieser Kreise: Im Mittelpunkt stand, in Anknüpfung an Nietzsches eigenen Individualismus, das freie Subjekt und seine Authentizität. Belehrt durch die Erfahrung des faschistischen Kampfes transzendierten sowohl Sartre als auch Camus diesen Individualismus in Richtung eines sehr ernsthaften linken Engagements, in dem es darum ging, die Utopie auch im Wissen um ihre Unerreichbarkeit anzustreben. Eine heroische Welthaltung, die als Antidot zum Konformismus der Mainstream-Linken sicherlich sympathisch ist.

„Wir sind Dynamit.“ – Graffiti fotografiert vom Autor am Rande einer Gelbwestendemonstration in Montpellier. Nietzsche hatte sich in Ecce homo als „Dynamit“ bezeichnet.
Als weitere links-linke Außenseiter im französischen Nietzscheanismus seien kurz die Situationisten erwähnt, eine um ‘68 herum agierende Theoretiker- und Künstlergruppe. Sie umfasste einen eher hegelmarxistischen, von Guy Debord repräsentierten, und einen eher links–nietzscheanisch-existenzialistischen Flügel um Raoul Vaneigem. Beide Flügel einte eine klare Ablehnung der Mainstream-Linken und eine Betonung der Notwendigkeit authentischer Erfahrung, eines entschiedenen individuellen Widerstands gegen dasjenige, was sie als die „Gesellschaft des Spektakels“ bezeichneten. Etwas vom revolutionären Geist dieser radikalen Gruppe lebt fraglos im heutigen Kampf der Gelbwesten und im Kampf gegen die repressive Corona-Politik fort. Als kleiner Beleg dafür sei hier ein Graffiti beigefügt, das ich selbst am Rande einer Gelbwestendemo in Montpellier photographiert habe und auf dem, leicht abgewandelt, Nietzsche zitiert wird: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“12
Fazit: Für einen Links–Nietzscheanismus heute
Ob die Gelbwesten oder die kurdische Befreiungsbewegung, deren geistiger Führer Abdullah Öcalan Nietzsche als „stärkste[n] oppositionelle[n] Prophet[en] der kapitalistischen Periode“13 bezeichnet, ob das queere Suchen einer Identität jenseits der aufgezwungenen Zweigeschlechtlichkeit, sofern es von einem authentisch utopischen Impuls durchzogen ist, oder die Bemühungen linker Studenten um eine authentische Wiederaneignung des linken Kanons: Der links–nietzscheanische Geist lebt und ist nicht auszumerzen, weil das Bedürfnis nach Sinnstiftung nicht totzukriegen ist; das Bedürfnis nach Authentizität, Kreativität, Lebensfreude, erotischer Erfüllung, emotionalem Überschwang … kurz: einem Leben jenseits des „stahlharten Gehäuses“ (Max Weber) der modernen Gesellschaft. Sicher hat der postmoderne Kapitalismus nach ‘68 Impulse der links–nietzscheanischen Subversion aufgegriffen – doch von ihren genuin utopischen Ambitionen abgelöst und sie damit der Möglichkeit ihrer echten Erfüllung beraubt. Die Unzufriedenheit mit den Angeboten des „Spektakels“ ist noch immer vorhanden und die Sehnsucht nach einem ernsthaften, gesellschaftlichen Wandel brach sich zuletzt in der hochemotionalisierten Klimabewegung Bahn.
Die jüngsten Kämpfe um die Ausrichtung der Corona-Politik zeigen deutlich das Dilemma, in dem die linke Bewegung steckt: Von neoliberaler Seite wird eine offen verkündete Politik der negativen Emotionalisierung betrieben, also die Mobilisierung von Affekten wie Angst, Misstrauen und Hass gegenüber „Leichtsinnigen“ mit dem Ziel, einen autoritären Konsens zu schaffen. Eine positive, hoffnungsgeladene Politik, freilich losgelöst von jedwedem echten utopischen Impuls, wird – wenn überhaupt – eher von klassisch-liberaler und rechter Seite betrieben, von faschistischer Seite vermengt mit dem Verbreiten panischer Gerüchte, bei der Corona-Politik handele es sich um einen verdeckten autoritären Putsch. In diesem Strudel der Emotionalisierungen kann sich die Linke mit ihrem Beharren auf einer rationalen, faktenbasierten und sozial gerechten Corona-Politik kaum behaupten, obwohl in dieser Krise das Scheitern des neoliberalen Systems offenkundig hervortritt. Sie tut sich vor allem schwer damit, die neoliberale wie rechte Politik der Angst klar zurückzuweisen und hoffnungsvolle, nach Utopia hin orientierte Impulse der Widerstandsbewegung aufzugreifen. Diese Leute, obwohl eigentlich nicht nach rechts orientiert, fühlen sich dafür ihrerseits von der Linken im Stich gelassen und lassen sich über kurz oder lang von den Rechten einfangen: Bei den Gelbwesten war es ähnlich und auch bei der Klimabewegung steht zu befürchten, dass ihre Aktivisten, desillusioniert, über kurz oder lang nach rechts kippen werden – es gibt bereits Stimmen aus dem rechten Lager, die dafür werben, das Thema Umweltschutz nicht den Linken zu überlassen.14
Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass Emotionen notwendig partikular sind, selbst wenn sie von utopischem Geist erfüllt sind. Die Rationalität ist hingegen ihrer Natur nach universell. Linke Bewegungen werden daher immer ein Problem mit den Emotionen und dem Leib haben und eher der Macht der Sprache, des Arguments und der Vernunft vertrauen – oder eben der nackten Gewalt der Gewehrläufe. Doch muss das wirklich notwendig so sein?
Zu versuchen wäre jedenfalls die Schaffung einer neuen linken Massenbewegung, deren Radikalismus sich nicht darin erschöpft, Steuerbetrüger zu maßregeln und mehr Arbeitslosengeld zu fordern, und deren Wagemut darin gipfelt, AfD-Politikern den Handschlag zu verweigern. Das Potential dafür ist da, das zeigt sich in den letzten Jahren beinahe monatlich: Es gibt eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung und eine wachsende Einsicht in den Bankrott der neoliberalen Utopie. Zugleich gibt es neben aller Wut, allem Hass, aller Verachtung auch Züge einer hoffnungsvollen, positiven Emotionalisierung, ein Überschießen der Bewegungen über bloße realpolitische Ziele der „kleinen Politik“ hinweg auf eine „große Politik“, auf eine Überwindung der neoliberalen Ordnung hin. Black Lives Matter sowie Me too konnte man noch mit neoliberaler Quotenpolitik und ein wenig Symbolismus befriedigen, ebenso die Klimaschutzbewegung – doch die eigentlichen Ursachen der Unzufriedenheit sind innerhalb der neoliberalen Ordnung nicht adressierbar. Sie kann sich nur erhalten, weil die verschiedenen Kämpfe keinerlei Konsistenz aufweisen, sie bewusstlos, hoffnungs- und orientierungslos sind. Die Menschen müssten innehalten und den Blick nach oben richten: Sie würden den roten Stern erblicken, der heller strahlen könnte als jemals zuvor, wenn sie ihren Kämpfen eine höhere Einheit, sie unter einem Ziel: Sozialismus, zu bündeln wüssten.
Die Gelbwesten waren bereits nicht mehr integrierbar und ebenso die Proteste gegen die Corona-Politik. Der neoliberale Staat zeigt hier immer deutlicher seine repressive Seite und verliert dadurch weiter an Zuspruch. Er kann sich diesen nur mühsam durch eine Politik der Angst und des Hasses versichern – womit er Dämonen beschwört, die ihn schon bald zerfletschen werden. Eine Wiederholung der antifaschistischen Kämpfe der 1920er und -30er Jahre steht an, damit werden wir uns in den nächsten Jahren zu konfrontieren haben. Eine Linke, die sich selbst ernstnimmt, darf in dieser nächsten Runde des revolutionären Kampfes nicht bloß in der Defensive bleiben: Denn sie weiß, dass die Verteidigung des Neoliberalismus letztlich auf eine Verteidigung der Wurzeln des Faschismus hinausläuft. Sie muss offensiv in den Ring steigen, was nur möglich sein wird, wenn es ihr endlich gelingt, das nietzscheanische Moment in sich zu integrieren. Hic rhodus, hic salta – solange diese Herausforderung nicht ernstgenommen wird, wird der Kampf zwischen Liberalismus und Faschismus ewig das Schicksal der Menschheit bleiben und Millionen von sinnlosen Opfern kosten.
Wer diesen Kampf aus vornehmem Pessimismus heraus gar nicht erst beginnt, hat ihn schon verloren, und Bloch, der trotz aller oberflächlichen Abkehr von den „nietzscheanischen Flausen“ seiner Jugend bis zum Schluss doch im Herzen ein Nietzscheaner blieb und die wohl tiefgreifendste Nietzsche-Kritik marxistischer Provenienz entwickelte, schrieb zu Recht in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung:
Zum Unterschied von einem Pessimismus, der selber zur Fäulnis gehört und ihr dienen mag, verneint ein geprüfter Optimismus, wenn die Schuppen von den Augen fallen, nicht den Zielglauben überhaupt; konträr, nun heißt es, den richtigen zu finden, zu bewähren. Deshalb ist selbst über einen bekehrten Nazi mehr mögliche Freude als an sämtlichen Zynikern und Nihilisten. Deshalb ist der sturste Feind des Sozialismus nicht nur, wie verständlich, das große Kapital, sondern ebenso die Menge der Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit; sonst stünde ja das große Kapital allein.15
Brechen wir mit dem Zynismus und Pseudohedonismus der neoliberalen Milieus, halten wir uns auch fern von den rechten Rattenfängern: Bewahren wir uns Hoffnung und aufrechten Gang im Sinne Nietzsches, von dem Bloch diese Motive übernimmt. Hoffnung hat die eigentümliche Kraft, sich als docta spes, belehrte Hoffnung, selbst zu realisieren – Verzweiflung hat diese Kraft leider auch. |P
1 Um den unüberbrückbaren Abgrund, den Nietzsche selbst von seinen linken wie von seinen rechten Anhängern trennt, graphisch hervorzuheben, schreibe ich die Begriffe „Rechts–“ und „Links–Nietzscheanismus“ konsequent mit einem Gedanken– statt einem Bindestrich.
2 Vgl. Paul Stephan: Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung. Stuttgart 2020 (2 Bd.) Sowie die Broschüre: Paul Stephan: Die Linke neu leben. Thesen für einen linken Nietzsche heute. Eine Streitschrift. Berlin 2019. Im Folg.: Stephan: Links–Nietzscheanismus.
3 „Geh nur dir selber treulich nach: – / So folgst du mir – gemach! gemach“, schreibt Nietzsche im 7. Abschnitt des Vorspiels der Fröhlichen Wissenschaft seinen Fans ins Stammbuch (Friedreich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, in: Kritische Gesamtausgabe (Bd. 3), München 2011, S. 343–651; 354).
4 Für den Begriff der „Links-Linken“ vgl. atta boy: Streitschrift für eine Politisch Unkorrekte Links-Linke. Bonn 2018, der ich auch sonst zahlreiche Anregungen verdanke.
5 Nietzsche: „Götzen–Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“, in: Kritische Gesamtausgabe Bd. 6. München 2011, S. 55–161; 82.
6 Vgl. die berüchtigte Parteihymne der NSDAP, das Horst-Wessel-Lied.
7 Wie die Vision vom „Übermenschen“ als die gesamte Menschheit vereinigendes Ziel (Vgl. insb. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. München 2011, S. 74–76).
8 Vgl. die in Zur Genealogie der Moral anklingende Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Antike und die im Spätwerk grassierende Sympathie für das altindische Kastensystem.
9 Mit „Mainstream-Linke“ meine ich die innerhalb des linken Diskurses hegemonialen Kräfte, insbesondere die dominanten Tendenzen innerhalb der großen linken Parteien und Organisationen.
10 Vgl. Nietzsche: „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.“, in: Kritische Gesamtausgabe (Bd. 5), München 2012, S. 309.
11 Für Carl Schmitt, der in dieser Reihe fehlt, spielt Nietzsche interessanterweise keine Rolle und wenn er ihn erwähnt, dann grenzt er sich polemisch von seinem ‚bürgerlichen Individualismus‘ ab.
12 Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist,“ in: Kritische Gesamtausgabe (Bd. 6), München 2011, S. 255–374; 365.
13 Zit. n.: Stephan: Links–Nietzscheanismus, Bd. II, S. 434.
14 Entsprechende Ansätze finden sich bereits bei Ludwig Klages, der die Zerstörung der Natur mit der modernen ethnischen Homogenisierung assoziierte. 2019 wurde die Zeitschrift Die Kehre. Zeitschrift für Naturschutz begründet, in der für einen rechten Naturschutz geworben wird.
15 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1985, S. 517f.