Die Marxistische Hypothese: Eine Antwort auf Alain Badious "Kommunistische Hypothese"
Chris Cutrone
Platypus Review 29 | November 2010
Gegen Badiou
Für sein 2010 erschienenes Werk wählte Alain Badiou den von ihm und seinem Kollegen Slavoj Žižek seit vielen Jahren beworbenen Ausdruck der „Kommunistischen Hypothese“.[1] Denselben Titel trägt Badious 2008 in der New Left Review publizierte Aufsatz[2] über die historische Bedeutung der Wahl Nicolas Sarkozys zum französischen Präsidenten.[3] Hierin erläutert Badiou seine Vorstellung von Kommunismus wie folgt:
„Was ist die Kommunistische Hypothese? Im allgemeinsten Sinne, so wie es das Manifest definiert, bedeutet „kommunistisch“ vor allem, dass die Logik der Klasse – d.h. die Unterwerfung der Arbeit unter eine herrschende Klasse, jene Gesellschaftsordnung welche seit der Antike existiert – dass diese Ordnung nicht naturgegeben, sondern überwindbar ist. Die Kommunistische Hypothese proklamiert die praktische Möglichkeit einer anderen Form gesellschaftlicher Organisation, welche Ungleichheit der Vermögen und sogar die Arbeitsteilung abschaffen wird. Die private Aneignung riesiger Reichtümer und deren Weitervererbung wird verschwinden. Die Existenz eines staatlichen Zwangsapparats, welcher getrennt von und über der Gesellschaft steht, wird nicht mehr als Notwendigkeit erscheinen: ein langer Prozess der Neuorganisation beruhend auf der freien Assoziation der Produzenten geht einher mit seinem Absterben.“[4]
Im weiteren Verlauf erklärt Badiou:
“Als pure Idee der Gleichheit existiert die Kommunistische Hypothese ohne Zweifel seit Anbeginn des Staates. Sobald die Masse sich gegen die Staatsgewalt erhebt, taucht die Hypothese fragmentarisch auf. Volksaufstände, wie die Sklaven- und Bauernrevolten geführt von Spartakus und Müntzer, können somit als praktische Beispiele dieser „Kommunistischen Invariante“ klassifiziert werden. Mit der Französischen Revolution eröffnet die Kommunistische Hypothese das Zeitalter der politischen Moderne.“[5]
So begründet Badiou den „Kommunismus“ als transhistorische Gegenströmung zur Zivilisation.
Nach Badiou teilt sich die moderne Geschichte der “Kommunistischen Hypothese” in zwei Phasen, 1792-1871 und 1917-1976. Die erste Phase, welche mit dem Jahr Eins der revolutionären Französischen Republik beginnt und mit der Zerschlagung der Pariser Kommune endet, bezeichnet Badiou als das Einsetzen der Kommunistischen Hypothese. Die zweite Phase erstreckt sich von der Oktoberrevolution bis zu Maos Tod 1976, welcher das Ende der Großen Proletarischen Kulturrevolution bedeutete. Diese Phase beinhaltet laut Badiou die bisher „vorläufigen Versuche der Realisierung der Kommunistischen Hypothese“.[6]
Die bei dieser Einteilung übrigbleibenden Zeiträume, 1871-1917 und 1976-heute, seien nach Badiou „Intervalle“, in welchen „die Kommunistische Hypothese als unhaltbar erklärt wurde“ und der „Feind erstarkte“.[7]
Jedoch zeichnete sich genau die Periode 1871-1917 durch ein massives Wachstum und eine bedeutende Fortentwicklung des Marxismus aus (diese Entwicklung fand ihr Gegenstück und auch ihre Bedingung in der bisher letzten großen Blütezeit der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur in der Belle Époque[8]). Ihr Höhepunkt bedeutete zugleich ihre in Krieg und Revolution kulminierende Krise, welcher Badiou in seiner Darstellung ausweicht. Diese Periode und ihre Krise werfen die Frage des Marxismus an sich und seiner historischen Bedeutung auf.
Die Marxistische Hypothese
Badious Einteilung soll im Folgenden eine ihren Blick auf ganz andere geschichtliche Entwicklungen richtende Art historischer Periodisierung entgegengestellt werden. In einem krassen Gegensatz zur “Kommunistischen Hypothese” Badious, welche bis an den Anbeginn menschlicher Zivilisation und zum Ursprung des Staats zurückgreift, würde eine "Marxistische Hypothese" sich die Aufgabe stellen, die Geschichte der historisch spezifischen modernen Gesellschaft des Kapitals zu begreifen. Dies bedeutet auch, die verschiedenen Phasen des Kapitals in der Geschichte, welche von Marx und weiteren Marxisten seit Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht wurden, zu erfassen. Hierbei gilt jedoch besonders der Ausspruch des Nietzsche-Kenners Peter Preuss, dass „das 19. Jahrhundert Geschichte entdeckt hatte, welches alle weitere Forschung und Erziehung prägte. Dies bedeutete nicht bloß die Entdeckung einer Menge von Fakten über die Vergangenheit, sondern die Erkenntnis der Historizität des Menschen.“[9]
Marx' Grab, Highgate Cemetery, London.
Marx ist die zentrale Figur für das kritische Verständnis von Geschichte als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.[10] (Zwei weitere Namen, nämlich Nietzsche und Hegel, sind mit dieser Erkenntnis verbunden; ein Verständnis der Beziehungen dieser Denker zueinander ist ein tiefgehendes Problem, welches Marxisten schon seit Langem ins Grübeln bringt.[11])
Der Marxistischen Hypothese liegt Marx‘ lebenslange (vom Manifest bis zum Kapital) theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Problem der historischen Spezifität des Kapitals und daher mit Geschichte als solcher zugrunde. Sie beinhaltet zudem das politische Denken und praktische Handeln seiner Nachfolger, welche beanspruchten, sein Werk fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Die historische Besonderheit des Kapitals ist nach der Marxistischen Hypothese die Quelle der, wie Kant es nennt, „Allgemeinen Geschichte“.[12]
Im Gegensatz zu Badious klarer Einteilung der Geschichte seiner Kommunistischen Hypothese wäre eine Geschichte der Marxistischen Hypothese komplexer, nichtlinear und mehrschichtig. Sie teilt sich in die verschiedenen Phasen der Geschichte des Marxismus: von 1848-1895, die Zeit von der Veröffentlichung des Manifests bis zu Engels‘ Tod, bis 1914-1919, der Krise des Marxismus, gekennzeichnet durch Krieg und Revolution; und von 1923-1940, Post-Bolschewistischer Marxismus, bis 1968-1989, die Zeit der „Neuen Linken“ bis zum Kollaps des „Kommunismus“. Diese Perioden der Geschichte des Marxismus werden verstanden als die Geschichte des „Kapitals“ im Marxschen Sinne. Es ist die Geschichte des Kapitals und seiner möglichen Überwindung, welche ihren Ausdruck in der Geschichte des Marxismus findet.[13]
Solch eine Geschichtsschreibung folgt der Forderung Karl Korschs nach einer historisch-materialistischen Analyse und Kritik des Marxismus selbst, welche er 1923 in seinem Aufsatz „Marxismus und Philosophie“ aufstellte.[14] Dies wäre eine Geschichte der Entstehung, der Krise und des Verfalls des Marxismus, in welchem die Möglichkeit, über das Kapital hinaus zu gelangen, so wie es Marx und die besten Marxisten verstanden, Ausdruck findet. Heutzutage würde, im Gegensatz zu Korschs Zeiten (um 1923), solch eine historische Kritik auch erwägen, ob der Marxismus seine historische Chance verpasst hat und ob er nur in einer regredierten, gespenstischen Form weiterspukt, bevor er endgültig in Vergessenheit gerät. Dass solch eine Darstellung möglich ist, motiviert überhaupt erst die Marxistische Hypothese, welche behauptet, dass der Marxismus als Perspektive und Form von Politik das Nervenzentrum moderner Geschichte darstellt. Nicht ohne Grund gilt der Marxismus als die größte aller Geschichtserzählungen. Heute stellt sich dann die Frage, was der Marxismus war.
Für die meisten Marxisten des 20. Jahrhunderts (Badiou inklusive) bedeutete der Zeitraum 1871-1917, in welchen die Gründung und das Wachstum der Parteien der Zweiten Internationale fallen, das Zeitalter des „Revisionismus“, d.h. die Verflachung marxistischer revolutionärer Politik zugunsten von Reformismus. Jedoch war diese Zeit auch die Phase des schärfsten Kampfes gegen die reformistische Revision des Marxismus durch die Epigonen von Marx und Engels, namentlich Kautsky, Bernstein, Bebel und Plechanow. Der Kampf gegen den Revisionismus wurde wiederum von deren eigenen Schülern durchgeführt, welche von ihren Lehrern enttäuscht waren und sie übertrafen. Er bedeutete einen komplexen Wandel des Marxismus und markierte selbst einen wichtigen historischen Übergang.[15]
Die größte Errungenschaft des Kampfes gegen den Reformismus war die bolschewistische Führung der Oktoberrevolution, auf welche die (fehlgeschlagenen) Revolutionen in Deutschland, Ungarn und Italien folgten, und die Schaffung einer Dritten „Kommunistischen“ Internationale.[16] Die weltweite Krise 1914-1919, manifestiert in Krieg und Revolution, muss als Götterdämmerung des Marxismus verstanden werden, welche die Krise des Kapitals auf politischer Ebene in einer bis dahin (und bis heute) ungesehenen Form steigerte. Die Krise des Marxismus 1914-1919 war ein Bürgerkrieg unter Marxisten. Auf der einen Seite stand die jüngere, radikale Generation (allen voran Lenin, Luxemburg und Trotzki), welche in der Zweiten Internationale aufstieg und sie nun spaltete, um die Dritte zu gründen. Nun führte sie den bisher in der Geschichte größten Versuch die Welt zu verändern an. Sie sahen die Spaltung des Marxismus als für die menschliche Emanzipation notwendig an.[17] Auch wenn, ihr Versuch aus heutiger Sicht als gescheitert anzusehen ist, so bleibt sein tiefgreifender – und tiefgründig rätselhafter – Charakter unverändert.[18]
Der Einsatz dieser Revolution, wie sie von den (von Marx inspirierten) Radikalen der Zweiten Internationale versucht wurde, also das was weltgeschichtlich auf dem Spiel stand, kann nicht überschätzt werden. Für Marx und seine Anhänger war die Epoche des Kapitals der Höhepunkt der Menschheitsgeschichte, in welcher alle Vergangenheit sich anhäuft, und markierte zugleich das potenzielle Ende der Vorgeschichte und damit den Beginn menschlicher Geschichte im Kommunismus.[19] Nach Walter Benjamin bereitet sich „die Menschheit […] darauf vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben“,[20] dies bedeutet das Überleben der Zivilisation durch die Menschheit, die Überwindung der jahrtausendealten, tradierten Lebensweise.[21]
Das marxsche Gespenst
Während Marx und Engels vom „Gespenst des Kommunismus“ sprachen, so ist es heute die Erinnerung an Marx, welche noch auf der Welt spukt. Diesen Unterschied zur Kenntnis zu nehmen ist wichtig: Marx und Engels konnten auf eine politische Bewegung – Kommunismus – zählen, die sie versuchten aufzuklären, und dessen historisches Selbstbewusstsein sie zu steigern erstrebten. Im Kontrast dazu stehen wir heute nicht vor der Aufgabe, die Erinnerung an diese historische politische Bewegung wachzuhalten, sondern dessen Form kritischen Bewusstseins, welches im Marxismus Ausdruck fand. Dieses Bewusstsein muss bis zu Marx‘ eigener theoretischen und politischen Tätigkeit zurückverfolgt werden.
Wenn Marx nun fälschlicherweise als Parteigänger und Verbreiter des Kommunismus gilt und nicht als dessen schärfster (immanenter) Kritiker, so riskiert man den Verlust der wichtigsten, wenn auch fragilen, Errungenschaft menschlicher Geschichte: das Bewusstsein von Potenzial im Kapital. Wie Marx bereits 1843 in seinem Brief an Ruge über die „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“ schrieb: „So ist namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion, […] [und] selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips."[22]
Das Potential für eine befreite Menschheit, ausgedrückt im Kommunismus, welches Marx in der modernen Geschichte des Kapitals erkannte, steht nicht in unmittelbarer Verbindung zu vormarxistischen oder nichtmarxistischen Formen des Sozialismus. Marx‘ Denken und politische Ansichten stehen nicht in einer kontinuierlichen Traditionslinie mit dem antiken Spartacus-Aufstand oder den Lehren der Apostel – genauso wenig führt Marx den radikalen Egalitarismus der Protestanten oder Jakobiner fort. In den Worten von Marx: „Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.“[23] Der Kommunismus als eine Ausdrucksform von Unzufriedenheit in der Gesellschaft des Kapitals sollte nach Marx somit nicht affirmiert, sondern kritisiert werden, um ihm so seine eigene Bedeutung bewusst zu machen. Er stellte für Marx ein Mittel, keinen Selbstzweck dar.
Was bedeutet es nun, dass heute der „Kommunismus“ – im Sinne Badious als Forderung nach „radikaler demokratischer Gleichheit“ – politisch fortbesteht, während der „Marxismus“ verschwunden ist? Badious Periodisierung der Geschichte des modernen Kommunismus innerhalb der Zivilisationsgeschichte löst den Marxismus in einen seiner Bestandteile auf, er liquidiert also den Marxismus in das transhistorische Prinzip „Kommunismus“. Jedoch hatte Marx einst den Anspruch, das moderne Phänomen des Kommunismus theoretisch und politisch zu erfassen und über sich selbst hinaus zu treiben, er begriff die sozialdemokratische Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts als konstituierenden Bestandteil von Kapital, als historisch spezifische Form der Menschheit. Was würde es heute also heißen, die Geschichte der modernen Gesellschaft des Kapitals durch Marx zu verstehen? Die Marxistische Hypothese proklamiert, dass solch ein Projekt möglich ist.
„Marx-ismus“
Am klarsten versteht man die wichtigsten Protagonisten der kommunistischen Bewegung nach Marx –Menschen wie Engels, Kautsky, Plechanow, Lenin, Luxemburg, Trotzki, Bucharin, Lukács, Stalin und Mao –, indem man sie als treue Erben von Marx begreift. Der Schlüssel zu ihrem Selbstverständnis liegt maßgeblich in deren Versuchen, ihre Politik praktisch und theoretisch „marxistisch“ zu begründen, wofür sie von ihren politischen Gegnern als sektiererische Dogmatiker, als religiöse Jünger des Marxismus angesehen wurden. Aber inwiefern sahen sie sich in der Nachfolge von Marx? Wie müssen wir die bisher größte und tiefgreifendste politische Bewegung der letzten zwei Jahrhunderte verstehen, welche von Leuten angeführt wurde, die in Debatten untereinander durchgängig Marx zitierten? Worüber genau stritten sie sich hierbei? Was waren – und sind potenziell immer noch – die realen politischen Konsequenzen dieser Dispute über die wahre Bedeutung von Marx?
Sicherlich wurde der Marxismus schon immer als Religion und Marx als Prophet verunglimpft. (Bspw. verwarf Leszek Kołakowski den Marxismus „als der farcenhafte Aspekt der menschlichen Unzulänglichkeit.“)[24] Aber was ist mit Marx als Philosophen? Selbst wenn Marx als politischer Denker komplett diskreditiert ist, so wählte trotz dessen bspw. eine Umfrage unter BBC-Hörern 2005 Marx zum „größten Philosophen aller Zeiten“, weit vor Sokrates, Kant, Nietzsche und anderen. Auf den ersten Blick erscheint diese Wahl nicht gerade als eine plausible Beurteilung von Marx, weder von seiner Theorie und Praxis noch als „Philosoph“ im Sinne des Fachs, es sei denn, Marx‘ Philosophie wird als Verweis darauf verstanden, dass die Probleme der modernen Gesellschaft, die er einst erkannte, immer noch ungelöst bleiben.[25] Soweit sein Ansehen als Denker betroffen ist, so scheint uns „Marxismus“ übrig zu bleiben, aber ohne Marx‘ eigene „kommunistische“ Politik: Der „Marxismus“ hat zwar als „Analyse“, aber ohne klare praktische Bedeutung überlebt; der „Kommunismus“ als Ethik ohne effektive politische Wirksamkeit. Was ist die Lösung dieses Rätsels?
Die Marxistische Hypothese besagt, dass, angesichts der Geschichte des Marxismus, die Beziehung zwischen Marx und „Kommunismus“ neu gebildet werden muss, und zwar in entschiedener nicht traditioneller Weise. Nicht weil der Kommunismus in Marx einen angesehenen Genossen fand – wenn auch wahrscheinlich mehr oder weniger achtbar als Andere –, sondern weil Marx‘ Denken und politisches Handeln ein einmaliges, nicht weiter zerlegbares Modell bildet, welches weiterhin einen hohen Anspruch an uns heute stellt und nach dem wir weiterhin trachten müssen. Genau dies stellt den noch heute möglichen Wert des „Marx-ismus“ dar. Heutzutage stellt sich nicht die Frage nach der Zukunft des Kommunismus, wie Badiou meinen würde, sondern die nach der Zukunft von Marx.
Um über die mögliche Zukunft des Marxismus zu sprechen, muss man zunächst Marx‘ eigenen Marxismus und seine politischen Implikationen wieder aufgreifen.
Marx im Jahr 1848
Marx beteiligte sich unmittelbar nach Verfassen des Manifests an der 1848er-Revolution in Deutschland. Laut Marx war der Umstand, dass sich im Zuge der Revolution die Kapitalisten eher vor den Arbeitern, welche ihr bürgerliches Recht einforderten, als vor dem preußischen Staat, vor dem beide Klassen recht- und schutzlos waren, fürchteten, charakteristisch für den historischen Moment. Dies lag nicht im Konflikt zwischen Junkern und Kapitalisten begründet, sondern im aufkommenden Autoritarismus der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaft, einem globalen Phänomen. Dieser Autoritarismus charakterisierte nämlich auch die 1848er-Revolution in Frankreich, in welcher Napoleons Neffe Louis Bonaparte sich zunächst zum Präsidenten der zweiten Republik (1848-1852) wählen ließ, um sich nach seinem coup d’état als Kaiser des zweiten französischen Reiches (1852-70) krönen zu lassen. Seine Herrschaft drückte nicht das Interesse einer nicht-bürgerlichen Bauernklasse (Marx betonte den kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft) aus, sondern das Interesse aller Klassen der bürgerlichen Gesellschaft (inklusive dem “Lumpenproletariat”), welches jedoch in der Mitte des 19. Jahrhunderts krisenhaften Charakter annahm.[26] Oder, wie es Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte mit beißendem Witz auf den Punkt brachte, bürgerliche Ordnungsfanatiker wurden im Namen von Recht und Ordnung auf ihren Balkonen zusammengeschossen.[27] Bismarck, Disraeli und Napoleon III., die prägenden Herrscher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ähnelten einander sehr. Diesen Autoritarismus der post-1848er Gesellschaft, in welcher sich der Staat über die Gesellschaft erhebt, analysierte Marx als eine Situation, in der die Bourgeoisie nicht mehr, und das Proletariat noch nicht fähig ist, dem Kapital Herr zu werden.[28] Genau das kennzeichnete laut Marx die Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Badiou liefert im Gegensatz hierzu eine Erzählung von der Macht der herrschenden Klasse und des Widerstands der Unterdrückten gegen diese. Bereits 1848 war Marx ein Theoretiker des Kapitals und nicht von (sozio-politischen) Klassen, welche bloß “phantasmagorische” Spiegelbilder von Kapital sind.[29] Marx versuchte nicht, Kapital in eine Geschichtsschreibung von Klassenkämpfen unterzubringen, sondern Geschichte im Kapital,[30] unter welches soziale Kämpfe und deren Geschichte untergeordnet sind.[31]
Napoleon III. und Bismarck nach der französischen Niederlage in der Schlacht von Sedan, 1870
Kapitalismus, Kommunismus und der "Naturzustand"
Mit der Darstellung seines hypothetischen “Naturzustands” versuchte Jean-Jacques Rousseau, seine zeitgenössische Gesellschaft im kritischen Licht zu betrachten. Der Zweck seiner Kritik war es, die Gesellschaft näher an einen "natürlichen Zustand” zu bringen. Die liberale, bürgerliche Gesellschaft war für Rousseau ein Modell, nach dem man streben solle. Für ihn war der Mensch “von Natur aus” frei.* Menschen erlangen durch die Gesellschaft bürgerliche und sittliche Freiheit, eine höhere Form von Freiheit als die der tierischen, rein "physischen" Freiheit in der Natur. Als Tiere sind Menschen tatsächlich sogar unfrei, bloße Sklaven ihrer natürlichen Bedürfnisse und Instinkte. Nur in der Gesellschaft besteht für Menschen die Möglichkeit, Freiheit zu erlangen, und sich von ihrem naturgegebenen, tierischen Zustand zu emanzipieren.[32] Zur Zeit von Rousseaus Schaffen, d.h. in der Mitte des 18. Jahrhunderts, zeichnete sich das bürgerliche Freiheitsversprechen noch als reale Möglichkeit ab. Die bürgerliche Gesellschaft näherte sich in ihrem Streben dem “Naturzustand“ an, einem Zustand, in dem die Menschheit individuell und kollektiv ihr volles Potential, ihre Freiheit verwirklichen sollte. Bei Marx zielte der Kommunismus ebenfalls auf die Verwirklichung dieses Potentials ab. Das Bild des “primitiven Kommunismus”, eines Zustands unberührter menschlicher Natur, rekapitulierte Rousseaus Vision von der emanzipatorischen Qualität der bürgerlichen Gesellschaft. Kapitalismus bedeutet jedoch das gebrochene Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Gesellschaft verfällt in einen Naturzustand nach Hobbes (nicht Rousseau!), in einen “Krieg aller gegen alle” – eine Vorstellung, die Rousseau kritisiert hatte. Nach ihm war Gesellschaft nicht die bloße Einstellung gegenseitiger Feindseligkeiten, sondern die Verwirklichung von Freiheit. Außerdem weist die Menschheit erst in Gesellschaft einen “allgemeinen Willen” auf, welcher nicht auf die individuellen Einzelwillen reduzierbar ist; welcher mehr darstellt als die bloße Summe seiner Teile. Kein Leviathan, sondern eine “zweite Natur”, synonym für die Wiedergeburt menschlichen Potentials, sowohl individuell als auch kollektiv. Die menschliche Natur findet die Verwirklichung ihrer Freiheit nur in und durch die Gesellschaft, nur hier ist die Menschheit frei, sich zu entwickeln und zu transformieren, im guten wie im schlechten Sinne. Die Annäherung der Gesellschaft an den “Naturzustand” bedeutet in diesem Sinne also, den bestmöglichen Rahmen für die Verwirklichung menschlichen Potentials zu bieten. Der Kommunismus sollte nach Marx hierin Rousseau (nicht Hobbes!) folgen und das Potential und den eigenen Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft realisieren. Jedoch musste hierzu der Kommunismus zunächst sich seiner Ziele klar werden.
Kommunismus: nicht gegen die bürgerliche Gesellschaft des Kapitals, sondern in ihr, durch sie und über sie hinaus
Nach der Marxistischen Hypothese stehen Marx’ Denken und politische Ansichten in enger Beziehung zu einer der tiefgreifendsten Umwälzungen in der Geschichte der modernen Gesellschaft, ja, in der gesamten Menschheitsgeschichte: Der Aufstieg des “Industriekapitals” und dessen Epiphänomen, der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, welche an dieser Umwälzung teilnahm. Ihren Ausdruck fand diese Bewegung in der Forderung der Arbeiterschaft nach sozialer Demokratie, wobei Marx es für notwendig hielt, diese Bewegung zu höherem Selbst-Bewusstsein zu treiben, damit sie ihre Ziele erreichen kann.[33] Marx charakterisierte das Auftreten des Industriekapitals als Symptom der Krise der modernen Gesellschaft – oder sogar als ein Ereignis und Krise der “Naturgeschichte”[34] –, wobei sich der Menschheit die Wahl zwischen “Sozialismus oder Barbarei” stellte, wie es Luxemburg (Engels wiederholend) formulierte.[35] Die klassischen Formen bürgerlicher Politik (welche aus der Manufakturperiode des 17. und 18. Jahrhunderts stammten), d.h. Liberalismus und Demokratie, erwiesen sich als inadäquat, um die Probleme und Aufgaben der modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – Marx’ Moment – zu lösen. Laut Marx stellt sich die Menschheit hiermit einer neuen, bisher ungekannten Aufgabe, einer Aufgabe, welche bis heute unerledigt bleibt und immer mehr vernachlässigt wird.[36]
Unter den neuen Umständen des Industriekapitals wurden Liberalismus und Demokratie notwendig in ihrer Unmöglichkeit, und verweisen so auf ihre “dialektische” Aufhebung – Vollendung und Übersteigung durch Negation, oder Selbstüberwindung.[37] Liberalismus und Demokratie widersprechen sich unter diesen Kapital-istischen Verhältnissen nicht nur gegenseitig, sondern werden selbst-widersprüchlich. Es geht also nicht, wie bei Badiou und Žižek, um Kommunismus versus liberale Demokratie. Für Marx war der Kommunismus die politische Bewegung, welche auf die Möglichkeit der Überwindung der Notwendigkeit von Liberalismus und Demokratie verwies, oder das Überwinden der Notwendigkeit “bürgerlicher” Politik per se. Dies sollte jedoch durch die Politik der Arbeiterklasse hindurch erreicht werden, welche ihr bürgerliches Recht einforderte. Marx betrachtete die zeitgenössischen Strömungen des Sozialismus und Kommunismus als Ausdruck eines verspäteten bürgerlichen Radikalismus, welcher deshalb (als notwendige Erscheinungsform der Radikalisierung der bürgerlichen Gesellschaft) selbstwidersprüchlich und potentiell inkohärent erschien, jedoch nach Erlösung verlangte. Marx suchte nach dem Potential im Kapital, welches weiter ging als Forderungen nach mehr Liberalismus und mehr Demokratie. Spätere “Kommunisten” verloren diesen wichtigen Aspekt von Marx’ Denken aus den Augen, um stattdessen in die Antinomie des 20. Jahrhunderts zwischen Liberalismus und Sozialismus zu verfallen.[38] Die Marxistische Hypothese behauptet, dass Marx in seinem Denken weiter ging, als eine bloße Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft zu formulieren, sondern dass er die Möglichkeit einer weiteren qualitativen Umwälzung in der bürgerlichen Gesellschaft, durch sie und über sie hinaus erkannte. |P
Chris Cutrone ist Mitglied der Platypus Affiliated Society. Sein Artikel erschien ursprünglich in der englischen PR #29, Novemberausgabe 2010. Ins Deutsche übersetzt von Lucas Burisch.
[1] Alain Badiou, The Communist Hypothesis (London: Verso, 2010). (deutsch: Die kommunistische Hypothese. (morale provisoire #2) Übersetzt von Frank Ruda. Merve, Berlin 2011) Die Umschlaggestaltung des Buches (Goldener Stern auf rotem Grund und klein genug, um in jede Hosentasche zu passen) erinnert wohl nicht zufällig an die Mao-Bibel.
[2] Badiou, “The Communist Hypothesis,” New Left Review 49 (January–February 2008), S. 29–42.
[3] Dieser Aufsatz bildet außerdem die Grundlage für ein weiteres Buch, The Meaning of Sarkozy (London: Verso, 2008) (deutsch: Wofür steht der Name Sarkozy? Übersetzt von Heinz Jatho. Diaphanes, Zürich 2008)
[4] Badiou, “The Communist Hypothesis,” S. 34–35. [deutsche Übersetzung hier und im Folgenden LB]
[5] Ibid., S. 35. [siehe Fußnote 4]
[6] Ibid., S. 35–36. [siehe Fußnote 4]
[7] Ibid., S. 36–37. [siehe Fußnote 4]
[8] Siehe Adorno, “Jene zwanziger Jahre” in: Gesammelte Schriften Band 10/II
“Trotzdem hat die Vorstellung von den zwanziger Jahren als der Welt, in der man, [...], alles dürfen darf, als einer Utopie, auch ihr Wahres. [...] Allerdings sah es bloß so aus: bereits in den zwanziger Jahren war, durch die Ereignisse von 1919, gegen jenes politische Potential entschieden, das, wäre es anders gegangen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch die russische Entwicklung tangiert, den Stalinismus verhindert hätte.”
Somit lagen “die heroischen Zeiten vielmehr um 1910”. Siehe unten, Fußnote [13]
[9] Peter Preuss, Introduction to Friedrich Nietzsche, On the Advantage and Disadvantage of History for Life (Indianapolis: Hackett, 1980), 1. [siehe Fußnote 4]
[10] Siehe Louis Menands Einleitung zur 2003 erschienen Neuausgabe von Edmund Wilsons “To the Finland Station: A Study in the Writing and Acting of History”, in welcher er Bezug nimmt auf Wilsons Äußerung über Marx und Engels als philosophes einer zweiten Aufklärung und außerdem auf Folgendes hinweist:
“Marxism gave a meaning to modernity…. Marxism was founded on an appeal for social justice, but there were many forms that such an appeal might have taken. Its deeper attraction was the discovery of meaning, a meaning in which human beings might participate, in history itself. (xiii)”
[11] Siehe hierzu bspw. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit 1964/65. Hrsg. von Rolf Tiedemann Frankfurt a. M. 2001. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Bd. 13.)
[12] Immanuel Kant, “Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“(1784) online abrufbar auf: https://www.projekt-gutenberg.org/kant/absicht/absicht.html
[13] Beispielsweise verweist der Titel von Lenins Pamphlet “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” darauf was die Ära des “Imperialismus” für Lenin und zeitgenössische Marxisten bedeutete: Den Vorabend der Revolution. Das Selbstverständnis der Marxisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts legte die Geschichte des Marxismus in der Geschichte des Kapitals nieder, auch wenn ihre propagandistische Rhetorik irreführenderweise die Krise des Kapitals (ausgedrückt im Marxismus) als “unausweichlich/notwendig” proklamierte. Weiteres siehe unten, Fußnote [18].
[14]. Siehe Karl Korsch, Marxismus und Philosophie. C. L. Hirschfeld, Leipzig 1923. (Hrsg. von Erich Gerlach. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1966.)
[15]. Siehe hierzu Lars T. Lihs umfangreiche Arbeiten über Lenins “Kautskyanertum” bspw. in: Lenin Rediscovered: “What is to be Done?” in Context (Chicago: Haymarket Books, 2008).
[16] In der ersten, bedeutungsschweren Fußnote zu seinem Werk “Was tun?” (1902), formuliert Lenin es folgendermaßen:
“Beiläufig bemerkt: In der Geschichte des modernen Sozialismus ist es wohl eine einzig dastehende und in ihrer Art außerordentlich tröstliche Erscheinung, daß der Streit der verschiedenen Richtungen innerhalb des Sozialismus zum erstenmal aus einem nationalen zu einem internationalen geworden ist. [...] Heute [...] bilden die englischen Fabier, die französischen Ministerialisten, die deutschen Bernsteinianer und die russischen Kritiker eine einzige Familie, sie alle loben einander, lernen voneinander und ziehen gemeinsam gegen den „dogmatischen“ Marxismus zu Felde. Vielleicht wird die internationale revolutionäre Sozialdemokratie in diesem ersten wirklich internationalen Ringen mit dem sozialistischen Opportunismus genügend erstarken, um der schon seit langem in Europa herrschenden politischen Reaktion ein Ende zu bereiten?”
[17] Siehe Leo Trotzki: “Kunst und Revolution”, ein Leserbrief an den New Yorker Partisan Review vom 18.6.1938, zu finden online auf Deutsch unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/07/kunst.htm oder im englischen Original unter https://www.marxists.org/archive/trotsky/1938/06/artpol.htm:
“Nicht eine einzige fortschrittliche Idee begann mit einer Basis in der Masse, sonst wäre sie eben nicht fortschrittlich gewesen. Erst in ihrer letzten Phase findet eine Idee ihre Massen, vorausgesetzt natürlich, daß sie den Notwendigkeiten der Entwicklung entspricht. Alle großen Bewegungen haben als Splittergruppen älterer Bewegungen begonnen. [...] Die Marx-Engels-Gruppe entstand als Splittergruppe der linken Hegelianer. Die kommunistische Internationale entstand als Splittergruppe der sozialdemokratischen Internationale. Wenn diese Begründer fähig waren, sich eine Massenbasis zu verschaffen, so nur, weil sie die Isolierung nicht fürchteten. Sie wußten im Voraus, daß die Qualität ihrer Ideen sich in eine Quantität umwandeln würde. Diese Splittergruppen [...] trugen in sich den Keim der großen historischen Bewegungen von morgen.”
[18] Siehe Karl Korsch in “Marxismus und Philosophie”:
“Die Gründe, aus denen sich diese abermalige Umgestaltung und Weiterentwicklung der marxistischen Theorie unter jener eigentümlichen Ideologie der Rückkehr zur reinen Lehre des ursprünglichen oder wahren Marxismus vollzogen hat und noch vollzieht, sind ebenso leicht zu verstehen wie der unter dieser ideologischen Verkleidung verborgene wirkliche Charakter des ganzen Vorgangs. Was solche Theoretiker, wie Rosa Luxemburg in Deutschland und Lenin in Rußland, auf dem Gebiet der marxistischen Theorie wirklich vollbracht haben und noch vollbringen, ist die durch die praktischen Bedürfnisse der neuen revolutionären Periode des proletarischen Klassenkampfs geforderte Befreiung von jenen hemmenden Traditionen [der Sozialdemokratie], die heute »wie ein Alp« auf dem Gehirn auch derjenigen Arbeitermassen lasten, deren objektiv revolutionäre ökonomische und gesellschaftliche Lage mit diesen evolutionären Doktrinen schon längst nicht mehr übereinstimmt. Die scheinbare Wiederauferstehung der ursprünglichen Gestalt der marxistischen Theorie in der kommunistischen Dritten Internationale erklärt sich also einfach dadurch, daß in einer neuen revolutionären Geschichtsepoche natürlich mit der proletarischen Klassenbewegung selbst auch die theoretischen Sätze der Kommunisten, die den Ausdruck dieser Bewegung bilden, wieder die Form einer ausgesprochenen revolutionären Theorie annehmen müssen. Hierauf beruht es, daß wir heute so große Teile des marxistischen Systems, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fast vergessen schienen, in neuer Kraft wieder aufleben sehen.”
Weiteres zur Signifikanz von Korschs Aufsatz in der englischen Platypus Review #15 (September 2009): http://platypus1917.org/2009/09/03/book-review-karl-korsch-marxism-and-philosophy/
[19] Adorno interpretiert in seinen “Reflexionen zur Klassentheorie” (1942) die Perspektive des Manifests von Marx und Engels unmissverständlich folgendermaßen:
“Geschichte ist, der Theorie zufolge, Geschichte von Klassenkämpfen. Aber der Begriff der Klasse ist mit dem Auftreten des Proletariats verbunden. [...] In der Ausdehnung des Klassenbegriffs auf die Vorzeit [...] wendet [sie] sich gegen die Vorzeit selber. [...] Indem die Kritik der politischen Ökonomie die historische Notwendigkeit aufweist, die den Kapitalismus zur Entfaltung brachte, wird sie zur Kritik der ganzen Geschichte, [...]. [...] Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte.” (GS 8: 373-374)
[20] Walter Benjamin, “Erfahrung und Armut” (1933) in: Gesammelte Schriften Band 2/I, S.213-219
[21] Siehe hierzu Jeffrey Sachs über den Begriff “Anthropozän”, abrufbar online auf http://www.bbc.co.uk/radio4/reith2007/lecture2.shtml:
“‘The Anthropocene’—a term that is spectacularly vivid, a term invented by one of the great scientists of our age, Paul Crutzen, to signify the fact that human beings for the first time have taken hold not only of the economy and of population dynamics, but of the planet’s physical systems, Anthropocene meaning human-created era of Earth’s history. The geologists call our time the Holocene—the period of the last thirteen thousand years or so since the last Ice Age—but Crutzen wisely and perhaps shockingly noted that the last two hundred years are really a unique era, not only in human history but in the Earth’s physical history as well.”
[22] Marx’ Brief an Ruge, September 1843 in: MEW Band 1, S. 344
[23]. Marx, Ökonomisch-Philosophie Manuskripte von 1844 in: MEW Bd. 40, S.546
[24] Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Bd. 3, Piper: München 1978, S. 575.
[25] Siehe Robert Pippin, “Critical Inquiry and Critical Theory: A Short History of Nonbeing,” Critical Inquiry 30.2 (Winter 2004), 424–428, online unter http://criticalinquiry.uchicago.edu/issues/v30/30n2.Pippin.html:
“[T]he dim understanding we have of the post-Kantian situation with respect to, let’s say, “the necessary conditions for the possibility of what isn’t” … is what I wanted to suggest. I’m not sure it will get us anywhere. Philosophy rarely does. Perhaps it exists to remind us that we haven’t gotten anywhere. (428)”
[26] Siehe Marx, “Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850” (MEW Bd. 7, S.9-107) und “Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte” (MEW Bd. 8, S.111-207).
[27] Marx: “Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte”:
“Jede Forderung der einfachsten bürgerlichen Finanzreform, des ordinärsten Liberalismus, des formalsten Republikanertums, der plattesten Demokratie, wird gleichzeitig als „Attentat auf die Gesellschaft“ bestraft und als „Sozialismus“ gebrandmarkt. [...] Ordnungsfanatische Bourgeoisie auf ihren Balkonen werden von besoffenen Soldatenhaufen zusammengeschossen, ihre Häuser werden zum Zeitvertreib bombardiert – im Namen des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung.” (MEW Bd. 8, S.123)
[28] Diesen Umstand stellt Engels in seiner Einleitung zu Marx, “Der Bürgerkrieg in Frankreich” recht gut dar. (MEW Bd. 22, S.188-199
[29] Siehe Marx, “Das Kapital: Kritik der Politischen Ökonomie”, MEW Bd.23, S.86
[30] Siehe Chris Cutrone, “Das Kapital in der Geschichte” aus der engl. PR #7 (Oktober 2008), übersetzt ins Deutsche abrufbar unter https://platypus1917.org/2008/10/01/das-kapital-in-der-geschichte-uber-die-notwendigkeit-einer-marxistischen-geschichtsphilosophie-der-linken/
[31] Siehe Platypus Historians Group, “Introduction to the History of the Left: Changes in the meaning of class struggles,” engl. PR #3 (März 2008), online unter http://platypus1917.org/2008/03/01/introduction-to-the-history-of-the-left-changes-in-the-meaning-of-class-struggles/.
[32] Siehe Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, Buch 1, Kapitel 8: “Das Staatsbürgertum”. online abrufbar unter: https://www.textlog.de/rousseau_vertrag.html
[33] Siehe Marx’ Brief an Ruge, September 1843
[34] Siehe oben Fußnote [21]. Hierzu auch Adorno, “Die Idee der Naturgeschichte” (1932) in: Gesammelte Schriften Bd. 1: “[Es] ist nicht das der Ergänzung einer Theorie durch eine andere, sondern das der immanenten Auslegung einer Theorie. Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik.”
[35] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie in: Gesammelte Werke Bd. 4 online unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/index.htm: “Friedrich Engels sagte einmal: die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.” (GW Bd.4, S.62)
[36] Siehe Korsch, “Marxismus und Philosophie”:
“[Es] muß natürlich gelten, was Marx im Vorwort zur Politischen Ökonomie über die Menschheit im ganzen sagt: daß sie sich »immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind«. Und hieran ändert sich auch dadurch nichts, daß die für die nunmehrigen Verhältnisse transzendente Aufgabe in einer früheren Epoche theoretisch schon einmal formuliert gewesen ist.”
[37] Hierzu Weiterführendes in Marx’ Frühschriften, genauer “Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie” (MEW Bd.1, S.201-336), “Zur Judenfrage” (MEW Bd.1, S.347-377) und “Das Elend der Philosophie” (MEW Bd. 4, S.63-182), welche den Ausgangspunkt für seine reiferen Werke bilden.
[38] Für Marx und Engels wiederum bestand kein notwendiger Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Freiheit, bzw. in diesem Sinne Liberalismus und Sozialismus: “An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.” (“Manifest der Kommunistischen Partei” in: MEW Bd. 4, S.482)
Weiterführende Gedanken über den antinomischen Verfall der ursprünglichen Marxschen Perspektive finden sich in folgenden Artikeln:
Chris Cutrone, “1917-The Decline of the Left in the 20th Century: Toward a theory of historical regression”, engl. PR #17 (November 2009), online unter https://platypus1917.org/2009/11/18/the-decline-of-the-left-in-the-20th-century-1917/.
Ders., “Obama and Clinton: ‘Third Way’ politics and the ‘Left’”, engl. PR #9 (Dezember 2008), online unter http://platypus1917.org/2008/12/01/obama-and-clinton-third-way-politics-and-the-left/
Platypus Historians Group, “Friedrich Hayek and the legacy of Milton Friedman: Neo-liberalism and the question of freedom (in part, a response to Naomi Klein)”, engl. PR #8 (November 2008), online unter http://platypus1917.org/2008/11/01/friedrich-hayek-and-the-legacy-of-milton-friedman-neo-liberalism-and-the-question-of-freedom/
* James Miller formulierte es in seiner Einleitung zu Rousseaus “Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen” 1992 folgendermaßen:
“The principle of freedom and its corollary, “perfectibility” … suggest that the possibilities for being human are both multiple and, literally, endless…. Contemporaries like Kant well understood the novelty and radical implications of Rousseau’s new principle of freedom [and] appreciated his unusual stress on history as the site where the true nature of our species is simultaneously realized and perverted, revealed and distorted. A new way of thinking about the human condition had appeared…. As Hegel put it, “The principle of freedom dawned on the world in Rousseau, and gave infinite strength to man, who thus apprehended himself as infinite.” (XV) (Rousseau, Discourse on the Origin of Inequality (Indianapolis: Hackett, 1992)