
Nach dem Tod von Marx und Engels erfährt der Marxismus mit dem rasanten Wachstum der Arbeiterbewegung und der Entstehung der Zweiten Internationale den Charakter einer politiÂschen Massenbewegung, die sich in alle Teile der Welt verbreitet. Wir mĂśchten im ersten Teil des Lesekreises genauer betrachten, worin der berĂźhmt-berĂźchtigte Marxismus der ArbeiterbeÂwegung bestanden und welche Krise ihn vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges erfasst hat. Der Kampf gegen diese âKrise des Marxismusâ hat mit der Oktoberrevolution und der deutschen Arbeiterrevolution von 1918-19 einen welthistorischen MaĂstab erreicht, der die Hoffnungen und Katastrophen des zwanÂzigsten Jahrhunderts vorbereitete. Was war das Ziel der 1917 eingeleiteten internationalen Revolution und wie ist diese gescheitert? Welche politischen und ideologischen Konsequenzen folgten daraus?
Um diese Fragen näher zu beleuchten, werden wir uns in der zweiten Hälfte des Semesters mit den Reflexionen dieser Entwicklungen beschäftigen, wie sie von zentralen Figuren der Frankfurter Schule entwickelt wurden. Mit LukĂĄcs, Benjamin, Horkheimer und Adorno werden wir die Spannung, Kontinuität und Differenz zu den Vertretern der klassischen Periode des Marxismus entwickeln und uns somit ein bedeutendes Instrumentarium zum Verständnis der gegenwärtigen Welt anzueignen suchen. Das problematische Verhältnis von Theorie und PraÂxis im Marxismus und seiner Entwicklung hat die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts entscheiÂdend geprägt und hinterlässt seine Narben bis in die Gegenwart. Mit der Erforschung dieses Verhältnisses mĂśchten wir Aufschluss darĂźber erhalten, wie die Vergangenheit unsere eigene Imagination der Zukunft in Bann hält.
WĂśchentlich montags ab dem 17.04.
18:30â21:30 Uhr
216 HF-Hauptgebäude, S144
Gronewaldstr. 2, 50931 KĂśln
FĂźr eventuelle Fragen kĂśnnt ihr gerne eine Mail schreiben: platypus.koeln@gmail.com
Die Texte werden im Voraus gelesen und dann zusammen diskutiert. Neueinsteiger/innen sind herzlich willkommen. Vorkenntnisse werden keine benĂśtigt.
- vorausgesetzte / + empfohlene Texte
Empfohlene Vorbereitungs- und Hintergrundliteratur
+ Edmund Wilson: âTo the Finland Station: A Study in the Writing and Acting of Historyâ (1940), Part II. Ch. (1â4,) 5â10, 12â16; Part III. Ch. 1â6
+ Carl Schorske, The SPD 1905-17: The Development of the Great Schism (1955)
+ Leszek Kolakowski: âDer Sinn des Begriffes âLinkeââ (1958)
+ J.P. Nettl, Rosa Luxemburg(1966) [Vol. 1] [Vol. 2]
+ James Joll: âThe Second International 1889â1914â (1966)
+ Sebastian Haffner: âDie deutsche Revolution 1918/19â (1968)
+ Richard Appignanesi and Oscar Zarate / A&Z: âLenin fĂźr Anfängerâ (1977)
+ Tariq Ali and Phil Evans: âTrotzki fĂźr Anfängerâ (1980)
Sitzungen
Woche 1. Revolutionäre Fßhrung | 17.04.2023
⢠Rosa Luxemburg, âDie âJunius-BroschĂźreâ / Krise der Sozialdemokratieâ Teil I. (1916)
⢠J. P. Nettl, âThe German Social Democratic Party 1890â1914 as a Political Modelâ (1965)
⢠Cliff Slaughter, âWhat is Revolutionary Leadership?â (1960)
Woche 2. Reform oder Revolution? | 24.04.2023
⢠Luxemburg, âSozialreform oder Revolutionâ (1899)
+ Eugene Debs, âCompetition vs. Cooperationâ (1900)
Woche 3. Lenin und die Avantgardepartei | 03.05.2023
⢠Spartakist-Broschßre, Lenin und die Avantgardepartei (1978)
+ Richard Appignanesi and Oscar Zarate / A&Z, Introducing Lenin and the Russian Revolution / Lenin for Beginners (1977)
Woche 4. Was tun? | 08.05.2023
⢠W. I. Lenin, âWas tun?â (1902)
+ Richard Appignanesi and Oscar Zarate / A&Z, Introducing Lenin and the Russian Revolution / Lenin for Beginners (1977)
Woche 5. Massenstreik und Sozialdemokratie | 15.05.2023
⢠Luxemburg, âMassenstreik, Partei und Gewerkschaftenâ (1906)
+ Luxemburg, âBlanquismus und Sozialdemokratieâ (1906)
Woche 6. Permanente Revolution | 22.05.2023
⢠Leo Trotzki, âErgebnisse und Perspektivenâ (1906)
+ Tariq Ali and Phil Evans, Introducing Trotsky and Marxism / Trotsky for Beginners (1980)
Woche 7. Staat und Revolution | 31.05.2023
⢠Lenin, âStaat und Revolutionâ (1917)
Woche 8. Imperialismus | 05.06.2022
âEs ist die Sache der Bourgeoisie, die Trusts zu fĂśrdern, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu martern, zu korrumpieren, unsäglichem Elend preiszugeben. Wir âunterstĂźtzenâ diese Entwicklung nicht, wir âfordernâ so etwas nicht, wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir erklären, die Trusts und die Fabrikarbeit der Frauen sind progressiv. Wir wollen nicht zurĂźck, zum Handwerk, zum vormonopolistischen Kapitalismus, zur Hausarbeit der Frauen. Vorwärts Ăźber die Trusts usw. hinaus und durch sie zum Sozialismus.â
â Lenin: Das Militärprogramm der proletarischen Revolution (1916)
â˘Â Lenin, âDer Imperialismus als hĂśchstes Stadium des Kapitalismusâ (1916)
+ Lenin, âSozialismus und Kriegâ (1915)
Woche 9. Scheitern der Revolution | 12.06.2023
⢠Luxemburg, âWas will der Spartakusbund?â (1918)
⢠Luxemburg, âUnser Programm und die politische Situationâ (1918)
+ Luxemburg, âDie Sozialisierung der Gesellschaftâ (1918)
+ Luxemburg, âDie russische TragĂśdieâ (1918)
+ Luxemburg, âDie Ordnung herrscht in Berlinâ (1919)
+ Eugene Debs, âThe Day of the Peopleâ (1919)
+ Sebastian Haffner: âDie deutsche Revolution 1918/19â (1968) [engl. PDF]
Woche 10. RĂźckzug nach der Revolution | 19.06.2023
⢠Lenin, âDer âLinke Radikalismusâ, die Kinderkrankheit im Kommunismusâ (1920)
+ Lenin, âNotizen eines Publizistenâ (1922/24)
Woche 11. Dialektik der Verdinglichung | 26.06.2023
⢠Georg LukĂĄcs, âDer Standpunkt des Proletariatsâ (= Teil III. des Kapitels âDie Verdinglichung und das BewuĂtsein des Proletariatsâ) in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923)
+ Being and becoming (freedom in transformation) / immanent dialectical critique chart of terms
+ Commodity form chart of terms
+ Capitalist contradiction chart of terms + Organic composition of capital chart of terms
+ Reification chart of terms
+ LukĂĄcs, âDas Phänomen der Verdinglichungâ (Teil I des Kapitels âDie Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariatsâ, in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923)
Woche 12. Lehren des Oktobers | 03.07.2023
⢠Trotzki, â1917 â Die Lehren des Oktobersâ (1924)
⢠Trotzki, âBolschewismus und Stalinismusâ (1937)
Woche 13. Trotzkismus | 10.07.2023
+ Trotzki, âTo Build Communist Parties and an International Anewâ (1933)
+ Trotzki, âWenn Amerika kommunistisch wĂźrdeâ (1934)
⢠Trotzki, âDer Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationaleâ (Das Ăbergangsprogramm) (1938)
+ Trotzki, âDie Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangsâ (1940)
+ Trotzki, âBrief an James P. Cannonâ (1939)
Woche 14. Der autoritäre Staat | 17.07.2023
⢠Friedrich Pollock, âStaatskapitalismusâ (1941)
⢠Max Horkheimer, âAutoritärer Staatâ (1940/1942)
+ Capitalist contradiction chart of terms
Woche 15. Ăber den Begriff der Geschichte | 24.07.2023
⢠epigraphs by Louis Menand (on Edmund Wilson) and Peter Preuss (on Nietzsche) on the modern concept of history
+ Charles Baudelaire, from FusĂŠes [Rockets] (1867)
+ Bertolt Brecht, âAn die Nachgeborenenâ (1939)
+ Walter Benjamin, âZum Planetariumâ (aus: EinbahnstraĂe, 1928)
+ Benjamin, âFeuermelderâ (aus: EinbahnstraĂe, 1928)
+ Benjamin, âErfahrung und Armutâ (1933)
+ Benjamin, Theologisch-politisches Fragment (1921/39?)
+ Benjamin on history chart of terms
⢠Benjamin, âĂber den Begriff der Geschichteâ (1940)
⢠Benjamin, âParalipomena zu den Thesen Ăber den Begriff der Geschichteâ (1940)
+ Benjamin, Das Passagen-Werk Konvolut N, âErkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschrittsâ (v. a. S. 588 f.)
+ Being and becoming (freedom in transformation) / immanent dialectical critique chart of terms
Woche 16. Reflexionen Ăźber den Marxismus | 31.07.2023
+ Capital in history timeline and chart of terms
+ Benjamin on history chart of terms
⢠Theodor Adorno, âReflexionen zur Klassentheorieâ (1942)
⢠Adorno, âAusschweifungâ (Anhang Minima Moralia) (1944â47)
+ Being and becoming (freedom in transformation) / immanent dialectical critique chart of terms
+ Adorno, âZueignungâ, âVermächtnisâ, âVor MiĂbrauch wird gewarntâ und âZum Endeâ aus Minima Moralia (1944-47)
+ Horkheimer and Adorno, Diskussion Ăźber Theorie und Praxis (1956)
Woche 17. Theorie und Praxis | 07.08.2023
+ Adorno, âZu Subjekt und Objektâ (1969)
+ Commodity form chart of terms
+ Reification chart of terms
+ Capitalist contradiction chart of terms
+ Adorno's critique of actionism chart of terms
⢠Adorno, âMarginalien zu Theorie und Praxisâ (1969)
⢠Adorno, âResignationâ (1969)
+ Being and becoming (freedom in transformation) / immanent dialectical critique chart of terms
+ Adorno, âSpätkapitalismus oder Industriegesellschaft?â (1968) [Audio]
+ Organic composition of capital chart of terms
+ Esther Leslie, Introduction to the 1969 Adorno-Marcuse correspondence (1999)
+ Adorno and Herbert Marcuse, âBriefwechsel Ăźber die Neue Linkeâ [Dokumente Nr. 300, 313, 322, 336, 338, 340 & 349] (1969)
+ Der Spiegel, Interview mit T. W. Adorno: âKeine Angst vor dem Elfenbeinturmâ (1969)
Die Coffee Break soll primär einen Raum bieten fßr Diskussionen, Fragen und Anregungen zum Platypus-Projekt oder fßr Gedanken, die durch Artikel der Platypus Review* aufgeworfen wurden.
Daneben bietet es die MÜglichkeit sich in lockerer Atmosphäre ßber die gegenwärtige Lage der Linken auszutauschen, ßber aktuelle politische Themen zu diskutieren oder sich ßber Platypus zu informieren.
Neue Gesichter und Perspektiven sind immer willkommen. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!
In diesem Semester wird die Coffee Break immer donnerstags ab 14 Uhr im LiteraturcafĂŠ "Anna Blume" im IG 0156 auf dem IG-Farben Campus stattfinden (meist im hinteren Raum der Anna Blume). Haltet nach dem Schnabeltier Ausschau.
*Die Platypus Review ist eine monatlich erscheinende Zeitschrift, die als Plattform fĂźr den Diskurs innerhalb der Linken dient und liegt an verschiedenen Orten (z.B. KoZ, TurmCafĂŠ, Exzess, PhilocafĂŠ usw.) kostenlos aus.
WS 14/15, Dienstags 18-21 Uhr, Raum K2 Studierendenhaus Uni Campus Bockenheim
Eine Veranstaltung der Platypus Affiliated Society Deutschland. Mit freundlicher UnterstĂźtzung der Rosa Luxemburg Stiftung.
Mit:
Pablo Graubner (SDAJ)
Thomas Lohmeier (Die Linke/prager frĂźhling)
Karin (Interventionistische Linke/No Troika)
Stefan Torak (campusantifa/ M31)
Mittwoch, 5. Juni
19-22h
Festsaal, Studierendenhaus (Ăźber KOZ)
Campus Bockenheim
Frankfurt am Main
Mit der EinfĂźhrung des Euro im Jahr 2002 als gemeinsamer Währung der Europäischen Union und dem damit einhergehenden Integrationsprozess der EU wurde eine weitgehende politische Stabilisierung Europas angestrebt. Gleichzeitig wurde durch den Euro jedoch auch eine Freihandelszone geschaffen, von der in erster Linie die starke Exportwirtschaft Deutschlands profitierte. Besonders seit der EinfĂźhrung der Hartz-Reformen unter Gerhard SchrĂśder und der extremen Ausweitung des Niedriglohnsektors auf dem deutschen Arbeitsmarkt begannen strukturell schwächere Ăkonomien wie Griechenland, Spanien und Italien, aber auch Frankreich und Belgien, zu stagnieren oder drifteten gar in eine groĂe Rezession ab. Aus dieser Perspektive betrachtet, hatte der Prozess der Europäischen Integration einen gegenteiligen Effekt als ursprĂźnglich intendiert: Unter der gegenwärtigen Wirtschaftskrise hat es den Anschein, als ob Europa zerfällt, und in vielen Ländern befinden sich nationalistische Separationsbewegungen im Aufwind, wie in Norditalien, Flandern oder im Elsass.
Die Krise drĂźckt sich also nicht nur in einem Ăśkonomischen, sondern auch in einem politischen Zerfallsprozess aus: Statt einer transnationalen europäischen FĂśderation kehrt in Europa das alte Gespenst des Nationalismus wieder ein. Daneben fĂźhlen sich viele Menschen innerhalb der EU ohnmächtig und entmĂźndigt in Anbetracht der Entdemokratisierung im Zuge der Austeritätspolitik. Dies geht einher mit einem Vertrauensverlust in klassische politische Institutionen wie Parteien und Parlamente. Selbst der Erfolg von SYRIZA in Griechenland lässt sich nicht erklären ohne BerĂźcksichtigung der sozialen Bewegungen, die der Partei starken Aufwind verschafften. Auch in anderen Ländern der EU drĂźckt sich der Protest gegen die sog. âTroikaâ im Erstarken auĂerparlamentarischer Bewegungen aus, wie der âIndignadosâ in Spanien oder âBlockupyâ in Deutschland.
Laut Eigendarstellung von âBlockupyâ ist es Ziel des BĂźndnisses, âgegen das autoritäre Krisenmanagement und die Troika-Politik Widerstand zu leisten, um die demokratischen und sozialen Rechte der Beschäftigten, Prekarisierten und Erwerbslosen in Europa zu verteidigen.â Doch wogegen genau richtet sich dieser Widerstand? Gegen Ăśkonomische Institutionen wie die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfond? Oder gegen die neoliberale Ideologie als solche? In welche Richtung weist so ein Widerstand? ZurĂźck zum Wohlfahrtsstaatsmodell des Fordismus? Oder kĂśnnen die Proteste gar der Beginn einer neuen anti-kapitalistischen Ausrichtung der europäischen Linken bedeuten? Wäre die EU dabei als transnationale FĂśderation erhaltenswert oder gehĂśrt sie abgeschafft? Was wĂźrde an ihre Stelle treten? Wie wĂźrde ein demokratisches Europa aussehen und welche Verantwortung kommt dabei Parteien und Parlamenten zu? Wie also sieht die Zukunft linker Politik in Europa aus? Welche MĂśglichkeiten auf Erfolg bestehen fĂźr die neuen Protestbewegungen? Und wie wĂźrde ein solcher Erfolg Ăźberhaupt definiert werden?