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Die deutsche Linke fällt progressiven Kräften in Israel in den Rücken

Platypus Review #32 | Juli/August 2024

Ein Gespräch mit Michael Sappir über das Verhältnis der Antideutschen zur israelischen Linken

Michael Sappir war von 2022 bis 2023 Redaktionsleiter der SDS-Zeitung critica und Mitbegründer des Jüdisch-israelischen Dissens Leipzig. Zusammen mit Lena Obermaier ist er Co-Host vom Podcast Parallelwelt Palästina. Das Interview wurde von den Platypus-Mitgliedern Jan Bielesch-Hemminger und Jakob Trescher am 3. Mai 2024 geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.

Jan Bielesch-Hemminger: Wie bist du zur Linken gekommen und wie wurdest du politisiert?

Michael Sappir: Das lässt sich nicht so einfach verkapseln. Ich bin in der sogenannten „Zionistischen Linken“ aufgewachsen, in Israel. In einer liberalen Umgebung, die aber trotzdem dem herkömmlichen Nationalismus dort anhängt. Meine Eltern sind seit Langem sehr kritisch gegenüber Israels Umgang mit den Palästinenser:innen. Sie sprechen auch beide arabisch und haben viele palästinensische Freunde, sodass sie auch im direkten Kontakt mit der Situation in Palästina waren. Zumal in den 90er Jahren der Verkehr zwischen dem Kernland Israels und den besetzten Gebieten sehr offen war. Man konnte dort leicht Leute besuchen. 

Ich bin mit 19 Jahren direkt nach meinem Zivildienst nach Deutschland gezogen, ohne dass ich mich viel mit der Lage dort beschäftigen wollte. Das hat sich nach und nach aus verschiedenen Gründen geändert und vor allem vor dem Hintergrund der weltweiten Protestwelle 2011/12 kam ich tiefer ins Gespräch über politische und ökonomische Themen, habe den Marxismus kennengelernt und mich ziemlich rapide radikalisiert. Gleichzeitig kam ich im Netz in Kontakt mit der dritten und vierten Welle des Feminismus, was mich auch sehr beeinflusst hat. 2012 bin ich zurück nach Israel gezogen und wollte Teil der Entwicklungen vor Ort sein. Ich bin wirklich von dem Tag, an dem ich gelandet bin, aktiv geworden in der radikalen Linken in Tel Aviv und habe mich in den Jahren immer mehr mit Theorie und verschiedensten Themen beschäftigt. Aber vor allem mit dem zentralen Thema der radikalen Linken vor Ort – und das ist die Besatzung, die Apartheid, überhaupt die Beziehungen mit den Palästinenser:innen und mit der Region.

Jakob Trescher: Du warst ja auch Mitbegründer des Jüdisch-Israelischen Dissens (JID). Was war denn das spezifische Anliegen der Gründung des JID, wieso wurde er gegründet?

MS: JID gründete sich aus ein paar Freundesgruppen von jüdisch-israelischen Aktivist:innen, die in Leipzig lebten und noch leben. Ich bin jetzt inzwischen in Berlin und nicht mehr aktiv Teil von JID, weil es eine Leipziger Gruppe ist. Wir sind alle in den 2010ern nach Leipzig gekommen. Auch ich bin 2019 wieder nach Deutschland gekommen. Wir waren alle sehr frustriert über den Umgang mit dem Thema Israel-Palästina in der Leipziger Linken. Wir hatten das Gefühl, es wird viel darüber gesprochen, aber nie mit Linken von dort und auch nicht mit uns. Wir haben uns eigentlich hauptsächlich als Gesprächsangebot gegründet, um einen Dialog anbieten zu können und Perspektiven aus Israel in Leipzig sichtbar und hörbar zu machen. 

JT: Hat sich das Anliegen des JID über die Jahre geändert? 

MS: Der Kern hat sich nicht sehr geändert, aber wir haben nach und nach festgestellt, dass keine große Bereitschaft für ein differenziertes Gespräch da ist. Wir haben immer versucht, Veranstaltungen zu organisieren. Entweder kamen immer nur Leute, die schon auf unserer Seite waren oder sie haben sich nicht zu Wort gemeldet.

Einmal haben wir mitbekommen, dass jemand aus der antideutschen Ecke gekommen ist und sehr empört über unsere Veranstaltung war. Das hat uns die Person aber erst Monate danach per Mail geschrieben, vor Ort wussten wir das gar nicht. Die Leute, die wir eigentlich erreichen wollten, kamen nicht wirklich ins Gespräch mit uns. Was sich auch geändert hat im Laufe der Jahre, ist, dass sich eine sehr enge Zusammenarbeit mit Handala Leipzig aufgebaut hat. Dass der Kampf binational zusammen mit palästinensischen Aktiven geführt wird, war für uns ziemlich natürlich und ein Muss. Das bedeutet nicht, dass man sich über alles einig ist, darüber gibt es auch direkte Gespräche. 

JB: Da du die Antideutschen erwähnt hast: Die antideutsche Position zu dem Konflikt ist ja eine ziemlich einmalige, wenn man die Linke international betrachtet. Mich würde interessieren, wie stehst du zu dieser Haltung? Oft wird die deutsche Sonderverantwortung gegenüber Israel aufgrund der Shoah betont und das impliziert, dass man auch als Linker eine unbedingte Solidarität mit dem Staat haben sollte. Mich würde interessieren, was deine Perspektive dazu als Israeli ist. Wie siehst du das? Wie sieht das die Linke in Israel?

MS: Letzteres ist ziemlich einfach zu beantworten. Die Linke in Israel kriegt das nicht mit und wenn man es ihnen erzählt, sind sie erstmal schockiert und lachen. Man muss dazu sagen, das hat auch damit zu tun, dass die Linke sich seit Jahrzehnten vor allem durch die Haltung zu den Palästinenser:innen definiert und nicht über klassische sozio-ökonomische Themen, wie man es in Europa kennt. Das ist fast, als würde ich zu dir als in Deutschland sozialisierter Linker kommen und sagen: Bei uns gibt es viele Linke, die Kapitalismus toll finden. Das widerspricht eben dem Kern des linken Anliegens für Israelis. 

Meine erste Begegnung mit Antideutschen war 2011 auf Protesten in Leipzig und ich habe zu der Zeit versucht, diese Bewegung zu verstehen. Ich habe sehr viel zu kritisieren. Aber ich finde, es ist absolut verständlich, dass die Menschen in Deutschland gegenüber dem jüdischen Volk eine besondere Verantwortung verspüren. Dagegen habe ich auch nichts einzuwenden. Ich glaube aber, es gibt ein paar Kurzschlüsse in dem Gedankengang. Einerseits die Identifikation von Juden und Israel und andererseits die Identifikation von der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Staat. Das war zur Gründungszeit der Antideutschen noch nicht so, aber inzwischen bekennt sich der deutsche Staat sehr aggressiv zu dieser besonderen Verantwortung gegenüber Israel. Mir fehlt es sehr an sichtbar kritischer Auseinandersetzung damit aus der antideutschen Ecke. 

In den wenigen direkten Gesprächen, die ich mit Antideutschen hatte, habe ich wahrgenommen, dass es schon Kritik daran gibt, dass dieses Bekenntnis zu Israel instrumentalisiert wird. Öffentlichkeitswirksam findet man keine Opposition aus der antideutschen Ecke, wie der deutsche Staat das handhabt und wie das rassistisch umgesetzt wird. Stattdessen sieht man, dass Antideutsche indirekt vielmehr bei der Legitimierung deutscher Staatsgewalt helfen, indem sie erklären, warum Menschen aus Nahost die neuen Nazis sind. Was ja genau die Rechtfertigung seitens des Staates ist, warum man hart durchgreifen sollte gegen migrantische Communities, die pro-palästinensisch eingestellt sind. Das ist im Endeffekt auch eine andere Art der Entlastung von der deutschen Verantwortung, wenn jetzt andere die neuen Nazis sind. Dann darf man als Deutscher der neue Anti-Nazi sein oder in manchen Fällen, wie man leider auch beobachtet, der neue Jude. Das hat vielleicht nichts mit den Antideutschen direkt zu tun, aber als Beispiel kann man Sebastian Engelbrecht anführen. Er ist ein Journalist, der auf Deutschlandfunk Kultur vor ein paar Monaten gegenüber der Strike Germany Initiative – diesem Boykott seitens Kulturschaffender gegen deutsche Institutionen – erklärt, dass der Bann des Antisemitismus auf ganz Deutschland angewandt werde, weil Deutschland das Land der Judenfreunde sei.1 Ich glaube, das ist so eine absurde Überspitzung einer Haltung, die viel zu weit verbreitet ist, gerade in Ecken, in denen man sich kritisch gegenüber Antisemitismus gibt. 

Das trägt einerseits dazu bei, dass in Deutschland auch in der Linken kaum eine sachliche Diskussion über die Verhältnisse vor Ort in Israel-Palästina stattfindet, weil man stattdessen immer über den möglicherweise hinter mancher Aussage steckenden Antisemitismus diskutiert, aber nicht um die Evidenz von Begrifflichkeiten wie Apartheid oder Genozid. Stattdessen diskutiert man vielmehr über den Begriff an sich oder man zieht anstatt Evidenz einfach rechte Propaganda aus Israel heran, weil man so sehr glauben will, dass Israel unschuldig sei, was offenbar nicht der Fall ist. Das alles führt dazu, dass Deutschland und auch die deutsche Linke eine sehr destruktive Rolle spielen, was die Verhältnisse vor Ort angeht. Gerade jetzt, während dieses genozidalen Rachefeldzugs im Gazastreifen, ist Deutschland der zweitgrößte Waffenlieferant neben den USA.2 Dieser Krieg könnte in der Form nicht so lange durchgeführt werden ohne den ständigen Zufluss von Waffen aus dem Westen, und das liegt auch an der fehlenden Opposition in Deutschland bisher. Aus meiner Sicht, als Israeli, der in den Verhältnissen vor Ort eingebettet ist, fällt mir sehr auf, dass Deutschland die Rolle eines Enablers spielt. Die genozidale radikale Rechte, die jetzt an der Macht ist, verspricht Sachen, die Israel alleine nicht schaffen könnte aufgrund der völkerrechtlichen Ausgangslage. Anstatt, dass sich die radikale Rechte innerhalb von wenigen Wochen blamiert, kann sie so weitermachen, weil sie einfach weiter unkritisch mit Kriegsgerät beliefert wird. 

JB: Was wird damit ermöglicht? Was sind diese Versprechungen, die ohne Waffenlieferungen nicht umgesetzt werden könnten? 

MS: Die Rechtsradikalen versprechen, Gaza komplett platt zu machen, die Menschen dort allesamt zu vertreiben oder zu töten. Das ist, was Teile der Regierung ganz offen fordern. Es wird sich in Deutschland so gut wie gar nicht mit der Art der Kriegsführung auseinandergesetzt, die Israel da an den Tag legt. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten so entwickelt, dass die israelische militärische Doktrin darauf setzt, zu jedem Preis das Leben israelischer Soldaten zu priorisieren, selbst wenn das heißt, wegen eines möglichen Gegners ein ganzes Mehrfamilienhaus platt zu machen und dort Menschen zu töten. Das alles ist nur möglich mit schwerem Kriegsgerät aus dem Westen, da Israel mit seiner eigenen Waffenindustrie eine solche Kriegsführung auf Dauer nicht stemmen kann. Selbst wenn man die vielen genozidalen Aussagen von israelischen Führungskräften in Militär und Politik nicht ernstnehmen will, muss man feststellen, dass diese Art der Kriegsführung zu inakzeptabel hohen zivilen Todeszahlen führt, unausweichlich, absichtlich und mit Vorwissen. Dazu gibt es mittlerweile schon genug Reportagen auch aus rechten israelischen Medien, die die Kriegsführung bejubeln. In Deutschland wird aber nur über diese Scheinerklärung von Selbstverteidigung geredet, die nicht wirklich haltbar ist. 

Damit fällt die deutsche Linke den möglichst progressiven Kräften vor Ort in den Rücken. Nicht nur darin, dass man den Rechten ihre monströsen Fantasien gönnt, dass sie diese ausleben und verwirklichen können, sondern auch darin, dass Menschen vor Ort, die in irgendeiner Form versuchen dagegenzuhalten, Unterstützung brauchen und sie nicht bekommen. Ein Teil der Unterstützung besteht darin, dass Aktive ins Ausland fahren und über die Lage vor Ort berichten und in Deutschland geht selbst das nicht ungestört. Ein schönes Beispiel dafür ist die Organisation Combatants for Peace3, die in Deutschland schon mehrmals unbegründete Absagen für ihre Veranstaltungen bekam. Dies geschah teilweise auf Druck von rechten israelischen Akteuren, mit denen die Deutsch-Israelische Gesellschaft zusammenarbeitet. Das ist nur ein Beispiel von vielen dafür, dass die Menschen vor Ort, die etwas gegen diese Kriegspolitik zu tun versuchen, in Deutschland kein Gehör bekommen, auch nicht von der deutschen Linken.

JB: Ich würde gerne nochmal auf die Geschichte des Konfliktes eingehen. Wie hat die Linke den Ursprung der Krise im Nahen Osten und ihre historische Bedeutung zu verstehen? Welche Rolle hat die Linke selbst dabei gespielt, dass es zu dieser Situation gekommen ist?

MS: Den Ursprung muss man im 19. Jahrhundert in Europa suchen. Einerseits in dem immer krasser aufkommenden Antisemitismus und andererseits in der aus Europa heraus etablierten kolonialen Weltordnung. Beides hat dazu geführt, dass es eine immer stärker werdende Bewegung geben konnte, die den europäischen Antisemitismus durch Kolonisierung eines anderen Weltteils zu lösen versucht hat. Gerade als Linker muss man betonen, dass die zionistische Bewegung nicht als jüdische Massenbewegung anfing. Sie wird heute gerne als solche verstanden, aber sie war eine bürgerliche Bewegung, die anfangs nicht unbedingt durch Juden unterstützt, sondern von den meisten eher abgelehnt worden war. Hingegen hat sie gerade in der britischen Eliten sehr starke Unterstützung gefunden, unter anderem wegen ihres Antisemitismus. Damit wollte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, einerseits wollte man gegen das Osmanische Reich etwas unternehmen und andererseits die Juden in Europa loswerden, die so ein großes Problem für die Menschen waren. Natürlich hat sich im Laufe der Zeit eine große Masse von den überlebenden Juden und Jüdinnen dazu bewegt, die zionistische Bewegung zu unterstützen. Ich finde es aber wichtig, diese Anfänge anzuerkennen. 

In diesem Zusammenhang ist es mir auch wichtig zu betonen – darüber habe ich auch geschrieben für das Jacobin Magazin vor ein paar Jahren –, dass es grundfalsch ist, die zionistische Kolonisierung von Palästina als Reaktion auf den Holocaust zu verstehen.4 Sie war sehr fortgeschritten, als die Nazis an die Macht kamen, und auch die Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung in Palästina, die in den 20er und 30er Jahren dazu drängten, möglichst viel Land ethnisch zu säubern und für jüdische Besiedlung zu gewinnen, waren schon existent, bevor die Nazis an die Macht kamen, und definitiv bevor der Holocaust bekannt wurde. Die wesentlichen Akteure, die daran beteiligt waren, was dann 1947/48 im Zuge der ethnischen Säuberung von Palästina passierte, waren schon vor Ort.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich schon der Fall, dass die internationale Unterstützung für das zionistische Projekt sehr durch den Holocaust geprägt war und bis heute noch ist. Und auch die jüdische Unterstützung, weil unter anderem die nicht-zionistischen jüdischen Massenbewegungen in Europa geblieben sind und vernichtet worden sind. Man denke an den „Bund“, der in Polen in den 1930ern die größte Partei war. Das war eine sozialistische jüdische Partei, die einfach komplett zerstört wurde durch die Nazis. 

Durch diese ganze Geschichte entsteht der Doppelcharakter Israels und des Zionismus. Ich zitiere immer sehr gerne Raef Zreik, das ist ein palästinensischer Philosoph und Jurist, der sagt: Die Europäer sehen den Rücken von fliehenden jüdischen Flüchtlingen, die Araber sehen die Soldaten, die mit Waffen auf sie zukommen und sie vertreiben. Und beides ist halt der Fall und sehr, sehr viele Fehler in der Debatte stammen daher, dass man versucht, es auf eine dieser beiden Aspekte herunterzukochen, was weder historisch wahr noch besonders hilfreich ist, um einen Ausweg zu finden. Diese beiden sich ergänzenden Fehler machen verschiedene Strömungen auf der Linken die ganze Zeit. Bis 1967 war eigentlich die vorwiegende Haltung der westlichen Linken, Israel als Staat der jüdischen Flüchtlinge zu sehen. Das ist gekippt, als dann 1967 Israel seine militärische Kraft und sein expansives Vorhaben der Welt zeigte. Natürlich muss man sagen, dass genau derselbe Zeitraum einer des historischen Verfalls der Linken insgesamt und einer des großen Verlusts ihrer Macht im Westen ist. Insofern könnte man sagen, dass die Linke ab da keine große Rolle mehr gespielt hat. Dennoch finde ich es wichtig, die Linke als Teil eines gesellschaftlichen, aber auch internationalen Ganzen zu verstehen und zu sehen, wie auch eine schwache Linke Teil einer größeren Tendenz sein kann. 

Ich würde sagen, es hat sich seitdem zwar viel verändert in der Region, aber das grundlegende Problem bleibt sehr von diesem Anfang beeinflusst. Der Staat Israel ist von vornherein ein siedlerkoloniales Projekt gewesen, ein Versuch, eine neue Gesellschaft zu gründen, wo eine andere schon vorhanden war, ohne sich in diese zu integrieren. Stattdessen wurde mit verschiedenen Mitteln versucht, sie zu ersetzen. Das ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass das alles vorangetrieben wurde durch eine zumindest gefühlte, aber teils definitiv reale Alternativlosigkeit vieler der ankommenden jüdischer Siedler, die einen sicheren Hafen suchen und sich deswegen existenziell bedroht sehen durch jeden Widerstand gegen dieses siedlerkoloniale Vorhaben. Aus diesem Grund haben sich im Laufe der Zeit zunehmend auch jüdische Menschen weltweit mit dem Zionismus identifiziert, da sie die gleiche Bedrohung sehen. 

Man muss allerdings betonen, dass die Mehrheit der jüdischen Menschen niemals in Israel gelebt hat. Es ist immer nur eine Minderheit mit Unterstützung einer Mehrheit im Ausland gewesen. Aber diese Unterstützung der Mehrheit ist gerade massiv am Schrumpfen. Gerade in jungen Generationen, gerade in Amerika, wo die größte jüdische Bevölkerung der Welt lebt, sind weite Teile einfach absolute Gegner vom Staat Israel.

Wichtig ist anzuerkennen, dass es oft auch Fehler auf palästinensischer oder arabischer Seite gab in der Hinsicht, dass man die Israelis nur als europäische Siedler oder als Siedler überhaupt eingeordnet und nicht anerkannt hat, dass viele keine andere Wahl für sich sahen – zu Recht oder nicht. Andererseits ist und bleibt der israelische Versuch, mit dem palästinensischen Widerstand in seinen vielen verschiedenen Formen allein durch militärische Unterdrückung fertig zu werden, einfach aussichtslos. Man kann das ins Absurde ziehen: Selbst, wenn Israel jetzt das Allerschlimmste macht, Gaza komplett entvölkert und alle abschlachtet und nicht nur vertreibt, wird das nicht dazu führen, dass die Region aufhört, eine Feindschaft gegenüber Israel zu haben. Sondern ganz im Gegenteil: Viele Regime in der Region waren bereit, mit Israel die Beziehungen zu normalisieren, was jetzt sehr unwahrscheinlich geworden ist. Man darf nicht bei diesem Fehldenken des israelischen Staates mitmachen, dass der Widerstand oder die Angriffe auf Israel – auch die schlimmsten – einfach nur eine Perversität oder eine Sünde seitens der Palästinenser oder der Araber seien, dass man sie, solange sie nicht aufhören, einfach weiter bekämpfen müsse. Das gehört gerade mit zur Dynamik, die diese Situation und auch den 7. Oktober verursacht hat. Wenn man verkennt, dass Israel eine riesige Macht über die Situation hat, wenn man Israel immer nur als passiv versteht oder als reaktiv, dann spielt man genau in diese Dynamik hinein, die dieses endlose Leid weitertreibt. 

JT: Du hast den 7. Oktober angesprochen. Seitdem wirkt es so, dass auf der globalen Linken der Nahostkonflikt das zentrale Thema ist. Was an Israel-Palästina, an diesem Konflikt als Ganzes, ist denn nun ein dezidiert linkes Thema?  

MS: Kollektive Kämpfe gegen wahllose kollektive Unterdrückung sind immer linke Anliegen und das sieht man auch zu Marxens Zeiten. Das ganze Milieu, dem Marx und Engels angehörten, unterstützte die nationalen Befreiungsbewegungen ihrer Zeit sehr, egal ob das jetzt bürgerliche Bewegungen waren oder nicht, z. B. die polnische Nationalbewegung. Dasselbe gilt für die Befreiung der versklavten Menschen in Nordamerika, die Marx persönlich verfolgte und bejubelte. Marx gratulierte Lincoln dazu, obwohl das auch kein großer Linker war.5 Ohne jetzt zu sagen, dass das genau dieselbe Art von Kämpfen war. 

Viel schwieriger wird es, wenn man ins Geopolitische reinkommt, weil die Linke dahingehend sehr gespalten ist und seit dem Ende des Kalten Krieges große Schwierigkeiten hat, geopolitische Kämpfe einzuordnen. 

Ich weiß, dass es in Deutschland gute Gründe gibt, skeptisch gegenüber sogenanntem Antiamerikanismus zu sein, weil dieser auch von reaktionären Kräften geteilt wird. Allerdings scheint es mir kein Zufall zu sein, dass linke Bewegungen in der ganzen Welt die USA auf politische Ebene sehr deutlich als Kernakteur der Gegenseite identifizieren. Das ist auch kein Fehler. Das bedeutet nicht, dass alles, was mit Amerika zu tun hat, automatisch schlimm ist, und es ist auch kein Grund, gegen Israel zu sein, nur weil die USA Israel unterstützen. Aber es ist schon ein Knackpunkt für die geopolitische Einordnung, wenn von einem Zivilisationskampf USA und EU gegen reaktionäre islamistische Barbaren ausgegangen wird. Diese Ansicht findet man auf der Linken und ich kann auch nachvollziehen, wie man zu dem Schluss kommt, aber das ist keine linke Haltung, das ist Neokonservatismus par excellence. Es ist eine interessante Sache, dass diese Haltung in Deutschland noch als Teil der Linken gelten darf, in den USA wurde die Republikanische Partei sehr lange von Menschen mit dieser Haltung geführt. Da ich voraussetze, dass solche Kräfte wie die USA und EU auf der Weltebene keine progressiven Anliegen vertreten.

Ich bin überrascht und schockiert darüber, wie weit Biden, Scholz und andere solche Geister damit gehen, Israel selbst bei diesem Vorgehen aktuell im Gazastreifen zu unterstützen. Ich finde es wichtig, nicht alles auf Persönlichkeit und Psychologie herunterzubrechen, aber man kann bei Biden nicht komplett ausblenden, dass er schon seit den 80ern ein Rechtsradikaler ist, was Israel angeht. Während des Libanonkriegs Anfang 80er vertrat er als Senator eine Position, die selbst den damaligen rechten israelischen Premier Begin6 schockierte. 

Neulich habe ich ein Argument von Ussama Makdisi, einem amerikanischen Historiker, gehört, das ich sehr einleuchtend fand. Das Argument hängt sehr eng mit Deutschland zusammen und erklärt, warum die westliche Unterstützung von Israel nach 1948 eine entscheidende Rolle in der Weltordnung gespielt hat. Sie ermöglicht den herrschenden Klassen im Westen, sich auf der richtigen Seite der Geschichte zu inszenieren, indem man die Opfer des Holocausts nachträglich verteidigt, wo man das in Echtzeit nicht getan hatte. Damit wird die Nachkriegsordnung als eine gerechte und fortschrittliche inszeniert, ohne dass man mit viel gewichtigeren Problemen umgehen muss, wie der Geschichte des Kolonialismus und allem, was daraus entstanden ist in den Beziehungen der reichen Länder mit den ausgebeuteten Ländern. So ermöglicht Israel diesen Staaten, eine bedrohte Minderheit zu unterstützen, ohne die damit einhergehenden Schwierigkeiten, die sonst herrschende Klassen meistens daran hindert, das zu tun. Es werden also keine gesellschaftlichen Verhältnisse in den eigenen Ländern verändert, das Problem wird ausgelagert.

Auf jeden Fall muss man diese westliche Unterstützung für Israel als herrschaftslegitimierendes Projekt verstehen. Man muss wiederum auch sehen, wie das auch hierzulande reaktionäre Ziele vorantreibt. So hat sich die Debatte über Abschiebungen, die schon vor dem 7. Oktober scharf geführt wurde, seitens der Ampelregierung massiv zugespitzt in den Wochen nach dem 7. Oktober. Das wurde deutlich mit Olaf Scholz’ Zitat im Spiegel: „Wir müssen im großen Stil abschieben“. Direkt danach kam Söders Vorschlag, dass man Menschen auch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen sollte. All das hängt eng mit diesem Thema zusammen. Hier kommen einfach viele Sachen zusammen: Einerseits der genuine Kampf von unterdrückten Menschen, der wie immer in der Gesellschaft nicht ganz sauber geführt wird. Dieser Kampf hat auch Strömungen in sich, die für Linke große Probleme darstellen und womit man einen Umgang innerhalb der Bewegung finden muss. Andererseits hängt die Unterstützung der Unterdrücker mit eigenen Herrschaftsprojekten in unseren Ländern zusammen. 

JB: Wir haben darüber gesprochen, weshalb es ein linkes Anliegen ist. Mich würde noch interessieren, ob es deiner Ansicht nach momentan eine linke Perspektive auf die Lösung des Konfliktes gibt? Es scheint heute vor allem reaktionäre Parteien in diesem Konflikt zu geben. Gibt es eine linke Perspektive heute? Falls nicht, gab es historisch Chancen, diesen Konflikt aus einer linken Perspektive zu lösen?

MS: Es fällt schwer, an langfristige Lösungen zu denken, wo das aktuelle Problem so brennend ist. Mit jedem Tag sterben mehr Menschen, jeden Tag wird berichtet, dass mehr Menschen durch diese Zerstörung verhungern und dass es noch länger dauern wird, das Zerstörte wieder aufzubauen und irgendwie ein menschenwürdiges Leben im Gazastreifen zu ermöglichen. Gleichzeitig verhärtet sich in Israel mit jedem Tag des Krieges die Stimmung gegen die Palästinenser. Eine linke Position muss damit anfangen, dass man sofort einen Waffenstillstand braucht, und dann kann man über alles andere reden. Gleichzeitig gibt es keine wesentlichen linken Kräfte vor Ort. Es ist aber nicht so, als gäbe es gar keine. Die Linke ist marginal und genau deswegen braucht sie Unterstützung.  Man kann jedoch nicht davon ausgehen, dass sie sofort an großer Zustimmung gewinnen wird. Das hat sehr viel mit der geopolitischen Lage zu tun, weil die einzigen Kräfte, die einen großen Einfluss auf die Lage vor Ort haben, jetzt die weitere Radikalisierung nach rechts ermöglichen, zumindest auf israelischer Seite und möglicherweise auch auf palästinensischer Seite. Wenn wir ein bisschen herauszoomen und nicht nur auf die jetzige Problematik schauen, ist eine wirklich langfristige Lösung nur regional und revolutionär zu verstehen. 

Die regionalen Verhältnisse spielen einfach eine sehr große Rolle, auch die Gründe oder die Rolle, die Israel-Palästina für Kräfte im Westen spielt, hängt mit der ganzen Region zusammen. Man denke an die vielen Fälle, in denen es Aufstände in der Region für mehr Demokratie gab und dann die israelische Position mit westlicher Unterstützung war, lieber auf „verlässliche“ Diktatoren zu setzen, als sich auf die Ungewissheit einer Demokratie einzulassen. Solange die Verhältnisse in der Region nicht gelöst sind, bleibt ein Konflikt. Selbst wenn wir uns vorstellen können, dass der Konflikt in Israel-Palästina sich beruhigen und es irgendein Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern geben wird, wird das Ganze bedroht durch die breitere Konfliktlage. Ebenso sind die internationalen Interessen, die da eine Rolle spielen, nicht von der Wirtschaftsweise zu trennen. Der Kampf ist also viel breiter und ich glaube, es war eine sehr große Schwäche von vielen Akteuren, die versucht haben in den letzten Jahrzehnten eine progressive Rolle zu spielen, dass man versucht hat, das Ganze nur auf die nationale Ebene herunterzukochen, ohne den regionalen oder den ökonomischen Aspekt mitzudenken. Das heißt leider auch, dass ich keine große Hoffnung habe, dass in Israel alles sehr schnell schön wird. 

Trotzdem denke ich, dass es seit dem 7. Oktober eine Dynamik in der Situation gibt, die es vorher nicht gab. Sie kann in viele verschiedene Richtungen gehen, bisher geht sie in eine unfassbar fürchterliche Richtung, aber die Dynamik, die Offenheit sind noch da. So ist es sehr ungewiss, ob sich Benjamin Netanjahu in Israel an der Macht halten kann, und ohne Netanjahu sieht die Situation schon sehr anders aus. Vielleicht kann das eine Lage sein, in der sich linke Kräfte mehr etablieren und entwickeln können. Deswegen ist es sehr wichtig, die Situation nicht als endlosen, unlösbaren Konflikt abzuschreiben, sondern anzuerkennen, dass es eine Dynamik gibt und dass darin die internationale Linke von außen auch eine Rolle spielen kann.

JT: Du meintest, für dich könnte eine Perspektive aus dieser Eskalation des Blutvergießens nur „regional“ und „revolutionär“ stattfinden. Außerdem bist du in Deutschland mit dem Marxismus in Berührung gekommen und wurdest stark davon beeinflusst. Wie sind die Begriffe „regional“ und „revolutionär“ vermittelt zum Sozialismus? Hätte eine Lösung des Nahostkonflikts automatisch etwas mit Sozialismus zu tun?

MS: Nicht automatisch, aber eine nachhaltige Lösung kann nur mit einer regionalen Wendung gegen den Kapitalismus und gegen die repressiven Regime in der ganzen Region entstehen. Für einen anhaltenden Frieden muss etwas in der Art passieren. Zu den genauen Details könnte man vieles phantasieren. Ich glaube, es muss sich eher im Handeln herausstellen, was machbar ist. 

Historisch spielt dabei Ressourcenmanagement eine große Rolle. So gab es schon in den 1950ern Ideen für ein regionales Wassermanagement, was eine große Frage damals war und eine immer größere wird. Diese Vorhaben sind jedoch torpediert worden, weil die USA darauf bestanden haben, dass Israel mehr vom Wasser abbekommt als seine Nachbarn. Es braucht eine Kooperation auf Augenhöhe zwischen den verschiedenen Staaten in der Region, sodass die Ressourcen fair aufgeteilt werden. Künftig können dabei auch erneuerbare Energien eine Rolle spielen, wenn die Region Energie abführen könnte. Es gibt sehr viel, was man machen kann, wenn regionale Kooperation ermöglicht wird, aber solche Kooperation ist schwer machbar unter Bedingungen geopolitischer Konflikte und kapitalistischem Profitwahns.

JB: Hast du das Gefühl, es gibt derzeit linke Akteure, die diese überregionale oder internationalistische Perspektive verfolgen auf beiden Seiten des Konfliktes?

MS: Solche Ideen sind auf jeden Fall lebendig und werden diskutiert in den linken Bewegungen vor Ort, aber es gibt wenige bis keine Kräfte, die sie klar und explizit hochhalten. Dafür braucht es erstmal ein bisschen mehr Luft und Raum für diese Bewegungen, um sich zu entwickeln. Zurzeit müssen sie sich vielmehr mit dem Kampf gegen Reaktion und Unterdrückung beschäftigen. |P


1. Hier zum Nachhören: Folgen des Boykottaufrufs Strike Germany: Berlinale-Absage und Verlagstrennung, Deutschlandfunk (19. Januar 2024). Online abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/folgen-des-boykottaufrufs-strike-germany-berlinale-absage-und-verlagstrennung-dlf-kultur-0fe5ce84-100.html.

2. Daniel Bax: Deutsche Panzerfäuste in Gaza, taz (5. April 2024). Online abrufbar unter: https://taz.de/Studie-zu-Waffenexporten/!6002667/.

3. Combatants for Peace ist eine Organisation von ehemaligen israelischen Soldaten und ehemaligen palästinensischen Kämpfern, die sich zu Pazifismus bekennen.

4. Michael Sappir: Die deutsche Verklärung Israels, Jacobin Magazin (15. Mai 2023). Online abrufbar unter: https://www.jacobin.de/artikel/die-deutsche-verklaerung-israels-staatsgruendung-zionismus-erinnerungskultur-holocaust-nakba-miachel-sappir.

5. Karl Marx: An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Marx-Engels-Werke, Band 16, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 18-20. Online abrufbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_018.htm.

6. Menachem Begin, israelischer Ministerpräsident von 1977 bis 1983, Mitglied der Likud-Partei.