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Katastrophe, historisches Erinnern und die Linke: 60 Jahre Israel-Palästina

Platypus Review #32 | Juli/August 2024

von der Platypus Historiker-Gruppe

Die Umrisse des heutigen Nahen Ostens sind von einem Triptychon aus Völkermord und ethnischen Säuberungen geprägt, das Mitte des 20. Jahrhunderts Gestalt annahm. Der erste Teil dieses Triptychons besteht aus dem „Holocaust“ („Schoa“ auf Hebräisch, „Churbn“ auf Jiddisch), der systematischen Ermordung von etwa zwei Dritteln der europäischen Juden durch die Nazis zwischen 1941 und 1945. Der zweite Teil besteht aus der ethnischen Säuberung Palästinas durch die Zionisten zwischen 1947 und 1949, der „Nakba“. Der dritte Teil schließlich, der keine allgemeingebräuchliche Bezeichnung hat, besteht aus der Vertreibung hunderttausender mizrachischer Juden1 aus den arabischen Ländern. Diese verschlug es größtenteils nach Israel, wo sie den zionistischen Staat auf entscheidende Weise stärkten, obwohl sie vielfach rassistischer Diskriminierung durch aschkenasische Juden2 ausgesetzt waren. Jede einzelne dieser Katastrophen war nicht nur das Ergebnis des Scheiterns der Linken, sondern ebnete auch den Weg für weitere Niederlagen.

Vor dem Holocaust war der Zionismus eine ausgesprochene Minderheitenströmung unter den europäischen Juden, obwohl sie mit hartnäckigem und wachsendem Antisemitismus konfrontiert waren. Der Großteil der europäischen Juden vertraute auf den Liberalismus sowie auf Spielarten des Sozialismus und des Kommunismus, um die Flutwelle der Barbarei zu brechen. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil spielten die europäischen Juden – mehr als alle sonstigen Europäer – eine wesentliche Rolle in der europäischen Linken. Der Siegeszug des Zionismus ist auf entscheidende und tragische Weise das Ergebnis des Scheiterns der europäischen Linken, Hitler das Handwerk zu legen. Die Palästinenser wurden zu sekundären Opfern dieses Scheiterns.

Darüber hinaus bedeutete das Scheitern, eine antizionistische politische Praxis auf emanzipatorischer Grundlage innerhalb des Mandatsgebiets Palästina zur Entfaltung zu bringen, dass der gerechtfertigte und notwendige Kampf der Palästinenser gegen Zionismus und britischen Imperialismus den Charakter eines auf partikularen Gruppeninteressen beruhenden Konflikts annahm, was im Zuge der militärischen Niederlage gegen den Jischuw3 zwischen 1947 und 1949 zur Nakba führte.

Schließlich stärkten die als Vergeltung für die Nakba durchgeführten Vertreibungen und die Verfolgung der mizrachischen Juden den Zionismus sowohl in materieller als auch in ideologischer Hinsicht: materiell, indem sie Israels demografische Grundlage erheblich konsolidierten; ideologisch, indem sie zu bestätigen schienen, dass Juden nicht als Minderheiten friedlich in der arabischen Welt leben können. Wenn die Palästinenser die sekundären Opfer des Unheils sind, das die europäischen Juden heimsuchte, dann sind die mizrachischen Juden in gewisser Hinsicht die tertiären Opfer.

Vor hundert Jahren war keine dieser Katastrophen abzusehen. Sie ereigneten sich nicht aufgrund des „Bösen im Mennschen“, sondern wegen einer Reihe von Niederlagen der Linken. Es ist wichtig zu erinnern und zu trauern, aber es ist noch wichtiger zu verstehen. Gegen alle Arten von nationalistischem Chauvinismus, Rassismus und religiösem Obskurantismus hält Platypus die Ideale des sozialistischen Internationalismus hoch. Der Zionismus entstand als eine Reaktion gegen den Antisemitismus und beanspruchte für sich, den unterdrückten Juden Europas Freiheit und Würde zu geben, doch stattdessen hatte er zur Folge, dass die Juden zu Unterdrückern eines anderen Volkes wurden – an seinem 60. Geburtstag ist Israel ein Besatzungsstaat. Es gibt vermutlich kein Land auf der Welt, in dem Juden mehr um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssen.

Jedoch ist auch der palästinensische Nationalismus in eine Sackgasse geraten – sowohl in Form der Fatah als auch der Hamas. Weder der endlose „Friedensprozess“ noch Katjuscha-Raketen, die von islamischen Fundamentalisten auf israelische Arbeiterstädte abgefeuert werden, deuten in Richtung einer emanzipatorischen Politik. Platypus stimmt Lenin darin zu, dass – wie er es ausdrückte – der Marxismus „unvereinbar mit dem Nationalismus“ ist, „mag dieser noch so […] verfeinert […] sein“, und die Solidarität mit den Opfern nationaler Unterdrückung darf nicht mit der Unterstützung des Nationalismus der Unterdrückten verwechselt werden. (Der Zionismus und die jüdische Geschichte bieten dafür ein warnendes Beispiel! Wir müssen der emotionalen Erpressung widerstehen, die das selbstverständliche Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust mit der Unterstützung für den Zionismus sowie das selbstverständliche Mitgefühl mit den Opfern der Nakba und die anhaltende zionistische Unterdrückung mit der Unterstützung des palästinensischen Nationalismus gleichsetzt.) Darüber hinaus betonen wir ausdrücklich, dass jegliche emanzipatorische Politik entschieden säkular sein muss. Der Triumph der praktischen Gottlosigkeit in der Politik ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung. Unter dem Banner des Islam gegen Zionismus und Imperialismus zu kämpfen, ist der sichere Weg in die Katastrophe, und es wird der Linken zum Verhängnis werden, wenn sie zulässt, dass ihr eigener Kampf gegen Zionismus und Imperialismus dazu führt, dass sie zum bloßen Cheerleader für den islamistischen „Widerstand“ verkommt.

Eine andere Welt ist möglich. Aber es ist zunächst notwendig, die Wahrheit darüber zu sagen, wo wir stehen und wie wir hier hingekommen sind. Platypus bemüht sich darum, solche Gespräche auf der Linken herauszufordern. |P


Der vorliegende Text wurde ursprünglich in Platypus Review #5 (Mai–Juli 2008) veröffentlicht und ist im englischen Original online abrufbar unter: https://platypus1917.org/2008/05/01/catastrophe-historical-memory-and-the-left-60-years-of-israel-palestine/. Der Text wurde von Platypus-Mitglied Tobias Rochlitz ins Deutsche übersetzt.

1. Juden, die selbst und/oder deren Vorfahren aus Afrika und Asien – insbesondere aus dem Nahen Osten – stammen (Anm. d. Übers.).

2. Juden, die selbst und/oder deren Vorfahren aus dem Gebiet Zentral-, Nord- und Osteuropas stammen (Anm. d. Ăśbers.).

3. Gemeinwesen der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung Israels (Anm. d. Übers.).