Demokratische Arbeitszeitrechnung im und fĂĽr das 21. Jahrhundert
Ein Interview mit der Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) aus Berlin über die Geschichte der Rätebewegung, basisdemokratisches Wirtschaften und konkrete Utopien
Ausgabe #34 | November/Dezember 2024
von Henning Bertram
Henning Bertram: Welche geschichtliche Referenz hat die IDA? Auf welche politischen Ideen geht die IDA zurĂĽck und aus welchen Spektren der Linken kommen ihre Mitglieder?
Initiative Demokratische Arbeitsrechnung: Die geschichtliche Referenz der IDA ist ohne Zweifel der Rätekommunismus, eine Linksabspaltung von den Kommunistischen Parteien. Der Rätekommunismus war in den ersten Jahren der Weimarer Republik sogar noch relativ groß. Als sich die KPD zunehmend auf die Sowjetunion und das leninistische Dogma ausrichtete, wurde 1921 die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) gegründet, die zunächst 80.000 Mitglieder stark war.1 Sie hielten weiterhin an der Idee fest, dass die Rätedemokratie für eine sozialistische Gesellschaft unerlässlich ist. Durch die Räte sollte einerseits die Kontrolle des Produktionsprozess durch die Arbeiter*innen in den Betrieben gewährleistet sein und andererseits sollten sie die politischen Kampforgane sein, durch die das Proletariat seine Macht im Kampf gegen die übrigen Gesellschaftsklassen behaupten kann. Ausschlaggebend für diese Haltung war natürlich die historische Erfahrung der spontanen Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten am Ende des Ersten Weltkriegs in Russland, Deutschland, Österreich, Italien, Ungarn und anderen Ländern, die dann schließlich in vielen Fällen ausgerechnet von den sozialdemokratischen oder bolschewistischen Arbeiterparteien gewaltsam entmachtet wurden.
Allerdings wurde die Position der KAPD von dem Konflikt von Sozialdemokratie und Bolschewismus und dem heranziehenden Unheil des Faschismus überschattet. Ihre eigenen Wortführer verloren sich in immer weiteren Grabenkämpfen, sodass die Partei schon wenige Jahre später in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Überreste aus der KAPD haben dann Ende der 1920er Jahre zusammen mit niederländischen Rätekommunist*innen, wo es eine ganz ähnliche Abspaltung gegeben hat, die Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland), kurz GIK, gegründet. Dies war ein kleiner Zirkel von Abtrünnigen, die vorwiegend selber der Arbeiter*innenklasse entstammten (aber auch der Astronom Anton Pannekoek stand dem Zirkel nahe) und mit der Theorie und Geschichte des Sozialismus bestens vertraut waren. Sie wollten dem Rätekommunismus eine neue polit-ökonomische Grundlage geben und verfassten 1930 die Schrift „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“.2 Darin entwickeln sie ihre Idee einer sozialistischen Produktionsweise: Betriebsräte der Arbeiter*innen kontrollieren und verwalten die gesellschaftliche Produktion. Dabei haben die jeweiligen Betriebe Planungsautonomie, kontrollieren sich jedoch gegenseitig über eine gemeinsame öffentliche Buchführung. Die grundlegende Recheneinheit dieser Buchführung ist die gesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitsstunde. Dieses Konzept kommt ohne Geldrechnung und zentrale Planungsbehörden aus; alles bleibt unter Arbeiter*innenkontrolle. Wenn wir von Arbeiter*innenselbstverwaltung und Arbeitszeitrechnung sprechen, stützen wir uns letztlich auf diese Schrift. Unser Verein ging auch aus einem Lesekreis zu den „Grundprinzipien“ hervor.
Wir von IDA kommen aus den unterschiedlichsten linken Zusammenhängen. Manche von uns zählen sich schon seit vielen Jahren zur politischen Linken, waren aber nie wirklich organisiert, sondern sporadisch in Theoriegruppen aktiv oder an Antifa-Aktionen beteiligt. Andere wiederum sind oder waren in den Organisationen der Linkspartei aktiv. Und dann sind da auch Genoss*innen bei uns, die konkrete Erfahrungen mit innerbetrieblichen Arbeitskämpfen gemacht haben, die für gewerkschaftliche Organisation und die Bildung von Betriebsräten gekämpft haben und dabei auch mit Methoden des gewerkschaftlichen Organizings in Berührung gekommen sind. Uns alle eint aber mehr oder weniger auch eine gewisse Frustration über die gängige Vorstellung von „linker Politk“, also den blinden Aktionismus von Wahlkampf, Flyer verteilen, Menschen mobilisieren, Demos organisieren, Konferenzen veranstalten etc. Das ist ermüdend und führt nur dazu, dass sich die meisten nach zwei, drei Jahren aus der politischen Praxis rausziehen. Aber auch rein theoretische Bildungsarbeit halten wir für unzureichend. Wir möchten etwas Neues versuchen, nämlich die Menschen von den Vorzügen der Arbeitszeitrechnung durch Theorie und Praxis überzeugen, indem wir damit beginnen, schon hier und heute Strukturen dafür aufzubauen. Ob uns das gelingt, ist eine andere Frage.
Viele eurer Mitglieder waren, bevor sie zur IDA kamen, frustriert über den Zustand der Linken. Du hast von einer gewissen Ermüdung gesprochen, der ihr etwas entgegensetzen möchtet. Was denkt ihr, hat sich in der Linken konkret getan, dass die Arbeit der IDA relevant geworden ist? Inwiefern ist die Zeit wieder reif für rätekommunistische Ideen?
Vielleicht sollte man den Rätekommunismus – und mit ihm die Arbeitszeitrechnung – weniger als Anachronismus aus dem vergangenen Jahrhundert betrachten, sondern als eine Bewegung, die ihrer Zeit weit voraus war. Beide stecken sozusagen in der historischen Warteschleife.
Im engeren Sinne ist der Rätekommunismus eine spezifische Erscheinung von Anfang der 1920er Jahre bis ungefähr zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese Zeit ist vorbei. Doch wenn man mal von der ganzen Bilderwelt der historischen Arbeiter*innenbewegung abstrahiert, dann war die Rätebewegung nichts anderes als der schon im Keim erstickte Versuch, gesellschaftliches und wirtschaftliches Zusammenleben auf basisdemokratische Weise zu organisieren, in einem (revolutionären) Augenblick, in dem die Eliten aus Staat und Wirtschaft kurzzeitig kapitulierten. Räte sind sozusagen die kleinsten demokratischen Zellen. So etwas hat es historisch schon immer gegeben. Seien es nun Dorfkommunen unabhängiger Bäuer*innen, die Ratsversammlungen freier Städte im Mittelalter, die Pariser Sektionen während der französischen Revolution oder die Pariser Kommune von 1871; auch die Bürger*innenversammlungen und das Wahlbeamtentum in der Tradition der US-amerikanischen Verfassung sind dazuzurechnen. Wann immer die Verhältnisse in Bewegung gerieten, waren demokratische Ratsversammlungen der lebendige Ausdruck sozialer Bewegungen und ihrer egalitären Ansprüche. Die Arbeiter*innenbewegung hat das Räteverfahren nur seiner spezifischen sozialökonomischen Situation entsprechend modifiziert: Es hat die Räte in die kapitalistischen Großbetriebe überführt, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Ursprünglich sind die Arbeiter*innenräte aus den Streikkomitees während des Generalstreiks in der ersten russischen Revolution von 1905 hervorgegangen. Sie waren mit der Herausforderung betraut, einerseits die Arbeit niederzulegen, um die Herrschaft zu lähmen und andererseits, sich selbst und den Rest der Gesellschaft weiterhin mit dem Nötigsten zu versorgen. Völlig autonom musste daher ein übergreifender gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen den streikenden Zellen hergestellt werden, der die Arbeiter*innen dazu ermächtigte, sich selber zu verwalten. In der Revolution von 1917 organisierten sich auch die Soldaten in Räten und solche Arbeiter- und Soldatenräte hat es dann für kurze Zeit in vielen europäischen Staaten am Ende des Ersten Weltkriegs gegeben.
In diese Tradition stellte sich die GIK, weil sie schon früh die Gefahr erkannte, dass die Parteien – als Stellvertreter der Arbeiter*innenbewegung – nach der Revolution wieder staatliche Strukturen etablieren und damit die Arbeiter*innenselbstverwaltung einkassieren. Es entstanden neue Formen der Herrschaft über das Proletariat, die auf seiner totalen Integration in das Staatswesen beruhten: Im Osten der autoritäre Staatssozialismus und im Westen verschiedene Varianten des Staatskapitalismus (New Deal, Faschismus, Soziale Marktwirtschaft). Im Grunde entsprach die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg genau dem, was Adorno und Horkheimer die „verwaltete Welt“ nannten.3 Zwar ist der Staatssozialismus inzwischen seit mehreren Jahrzehnten von der realpolitischen Bildfläche verschwunden. Wollte man daraus schließen, es sei auch der Staatsfetisch der gesellschaftlichen Linken an ein Ende gekommen, würde man jedoch einer Illusion aufsitzen. Die Integration des Proletariats in den Staat währt dafür schon zu lange. Es ist inzwischen zum Sozialpartner geworden. Auch die sog. Neue Linke seit 1968 hat das nicht verhindert, sondern in der Tendenz sogar verstärkt, soweit ein „Marsch durch die Institutionen“ propagiert und der Fokus von der Arbeit auf die Kultur verlagert wurde. Auch der Blick auf eine andere Frucht der 68er: die Alternativbewegung – rund um Tauschringe, Zeitbanken, Kommunen, Kollektive etc. – ändert an einer solchen Diagnose wenig. Denn hier verliert man sich gern im Klein-Klein, möchte von vermeintlich „großen Erzählungen“ oft nichts mehr wissen. Ein nettes Miteinander ist dann schnell wichtiger als egalitäre Verhältnisse.
So hat man es heute mit einer oft beliebig erscheinenden Aneinanderreihung von Kämpfen und Forderungen zu tun (für „Postwachstum“, „Care-Revolution“, „no border, no nation“, „Recht auf Stadt“ oder „bezahlbares“ Wohnen etc.). Deren materielle Klammer – die Arbeit, die Produktionsverhältnisse, ja die Ökonomie der Zeit – fehlt meist gänzlich. Man will mit Haupt- und Nebenwiderspruchs-Rhetorik zurecht nichts zu tun haben, schüttet dabei aber das Kind mit dem Bade aus. So müssen die Kämpfe fragmentiert und idealistisch, ja staatsbezogen bleiben. Zeitgenössische Protestformen wie die Platzbesetzungen der 2010er Jahre (Occupy, Arabellion, Bewegung 15-M, Gezi-Park und zuletzt die Gelbwesten) erinnern zwar hier und dort an Räte, sie hatten aber nicht selten nur einen rein politisch-symbolischen Charakter und waren nicht von Dauer, d.h. ihnen fehlte eine institutionelle Form. Dennoch drückte sich in ihnen ein tiefes Unbehagen gegenüber staatlichen Institutionen und Parteien aus. Das verrät viel und lässt hoffen. Wir sollten auch in den nächsten Jahrzehnten mit dem vermehrten Aufkommen solcher spontanen Bewegungen rechnen, gerade mit Blick auf die wirtschaftliche Dauerkrise, die Klimakatastrophe und die nicht mehr von der Hand zu weisende Bedrohung eines neuen Weltkriegs. Das Vertrauen der Menschen in den Staat, der sich doch immer wieder als Hüter einer krisenhaften kapitalistischen Ordnung erweist, sinkt erheblich. Rechtsradikale Gruppen rüsten indessen schon für den Bürgerkrieg; die Linke kann darauf nur eine Antwort haben: Bildet Räte! Vom eigenen Betrieb über die Uni bis zur Nachbarschaft muss jeder gesellschaftliche Bereich nach radikaldemokratischen Verfahren geregelt sein. Ob die nun Räte, Bürger*innenversammlungen oder wie auch immer heißen, ist für uns dabei unerheblich. Betriebsbesetzungen und (wilde) Streiks würden einen solchen Prozess sicherlich erheblich beschleunigen, doch können wir natürlich nicht garantieren, dass es so kommen wird. Jedenfalls sehen wir angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse keine Alternative. Auch eine Linkspartei 2.0 wird daran wenig ändern. Man sieht ja an Parteien wie Syriza oder Podemos wie weit sie kommen, wenn sie das Ruder in der Hand haben. Die Linke sollte ihren Staatsglauben fallen lassen und den Hass der Menschen auf den alltäglichen Wahnsinn aus Lohnarbeit, Bürokratie und Spektakel endlich recht einzuordnen verstehen. Es werden erbitterte Kämpfe auf uns zukommen und die Frage ist, was hat man anzubieten: Eine neue „vernünftige“ Sozialpolitik, die bloß wieder die alte ist, oder die Möglichkeit, das eigene Leben endlich in Kooperation mit anderen – jenseits von sinnentleerter Arbeit und staatlicher Bevormundung – selbstbestimmt zu gestalten.
Ihr sagt, dass es Räte, verstanden als „kleinste demokratische Zelle“ schon immer gegeben hat. Als Beispiele nanntet ihr Kommunen und Ratsversammlungen der vorbürgerlichen, feudalen Zeit, bürgerliche Sektionen während der Französischen Revolution, sowie die Pariser Kommune 1871 und die Räte 1905 und 1917. Inwiefern, wenn überhaupt, hat sich die Aufgabe der Räte historisch verändert? Anders formuliert: Seht ihr eine historisch spezifische Aufgabe der Räte nach der französischen Revolution, die sich von anderen Räten der Vergangenheit unterscheidet?
Und gibt es einen Unterschied zwischen der Aufgabe der Räte von 1905, einer Zeit in der die Arbeiterklasse maßgeblich durch Marxisten organisiert wurde, im Vergleich zu heute, in der es keine organisierte Arbeiter*innenklasse mehr gibt und losgelöst davon nur kleine Gruppen linker Intellektueller?
Diese Fragen haben wir in unserem Verein nicht abschließend geklärt, aber wir wollen mal eine Antwort versuchen: Die Räte der vormodernen Epochen – und eigentlich sind auch noch die Pariser Sektionen während der großen Revolution sowie die Kommune von 1871 dazuzurechnen – waren in erster Linie politische Räte: Sie waren Gemeinde- oder Stadtratsversammlungen: Es ging darum die Angelegenheiten des menschlichen Zusammenlebens zu ordnen und ggf. zu verwalten, indem man Interessenstandpunkte anhörte, Argumente austauschte und Beschlüsse fasste, die dann umzusetzen waren – was wir gemeinhin eben als Demokratie verstehen, auf basaler Ebene. Ökonomische Fragen waren darin integriert oder blieben außen vor, weil sie als private Angelegenheiten (insbesondere beim kleinbäuerlichen Parzelleneigentum) betrachtet wurden. Es gibt linke Vertreter*innen der Rätedemokratie wie z.B. Hannah Arendt4 oder Murray Bookchin5 (daran anknüpfend Abdullah Öcalan), die genau diese alte Form kleinbürgerlicher politischer Demokratie geradezu als wiederherzustellendes Ideal betrachten. Dabei wird oft verkannt, dass mit den Sowjets seit 1905 dem Inhalt nach etwas gänzlich Neues entstanden ist, das auf die organisierte Betriebsweise der kapitalistischen Produktion reagieren musste: nämlich die Arbeiter*innenräte. Der Kapitalismus schafft ja das kleinbürgerliche Eigentum an Produktionsmitteln ab zugunsten eines übergreifend arbeitsteiligen, industriellen Zusammenhanges, durch den die Produktion des Reichtums zunehmend unter wenigen Kapitalkonglomeraten konzentriert und zentralisiert wird. Als solcher hat sich das Kapitalverhältnis längst gegenüber der Gesellschaft verselbstständigt und liegt außerhalb jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle. Man geht arbeiten und kennt oft selbst nicht mal das Produkt, das durch die eigene Tätigkeit hergestellt wird. Banken und Konzerne, die längst nicht mehr rentabel wirtschaften, werden in Krisen von Staaten mittels riesiger öffentlicher Kredite gerettet, weil durch ihren Zusammenbruch die gesamtgesellschaftliche Infrastruktur gefährdet wäre, ohne sie nur irgendwie auch einer öffentlichen Kontrolle zu unterstellen. Die Eigentumsverhältnisse sind dabei (nicht zuletzt durch das Aktienkapital) völlig undurchsichtig geworden.
Die Arbeiter*innenbewegung musste – ohne dass ihr dieser Zusammenhang klar vor Augen stünde – Kampfformen entwickeln, die dieser Entwicklung entsprachen. Sie entdeckte, dass das Mittel des Arbeitskampfes – der Streik – auch ein wirkmächtiges politisches Kampfmittel sein kann. Allerdings reicht es unter den gegeben Umständen nicht aus, einen einzigen Betrieb oder eine Branche zu bestreiken, sondern überall müssen die Räder stillstehen. Anfang des 20. Jahrhunderts wird dann der Generalstreik entdeckt! Während eines Generalstreiks müssen sich die Arbeiter*innen dennoch weiterhin selbst versorgen und eine gewisse gesellschaftliche Grundinfrastruktur aufrechterhalten. Es kommt zu Betriebsbesetzungen, bestimmte Sektoren produzieren unter Arbeiter*innenkontrolle weiter, um diese Versorgung zu gewährleisten. Es entstehen Streik- und Betriebskomitees, die sich miteinander abstimmen, um das Ganze zu organisieren. Formal verfahren diese Komitees (oder Räte) wie alle Räte, die basisdemokratisch verfasst sind: Alle Beteiligten haben gleiches Stimmrecht, es wird diskutiert, es werden Beschlüsse gefasst und umgesetzt. Aber hier schimmert erstmals der Versuch auf, den riesigen industriellen Komplex unter Kontrolle zu bringen und ihn an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten. Das ist das eigentlich Neue an den Arbeiter*innenräten in den Generalstreiks im Unterschied zur vormodernen Rätedemokratie, denn einen solchen Industriekomplex hat es ja bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht gegeben.
Allerdings ist die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, wie wir wissen, eine Geschichte von Niederlagen (mit Teilerfolgen). Nicht selten war den Führern ihrer eigenen Parteien ein Stück vom Staatskuchen zu erhalten wichtiger als die Frage einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft. Gerade die Arbeiter*innen selber waren sich wohl der „unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“6 (Marx) nicht bewusst. Viele mochten wohl glauben, der Organisation eines sozialistischen Betriebslebens auf großer Stufenleiter nicht gewachsen zu sein, zumal auch für die theoretisch gebildeten unter ihnen unklar blieb, wie ein übergreifender gesellschaftlicher Zusammenhang auf dieser Grundlage langfristig bestehen könnte. Die ersten, die originär der Arbeiter*innenklasse entstammten und sich darüber systematisch Gedanken machten, waren die Rätekommunist*innen in den 1920er Jahren. In ihren „Grundprinzipien“ hat die GIK erstmals die Idee der Arbeiter*innenselbstverwaltung mit der Arbeitszeitrechnung in Verbindung gebracht. Selbstverwaltete Betriebe sollen auf der Grundlage der gesellschaftlich-durchschnittlichen Arbeitsstunde den ökonomischen Güterverkehr regeln – ohne Geld, ohne Profit, ohne Ausbeutung! Natürlich ist es damit allein nicht getan. Es müsste daneben dennoch so etwas wie politische Räte geben – seien es nun Gemeinderäte in Dörfern, Bürger*innen- oder Nachbarschaftsversammlungen in Städten –, die allgemeine Beschlüsse für das kommunale Zusammenleben fassen oder auch Richtlinien für das Wirtschaften in den Betrieben festlegen. Allerdings sind in diesen Räten neben allen anderen gesellschaftlichen Gruppen (von Klassen kann hier natürlich keine Rede mehr sein) auch die Produzent*innen vertreten. Unserer Ansicht nach hat das Konzept nichts an Aktualität eingebüßt, wenn die kapitalistische Wirtschaftsweise ernsthaft überwunden werden soll. Diejenigen, die von Bürger*innenversammlungen träumen, aber die kapitalistische Betriebsstruktur unangetastet lassen wollen, haben ein durchaus kleinbürgerliches Verständnis von Politik. Ihre Utopie läuft auf einen starken, wenn nicht gar autoritären Staat hinaus. Ohne eine sozialistische Produktionsweise könnte den Räten bestenfalls die Aufgabe der Mitbestimmung oder der Kontrolle von Herrschaft zukommen, aber nie die der Selbstverwaltung.
Das führt uns zur zweiten Frage: Zur Funktion der „Intellektuellen“ angesichts einer schlecht organisierten Arbeiter*innenklasse. Vielleicht sollten diese erst einmal verstehen, dass es bei der Organisation kommunistischer Bewegung nicht darum geht, den Arbeiter*innen Ideen zu verkaufen. Diese Zeiten sind zurecht vorbei. Die subalternen Klassen hegen inzwischen ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Form von Politik, weil sie instinktiv wissen, dass die politischen Parteien und andere Stellvertretergruppen, NGOs, linke und liberale Medien usw. letztlich nie in ihrem Interesse sprechen. Diese ganze mediale Marktschreierei ist so unendlich weit weg von der Lebensrealität der Menschen und ihren Problemen. Dabei hat sich seit Jahrzehnten nichts gebessert, im Gegenteil, werden die Arbeitsbedingungen immer mieser, die Reallöhne sinken und der Leistungsdruck auf die Beschäftigten wächst im gleichen Verhältnis wie die industrielle Reservearmee. Das ist die Wirtschaft, die von Krise zu Krise immer aufs Neue „gerettet“ werden muss. Bei diesem sozialen Kahlschlag, der in den 1980ern seinen Anfang nahm, spielten die sozialdemokratischen und sozialistischen Arbeiter*innenparteien keine geringe Rolle. Sie haben ihre Bewegung verraten. Im zeitgenössischen politischen Diskurs wollen alle nur noch die „Mitte der Gesellschaft“ erreichen. Das ist ebenso nichtssagend wie entlarvend. Aber wir wissen ja, dass dieses ganze Elend schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm und in dem nationalistischen Kriegstaumel der Sozialdemokratien aller Länder seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Die Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand. Die zeitgenössische parteiübergreifende Kriegsgeilheit, die von den meisten Medien eifrig angefeuert wird, ist ja nicht zu überhören.
Das liegt unserer Meinung nach an einem strukturellen Problem, das die ganze Geschichte der Arbeiter*innenbewegung durchzieht und mit dieser Frage hier eng zusammenhängt: Die Theoretiker*innen und Intellektuellen der Arbeiter*innenbewegung entstammten schon damals nicht mehrheitlich der Arbeiter*innenklasse. Seien es nun Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg, Hilferding, Bernstein oder Kautsky: Sie alle kamen aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen oder gar – wie Lenin – aus dem Adel und fühlten sich vor allem durch ihre theoretische Bildung zu Stellvertretern der Bewegung berufen. Alle hatten sie die klassenlose Gesellschaft zum Ziel, nur stritt man sich über den Weg dorthin, also über die richtige politische Strategie. Schaut man sich aber heute – nach 100 Jahren – die Vorstellung von sozialistischer Planwirtschaft von sozialdemokratischen Theoretiker*innen wie Hilferding an, dann sind diese Ideen dem real-existierenden Sowjetsozialismus mehr als ähnlich. Hie und da soll alles ein bisschen demokratischer zugehen und die bürgerlichen Freiheiten weiß man in der Regel auch zu schätzen, so lange gesagt wird, was einem passt, aber de facto geht es nicht um Arbeiter*innenemanzipation, um Arbeiter*innenkontrolle und -selbstverwaltung, sondern der Staat plant und teilt zu, während die Arbeiter*innen weiter buckeln. Intellektuelle und Beamte bekommen natürlich für ihre ach so wichtigen Staatsdienste höhere Gehälter als die Arbeiter*innen – welch eine Überraschung! Dieses Problem wurde von revolutionären Marxist*innen in der Arbeiter*innenbewegung durchaus erkannt. Die ganzen Polemiken Rosa Luxemburgs gegen die reformistischen Tendenzen in der SPD müssen in diesem Zusammenhang begriffen werden. Auch Lenin und Trotzki wurden des Problems gewahr, dass die Bolschewiki sich in eine Rotte diensteifriger Bürokraten verwandelten, ohne dass sie daran noch etwas hätten ändern können. In ihrem Erschrecken genossen sie nur die Früchte ihrer eigenen Arbeit. Wir wollen die Leistungen der großen marxistischen Theoretiker*innen keineswegs schmälern, aber gerade nach dem Scheitern des Sowjetsozialismus und der Krise der heutigen Arbeiter*innenbewegung ist gründliche Selbstkritik angebracht.
Den linken Intellektuellen – wenn es so etwas heute überhaupt noch gibt – ist grundsätzlich zu misstrauen, vor allem dann, wenn sie sich selbstlos gebaren und vorgeben, sie wollten mit ihren Ideen für alle das Beste. Allzu oft schon mussten wir in linken Kontexten – gerade dort, wo man sorgsam eine radikale kritische Theorie hegt und pflegt – verbitterten Zynismus und eine unterschwellige Verachtung für die subalternen Klassen zur Kenntnis nehmen: Man glaubt doch im Grunde immer noch, dass die Arbeiter*innen moralisch fragwürdig und viele zu blöde dafür seien, den materiellen Lebensprozess, also ihr eigenes Leben zu organisieren. Die Meisten trauen es ja nicht mal sich selber zu in vielen Fällen. Nicht wenige denken vermutlich sogar, dass die Arbeiter*innen ohnehin alle Nazis seien, während sie selber harte Strafen für diese Nazis, Zwangsimpfungen für Corona-Leugner und hartes Durchgreifen gegen „Klimasünder“ fordern. Die Linken sind sich selbst nicht darüber im Klaren, wie autoritär ihre Ideen und Forderungen oftmals sind und nur auf einen repressiven Staat hinauslaufen können – auch wenn man bunt und liberal daherkommt. Das ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Staat der größte Geld- und Arbeitgeber des linken Milieus ist. Alle Ideen von gesellschaftlicher Selbstorganisation, Arbeiter*innenselbstverwaltung und basisdemokratischen Räteversammlungen liegen darunter verschüttet. So lange Linke der Ansicht sind, die Arbeiter*innen seien nichts weiter als geeignete Objekte von Bildung und Erziehung, so lange sind die Arbeiter*innen gut darin beraten, auf das Geschwafel aus TV, Social Media und Zeitungen zu pfeifen und sich bestenfalls für den betrieblichen Kampf ihre eigenen Vertrauensleute zu suchen.
Soziologisch gesehen reproduziert sich in der hier genannten Trennung von linker „Intelligenz“, also akademisch-gebildetem Aktivismus hier und Arbeiter*innenklasse dort die für die kapitalistische Produktionsweise fundamentale Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Diese Form der herrschaftlich strukturierten Arbeitsteilung gilt es selber gesellschaftlich aufzuheben. Das sollte vor allem den Theoretiker*innen innerhalb der Linken einmal klar sein. Bildung ist zwar wichtig, aber ihr muss auch eine konkrete soziale Praxis entsprechen. Man wird die Menschen nicht in Schulungen mit Seminaratmosphäre überzeugen. Die „alte Arbeitsteilung“7 (Engels), die Trennung von „Hand- und Kopfarbeit“, wird in der Arbeitszeitrechnung, wie wir sie fordern, konkret dadurch aufgehoben, dass jede Arbeitsstunde gleich zählt. Zugleich wäre dadurch materielle Gleichheit sichergestellt. Wie aber gewährleistet man politische Gleichheit? Nur durch die Demokratisierung aller Lebensbereiche, durch die Selbstverwaltung der Gesellschaft in Räten. Wir sehen dazu keine Alternative, wenn der Kapitalismus überwunden werden und neue Herrschaftsformen zugleich verhindert werden sollen. So viel zur Aktualität des Ganzen.
Ihr habt die Krise der Linken angesprochen und herausgeschält, dass zwischen der Intelligenzia und den Lohnarbeiter*innen ein Missverhältnis besteht. Eine gegenseitige Befruchtung im Sinne der Emanzipation von der Herrschaft des Kapitals scheint verstellt. Und dennoch winkt ihr den gemeinsamen Kampf und die Debatte um eine sozialistische Strategie nicht ab. Welche Schlüsse zieht ihr theoretisch wie praktisch aus dem historischen Scheitern der Arbeiter*innenklasse? Welche Maßnahmen bzw. Schritte strebt ihr an, um diese Lücke zu schließen? Und inwiefern ist eure Interpretation des Rätegedankens und die daraus folgende Praxis eine Utopie?
Zunächst einmal geht es uns – vom Standpunkt unserer theoretischen Arbeit aus betrachtet – darum, diese Probleme und Widersprüche zu benennen. Es geht darum, das eigene Denken, die eigenen „Ideale“ zu verorten, ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu begreifen. Das heißt für die aktuelle Situation, zu verstehen, dass die Linke heute weitgehend nicht mehr der Arbeiter*innenklasse entstammt, sondern den kleinbürgerlichen, zumeist akademisch ausgebildeten, Schichten. Auch wir von IDA sind da keine Ausnahme. Natürlich sind (wir) alle irgendwie Lohnabhängige, also von der Kontrolle über den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess getrennt. Aber mit Blick auf die hier angesprochene soziale Verschiebung ist es eben ein Unterschied, ob man eine Angestellten- oder Beamtenposition innehat, also Büroarbeit leistet und vielleicht sogar leitende Funktionen übernimmt oder nach wie vor schwere körperliche Arbeiten verrichten muss – wozu für uns natürlich auch fast die gesamte Arbeit im prekären Care-Sektor zu rechnen ist. In der marxistischen Theorie ist die Stellung im Gesamtprozess der gesellschaftlichen Produktion entscheidend für die Klassenbildung, nicht die Höhe des Einkommens. Und je nach Stellung hat man daher auch sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wie die Gesellschaft zu laufen hat oder welche Themen gerade für jemanden gesellschaftlich relevant erscheinen. In diesem Sinne verzeichnen wir gerade einen Trend innerhalb der Linken, durchaus wichtige Themen anzusprechen, wie etwa Migration und Rassismus, Reproduktionsarbeit und Sexismus, den Klimawandel und die globale Ungleichheit, das Erstarken neofaschistischer Bewegungen; aber man verliert sich dabei oft im Abwehrkampf oder beharrt in einer Opferrolle. Als Gegenreaktion greift man auf die altbekannten Maßnahmen zurück: Demos organisieren, Konferenzen abhalten, Infoveranstaltungen etc. Gemeinhin gibt man sich dabei auch antikapitalistisch, aber die Frage ist ja, wie sähe eine humane nichtkapitalistische, also sozialistische, Gesellschaft denn aus? Dazu gibt es in der Linken bisher wenig konkrete Ideen, was sich unserer Ansicht nach einerseits daran zeigt, dass die aktuellen Arbeitsverhältnisse, Ausbeutung und die Belange der Lohnabhängigen inzwischen eine untergeordnete Rolle spielen und andererseits auch daran, dass dann am Ende doch immer der Staat auf den Plan treten soll und gesetzliche Regulierungen und Maßnahmen verlangt werden.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es gibt viele linke Basisgruppen, die wichtige und gute Arbeit leisten – Kiezinitiativen, Nachbarschaftsläden mit Sozialberatungsangebot, Support für Geflüchtete, selbstverwaltete Häuser, Kneipen, Betriebe etc. Wir wollen das alles nicht schlechtmachen, sondern sehen da zunächst mal ein ungeheures kreatives und intellektuelles Potential, das sich betätigen will. Die entscheidende Frage ist nun, wie und wo kann sich dieses Potenzial denn wirklich verausgaben, ohne dass es letztlich vergeudet wird? Darauf haben wir selber keine endgültige und befriedigende Antwort, d.h. wir wissen auch nicht, was man ad hoc, hier und heute anders machen kann. Schließlich sind es ja die übermächtigen entfremdeten gesellschaftlichen Strukturen, die die Menschen dazu zwingen, sich so zu verhalten wie sie es tun. Allerdings lässt sich in der Linken doch im Großen und Ganzen das Fehlen einer echten Vision von der künftigen Gesellschaft verzeichnen und das tut ihr überhaupt nicht gut. Denn ohne diesen Kompass verkommt die eigene Praxis zur Freizeitaktivität, die dann am Ende nur noch als lästig und frustrierend empfunden wird oder – noch schlimmer – aus der man dann seinen Lebensunterhalt bestreitet. Dann sind plötzlich all die Jobs, die von NGOs zur Bekämpfung von Not und Armut geschaffen werden, finanziell auf den Fortbestand von Not und Armut angewiesen. Aber davon haben wir ja bereits gesprochen. Unabhängig von der Frage, was aktuell zu tun wäre, bräuchte es eine breite öffentliche Debatte über eine konkrete sozialistische Alternative, die nicht nur von linken Planwirtschaftsexpert*innen geführt wird und dann auch nie den Horizont inner-linker Debatten überschreitet, sondern die weite Teile des öffentlichen Diskurses ergreift.
Wir glauben, dass die Theorie der Arbeitszeitrechnung eine ideale Grundlage dafür bietet, denn sie ist einerseits radikal in dem Sinne, dass sie auf egalitäre Verhältnisse ohne Geldwirtschaft zielt (durch das Prinzip, dass jede Arbeitsstunde gleich vergütet wird) und dadurch Transparenz schafft und zugleich Ausbeutung (im Sinne der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit) verhindert; andererseits knüpft sie aber durch die fortbestehende Vergütung individueller Arbeitsleistungen in Arbeitszertifikaten an die Gewohnheiten und Erfahrungen der arbeitenden Bevölkerung an. In gewisser Weise ist das Konzept also den Menschen „vertraut“. Dieser Umstand hat ja auch dazu geführt, dass einige linksradikale Gruppen, vor allem aus dem wertkritischen Spektrum, uns vorwarfen, bei uns würde die Lohnarbeit weiterhin existieren. Das ist allerdings insofern irreführend, als die Marxsche Kritik der Lohnarbeit nicht darin besteht, dass Menschen arbeiten müssen bevor sie etwas konsumieren können – das mussten die Menschen ja immer –, sondern dass die Lohnarbeit die Arbeitskraft zur Ware macht. Damit reduziert sie zum einen ihren Wert auf ihre Reproduktionskosten, während die Mehrarbeit vom Kapital als Mehrwert (resp. Profit) angeeignet wird und zum anderen werden hierdurch Bedingungen der gesellschaftlichen Entfremdung vorausgesetzt, also die Trennung der Produzent*innen von der Verfügung über die Mittel gesellschaftlicher Produktion. Diese Trennung soll in unserem Konzept aufgehoben werden durch die Vergesellschaftung aller Betriebe und die betriebliche Selbstverwaltung durch Arbeiter*innenräte. Natürlich ergeben sich hierdurch vielfältige Probleme und Fragen: Was ist mit der großen Masse von Menschen, die gar nicht arbeiten können (oder nicht arbeiten wollen)? Wie bezieht man deren Wünsche und Interessen mit ein? Welche Rolle spielt der Staat darin? Muss jede Arbeit gleich vergütet werden? Was ist mit den unangenehmen Arbeiten? Wie verhält es sich mit der Reproduktionsarbeit, insbesondere der Hausarbeit? Ist eine solche Ökonomie sicher vor Betrug und Kriminalität? Wie verhindert man den Rückfall in die Tauschwirtschaft? Diese Fragen können und wollen wir an dieser Stelle nicht klären.
Das Interessante ist vielmehr, dass sich innerhalb des Rahmens der Arbeitszeitrechnung auf all diese Fragen eine Antwort finden ließe. Das beweist unserer Ansicht nach, dass sie eine ideale Arbeitsgrundlage ist. Auf ihrer Basis lassen sich vielfältige gesellschaftliche Probleme verhandeln und ausdiskutieren, ohne dabei die für alle Beteiligten gleichen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen zu verlassen. Sie ist somit kein Selbstzweck (wie in der kapitalistischen Gesellschaft etwa das Geld und der Hunger nach Mehrwert), sondern vielmehr ein Instrument, um die Selbstorganisation der Gesellschaft in für alle nachvollziehbarer Weise durchzuführen. Wie diese Gesellschaft sich dann konkret ausgestaltet, welche politischen und moralischen Standards das Wirtschaften konkret beeinflussen, welche neue Beziehungsformen die Menschen entwickeln und welche Institutionen dabei geschaffen werden, bleibt aber den Akteuren der Gesellschaft überlassen. Die Menschen müssen das selber in einem demokratisch-revolutionären Prozess aushandeln. Darüber wollen wir keine Vorschriften machen und insofern ist es auch gar nicht unsere Absicht, diese Zukunftsgesellschaft bis ins Letzte auszupinseln. Wir sagen nur: die Arbeitszeitrechnung wäre eine geeignete ökonomische Basis hierfür. Um also schon mal die Antwort auf die letzte Frage vorwegzunehmen: Die Arbeitszeitrechnung ist eine Utopie, aber sie ist kein Utopismus. Man könnte an dieser Stelle auch Ernst Blochs Begriff der „konkreten Utopie“ bemühen.8 Damit ist eine Utopie gemeint, die sich nicht als das „ganz Andere“ der jetzigen Welt abstrakt gegenüberstellt und damit immer unerreichbar bleibt, sondern die sich in der Kritik an den heutigen Zuständen entwickelt hat und dabei dennoch allgemeine gesellschaftliche Gegebenheiten berücksichtigt. Das gleiche tut Marx, wenn er an prominenter Stelle im Kapital folgendes schreibt:
Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. [...] Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Er muß daher unter sie verteilt werden. Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten. Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution.9
Für jede Gesellschaft stellt sich die Frage – und für eine sozialistische, herrschaftsfreie umso mehr –, wer produziert welches Produkt und wie kommen die Produkte zu denen, die sie benötigen? Darauf versucht die Arbeitszeitrechnung eben eine Antwort zu finden.
Aber wie kommen wir dahin? Wir von IDA versuchen erst einmal die Idee bekannter zu machen und dadurch eben Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen. Wie gesagt, Ziel des Ganzen ist es eine breite Debatte anzustoßen. Wenn uns das gelänge, wäre schon viel getan. Aber natürlich muss man dafür auch in der Gesellschaft eine gewisse Resonanz finden und es steht zu befürchten, dass Alternativen zum Kapitalismus erst dann wieder diskutabel werden, wenn der Laden mal wieder in der Krise ist, obwohl dann zugleich auch andere irrationale Mächte auf den Plan treten könnten. Besser wäre es, wenn die Arbeitszeitrechnung in einem solchen Moment schon real praktiziert würde, beispielsweise von bereits selbstorganisierten Kollektivbetrieben. Denn gemeinhin ist die Praxis für viele Menschen doch überzeugender als gute theoretische Argumente. Wir suchen daher einerseits den Kontakt mit Kollektivbetrieben, andererseits wäre es aber auch wünschenswert, wenn wir für diese Theorie bei den traditionellen Gewerkschaften Gehör fänden. Insofern suchen wir auch den Kontakt zur Arbeiter*innenklasse, wenn man das so sagen will. Aber wir stehen da noch ganz am Anfang und haben diesbezüglich wenig zu vermelden. Wie bereits gesagt, es geht uns nicht darum, den Arbeiter*innen irgendeine tolle Idee zu verkaufen. Das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Selbstorganisation muss in den Menschen selbst entstehen, sonst hat die Arbeitszeitrechnung ohnehin keine Chance. Wir hatten ja bereits gesagt, das Ziel sollte es sein, die Trennung von Intellektuellen hier und Arbeiter*innenklasse dort zu überwinden, sonst reproduziert sich wieder nur die leninistische Trennung von Partei (Avantgarde) und Klasse.
Wir denken, die Linke wird nur dann wieder gesellschaftlich an Boden gewinnen, wenn sie konsequent den Standpunkt der Selbstorganisation, der Übernahme der Produktionsmittel und der Demokratisierung aller Lebensbereiche vertritt. Die künftige Gesellschaft müssen die Menschen selber aushandeln und wir – als Linke – sind nur ein Teil davon. Das ist ein unangenehmer Gedanke. Denn das bedeutet, sich mit Menschen auseinandersetzen zu müssen, deren Sprache nicht politisch korrekt ist und die – provokant gesagt – noch keine Seminare zu kritischer Männlichkeit und dergleichen besucht haben. In einem solchen Aushandlungsprozess wird man sicherlich noch mit vielen sexistischen und rassistischen Verhaltensweisen und Ressentiments konfrontiert werden. Aber dem wird man nicht dadurch Abhilfe leisten, dass man die Menschen versucht umzuerziehen. Wir halten es für wahrscheinlicher, dass sich solche Ressentiments und Pathologien nur dann auflösen, wenn die Menschen neue konkrete solidarische Beziehungen eingehen und auf allen Ebenen ihres Lebens dazu genötigt sind, mit anderen selbstständig zu kooperieren.
Wir wiederholen uns nur, wenn wir sagen, dass dazu vor allem der Fokus auf den Staat fallengelassen werden muss. Natürlich sind sozialstaatliche Sicherungssysteme, gleiche Bildungschancen, Rechtsstaatlichkeit und dergleichen nicht unwichtig, aber sie bewahren die Menschen nur vor dem Schlimmsten und stellen keineswegs ausbaufähige Utopien dar, da es die staatlichen Strukturen selbst sind, die immer wieder Entfremdung, Unmündigkeit, Abhängigkeit und Ohnmacht hervorbringen. Man sollte endlich sich der Illusion entledigen, der Staat sei für die Menschen da. Ganz im Gegenteil ist er in erster Linie das Gewaltmonopol, das die bestehenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aufrecht erhält und schützt. Das bedeutet umgekehrt, dass in dem Maße, in dem alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – Nachbarschaften, Gemeinden, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und schließlich Betriebe – demokratisiert, d.h. selbstverwaltet werden, der Staat und seine Verwaltungsapparate überflüssig werden. Das ist die Utopie, die wir anstreben. |P
1. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Arbeiterpartei_Deutschlands [zuletzt aufgerufen am 16. November 2024].
2. Gruppe Internationaler Kommunisten, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung (Hamburg: Red&Black Books, 2020).
3. Vgl. Youtube: Adorno | Horkheimer | Kogon: Die verwaltete Welt oder: Die Krise des Individuums, für den Hessischen Rundfunk, gesendet am 4. September 1950. Abgedruckt in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 13: Nachgelassene Schriften 1949-1972, (Frankfurt am Main: Fischer, 1989), 121–142. Das dort abgedruckte Radiogespräch („Die verwaltete Welt oder: Die Krise des Individuums“) zwischen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Ernst Kogon wurde am 4. September 1950 vom Hessischen Rundfunk gesendet und ist hier nachzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=89o2VYn7MJc [zuletzt aufgerufen am 16. November 2024].
4. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (München: Piper, 2021), 302-311.
5. Vgl. Murray Bookchin, „Libertärer Munizipalismus: Eine Politik der direkten Demokratie“, in Die nächste Revolution. Libertärer Kommunismus und die Zukunft der Linken (Münster: Unrast, 2020), 105-119.
6. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in MEW, Bd. 8 (Berlin: Dietz, 1972), 118.
7. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), in MEW, Bd. 20 (Berlin: Dietz, 1962), 271ff.
8. Vgl. „Adorno | Bloch: Möglichkeiten der Utopie heute“, ein Radiogespräch zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch für den Südwestfunk, gesendet 1964, nachzuhören auf YouTube, 52:36, https://www.youtube.com/watch?v=_w5E2-ABxyQ [zuletzt aufgerufen am 16. November 2024].
9. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ă–konomie, in MEW, Bd. 23 (Berlin: Dietz, 2005) 92f.