Die Leistungen der "Antideutschen"
Ausgabe #34 | November/Dezember 2024
von Gerhard Hanloser
Es gibt nicht wenige linke Zeitgenossen, die der ab den 90er Jahren aufkommenden âantideutschenâ Strömung theoretische wie praktische Leistungen attestieren wollen. Demnach sei zwar manches verkehrt gelaufen, aber âAntideutscheâ hĂ€tten grundsĂ€tzlich zu einer Erneuerung der Linken und zu wesentlichen Korrekturen linker Fehler beigetragen. Der Autor der folgenden Reflexionen sieht dies vollkommen anders. Rasch könnte man den grundlegenden Irrationalismus und die im Kern anti-emanzipatorischen Fehlleistungen der âAntideutschenâ benennen. Ich schreibe âAntideutscheâ stets in AnfĂŒhrungszeichen, denn diese Strömung blieb national auf Deutschland fixiert und ihr gelang keine aufhebende Kritik. Ich möchte dennoch versuchen, diese Strömung, die aus der Linken kam, sich zusehends nach rechts wandte und sogar im ideologischen Gravitationszentrum des neuen imperialistischen Deutschlands gelandet ist, an ihren stĂ€rksten theoretischen Erkenntnissen messen, um sie angemessen zu kritisieren.
Den âAntideutschenâ wird attestiert, sie hĂ€tten:
- erstens: sich um die Antisemitismustheorie verdient gemacht
- zweitens: einen inhaltlich erweiterten Begriff und ein tieferes VerstÀndnis des deutschen Faschismus bzw. Nationalsozialismus erlangt
- drittens: Fehler und Ideologien der linken Bewegungen vor ihnen nachhaltig aufgedeckt und korrigiert
- viertens: in wichtigen erinnerungspolitischen und vergangenheitspolitischen AbwehrkÀmpfen gegen einen rechten Revanchismus und Revisionismus agiert
- fĂŒnftens: mit der Rezeption Kritischer Theorie und Neuer Marx-LektĂŒre eine fundamentalere und tiefgreifendere Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Ideologien vorgelegt
- sechstens: auf dem Höhepunkt der nationalistischen Besoffenheit von 1989 und in den folgenden Jahren mit ihrem âNie wieder Deutschland!â ein gutes Gegenmittel bereitgestellt
Gehen wir die genannten Felder durch.
1. Zentraler Bezugstext der antideutschen Strömung stellt bis heute âAntisemitismus und Nationalsozialismusâ von Moishe Postone dar. Der Text entstand in den 70ern an der Schnittstelle von Ableitungsmarxismus und innerlinker Selbstkritik. Er wurde auch von der âantideutschenâ Initiative Sozialistisches Forum (ISF) in ihrem Freiburger Zeitschriftenprojekt publiziert und gilt bis heute als ein wesentlicher theoretischer Bezugspunkt der âantideutschenâ Szene.1 Postone versuchte, den nationalsozialistischen Antisemitismus aus der Warenstruktur der Gesellschaft selbst abzuleiten. Dieser Versuch, der der Warenform einen Bewusstseinsinhalt zuordnet, musste scheitern und wurde deshalb von verschiedenen marxistischen Autoren sowie Historikern des Antisemitismus kritisiert. AuĂerdem lebt der Text davon, positive Begriffe der linken Szene (âRevolteâ, âAntikapitalismusâ) vor der Folie des Vernichtungsantisemitismus zu diskutieren. Dass im modernen Antisemitismus und ebenfalls im Antisemitismus des deutschen Faschismus ein Pseudoantikapitalismus steckt, ist keine neue Erkenntnis. Ernst Bloch spĂŒrte dem essayistisch nach, Sartre, Adorno und Horkheimer wussten davon. Auch die Neue Linke mit ihren Köpfen wie Ulrike Meinhof war diese demagogische Ideologiestruktur des Antisemitismus, der die Juden als âKapitalistenâ imaginiert, bekannt. Bei Postone verschwanden allerdings die wahren TriebkrĂ€fte und TĂ€tergruppen des Nationalsozialismus, die den Vernichtungsantisemitismus ideologisch vertraten und praktisch exekutierten. Der auf SĂ€uberung und Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen tendierende Rassismus im NS-Antisemitismus wurde marginalisiert. Doch die eliminatorische QualitĂ€t des NS-Antisemitismus erhielt dieser nicht allein aus der verschwörungsideologischen Komponente, dass âjĂŒdische Machtâ (ein Konstrukt, das Postone ideologiekritisch auf die âabstrakte Seite des Kapitalismusâ, bzw. den âWertâ zurĂŒckfĂŒhrt) in den Augen der NS-Antisemiten gebrochen werden mĂŒsste, sondern in der Kombination von auf SĂ€uberung hinauslaufender antisemitischer Erlösungssehnsucht, einer pseudowissenschaftlichen Rasse-Ideologie und totalitĂ€r-bĂŒrokratischer Gesellschaftsplanung mit raum-imperialistischem Anspruch. Die konkrete Vernichtungspolitik fand im Kontext der imperialistischen Lebensraumgewinnung statt, die von Postone ausgeblendet wird (weiteres dazu unter 2.). Auschwitz als Ort von Vernichtung jĂŒdischen und anderen âunwertenâ Lebens und der Zwangsarbeit fĂŒr die deutsche Industrie zugleich wurde von ihm enthistorisiert und reichlich esoterisch zu einer âFabrik zur Vernichtung des Wertsâ erklĂ€rt.
Die Rezeption von Postones Thesen des Antisemitismus als âverkĂŒrzter Antikapitalismusâ im âantideutschenâ Milieu fĂŒhrte dazu, dass zuerst in einer Umkehrbewegung jeder âverkĂŒrzte Antikapitalismusâ - und davon gibt es viele Formen â als ânotwendigâ oder zumindest âstrukturell antisemitischâ erklĂ€rt wurde, spĂ€ter dann â wie an hĂ€ufigen âantideutschâ inspirierten Tweets auf X heute noch abzulesen ist â alle Kritik am Kapitalismus als notwendig antisemitisch dargestellt wird. In einer irren Umkehrung der ursprĂŒnglichen Absichten des antikapitalistischen und zur Zeit der Textabfassung ĂŒbrigens jĂŒdisch-antizionistischen Linken Moishe Postone behaupten âantideutscheâ Influencer, der Jude mĂŒsse einem notwendig als Feind einfallen, wenn Ausbeutung kritisiert wird. Damit betreiben vorgeblich antisemitismuskritische Zeitgenossen allerdings eine selbst antisemitische Gleichsetzung von Jude und Kapitalist. Dies stellt auch den ideologischen Hintergrund dar, vor dem sich ehemalige Linke und liberale Konservative und Apologeten des Kapitalismus zu einer Art âQuerfrontâ verbinden. Sah kritische Antisemitismusforschung noch vor, dass die Menschen ihre eigene Gesellschaft richtig wahrnehmen mögen, um Antisemitismus abzustreifen und die Juden richtig zu sehen, so behauptet die affirmative Antisemitismusbeschwörung nur: âSeht die Gesellschaft, wie sie mit ihren Krisen und Ungerechtigkeiten nun mal ist, als die einzig richtige an, dann mĂŒsst ihr auch nicht antisemitisch handelnâ. Dass ihnen, den âAntideutschenâ zusammen mit allen Apologeten des Bestehenden, herrschafts- und ausbeutungskritische Linke fortan als âlinke Antisemitenâ erscheinen, ist nur folgerichtig, gehorcht allerdings einer hegemonial-rechten ErzĂ€hlung: dass sich in der Linken die schlimmsten Antisemiten tummeln wĂŒrden.
2. So wie beispielsweise die kapital- und kapitalistendienliche SĂŒndenbockstrategie des modernen Antisemitismus ignoriert wurde und diese Ignoranz noch als theoretischer Fortschritt in der Ideologietheorie behauptet wurde, so wurden ebenfalls die dem Nationalsozialismus zu Grunde liegenden und ihn erst auf den Plan rufenden Herrschaftsmechanismen entsorgt. Sicherlich mĂŒsste der deutsche Faschismus gegen eine einfache Agententheorie oder eine Monopolkapitaltheorie auch als gesellschaftliche Formation mit konsensstiftenden Ideologien begriffen werden. Der NS wurde auch âvon untenâ getragen. Dies zu begreifen gelang beispielsweise in BeitrĂ€gen zur Faschismustheorie der Zeitschrift âDas Argumentâ ab 1965. Auch die nicht-ML-dogmatischen Teile der Neuen Linken versuchten in Anschluss an Wilhelm Reich oder Klaus Theweleit den psychischen Dimensionen der HerrschaftsansprĂŒche âvon untenâ nachzugehen. In der antideutschen Faschismusrezeption hatte der Nationalsozialismus allerdings nichts mehr mit etwaigen Kapitalinteressen gemein, sondern galt als eine im doppelten Wortsinne âkapitalentsprungeneâ Gesellschaftsformation, die vollstĂ€ndig einem völkischen und antisemitischen Konsens erlegen sei. Was am NS kapitaladĂ€quat und den Kapitalinteressen entfleucht gewesen sein sollte, musste dabei offenbleiben. Gleichzeitig wurden die Erkenntnisse der Alltagsgeschichtsschreibung der 80er Jahre entsorgt, die â sicherlich marginale â Widerstandsaktionen aus Arbeiter-, kommunistischen oder beispielsweise katholischen Milieus analysierten und dem Eigensinn kleiner Leute, die sich der Volksgemeinschaftsideologie entzogen, nachspĂŒrten. Von Traditionslinien des Widerstands, gerade auch des kommunistischen Widerstands, wurde in âantideutschenâ Milieu beredt geschwiegen, wo sie nicht herabgesetzt wurden.
Der Antifaschismus der âAntideutschenâ war ein etatistischer. Wurde zu Beginn noch die Jalta- und Potsdam-Ordnung der GroĂen Drei positiv gegen das wiedervereinigte Deutschland und ein drohendes âViertes Reichâ angerufen, so affirmierte man spĂ€ter die Luftkriegsstrategie der Westalliierten (âBomber Harris, do it again!â). Dass dies nicht nur eine subversive Kommunikationsguerilla gegen deutsche Selbstviktimisierungs- und Opferdiskurse darstellte, sondern Auftakt zu einer Bejahung westlicher MilitĂ€rschlĂ€ge und luftkriegsgefĂŒhrter Kriege war, zeigte sich nach dem 11. September, als sich diese Szene fĂŒr jeden westlichen Krieg gegen als nazigleich behauptete Staaten, Gruppierungen und Bevölkerungen aussprach (vehement 2003 gegen den Irak, neuerdings gegen Gaza).
3. Als linke Bewegungsfehler wurden hauptsĂ€chlich der Antiimperialismus und der ihm zugeordnete Antizionismus gesehen, wobei der Antizionismus der Neuen Linken nicht als globales PhĂ€nomen der internationalistischen 68er-Protestbewegung begriffen wurde, sondern provinziell auf spezifische oder âtypisch deutscheâ Ressentiments zurĂŒckgefĂŒhrt wurde. Antizionismus sei schlicht Antisemitismus, wurde behauptet. Nationalen Befreiungsbewegungen wurde eine âvölkische Logikâ attestiert, wobei sie mittels des deutschzentrierten Ăberblendeffekts in die Richtung deutsch-reaktionĂ€rer Ideologien gerĂŒckt wurden. FĂŒr eine konkrete Kritik nationaler Befreiungsbewegungen war dies wenig hilfreich, ja, dies unterbot zuweilen noch den Stand der erreichten aufklĂ€rerischen und emanzipatorischen Kritik. Lange vor den âAntideutschenâ, also bereits in den 70er und 80er Jahren, setzten in der Linken eine Kritik des âDrittweltismusâ ein. Diese wurde beispielsweise von anarchistischen oder rĂ€tekommunistischen Stimmen artikuliert, die sich am stalinistischen Befreiungsnationalismus mit seinem autoritĂ€ren Etatismus stieĂen. Auch innerhalb der klassischen Internationalismusszene waren frĂŒh kritische Stimmen zu vernehmen, die sich gegen Romantisierung und einen unkritischen SolidaritĂ€tsbegriff wandten (von Vietnamkriegsaktiven ĂŒber Afrika- und Lateinamerikakomitees, von Nordirlandsoligruppen bis in die PalĂ€stinasolidaritĂ€t). Die âBlĂ€tter des iz3wâ (Informationszentrum Dritte Welt Freiburg) der 80er Jahre, also bevor diese renommierte und alte Internationalismuszeitschrift ab 2003 auf eine pro-westliche und vor allem pro-israelische Linie eingeschwenkt ist, bieten hierfĂŒr reichliches Material. Der traditionalistische Teil des Kommunistischen Bund in Hamburg, der sich also nicht zur âGruppe Kâ und âbahamasâ formieren sollte, kritisierte 1988 beispielsweise einen rund um die besetzte HafenstraĂe anzutreffenden unhistorischen Antizionismus, der Israel das Existenzrecht absprach. Anfang der 90er Jahre wurden Stimmen aus dem antiimperialistischen Widerstand und von sich auflösenden RevolutionĂ€ren Zellen (RZ) laut, die ihre Politik der kritiklosen Kooperation mit als Befreiungsorganisationen wahrgenommenen Gruppierungen des palĂ€stinensischen Widerstands in Frage stellten. Darauf bezogen sich âantideutscheâ Publizisten immer affirmativ, um in einer Ăbergeneralisierung und im Modus der Skandalisierung dem gesamten Antiimperialismus reaktionĂ€re Motive und dem Antizionismus antisemitische zu unterstellen. TragfĂ€higer und materialistischer waren immer jene Stimmen aus dem linkssozialistischen, rĂ€tekommunistischen oder libertĂ€r-anarchistischen Milieu, das in Deutschland schwĂ€cher ausgeprĂ€gt war und ist als in anderen LĂ€ndern. Sie beschrieben und kritisierten die nationalen Befreiungsbewegungen als Verkörperungen autoritĂ€rer nachholender Entwicklungsmodelle im globalen Kapitalismus, wĂ€ren aber niemals auf die Idee gekommen, die geschĂ€fts- wie kriegsfĂŒhrenden Gesellschaften des Westens zu hofieren.
Avantgarderolle im âantideutschenâ Diskurs nahm der Publizist Wolfgang Pohrt ein, als er in der linken Monatszeitschrift âkonkretâ 1991 US-Atombomben auf Bagdad forderte, wenn Saddam Hussein seine Drohung wahr machen wĂŒrde, Israel anzugreifen. Eike Geisel, ein weiterer bellizistischer Publizist der Golfkriegszeit, legitimiert das Abschlachten desertierender irakischer Soldaten am Ende des kurzen Golfkriegs durch die US-Armee damit, dass diese ja dafĂŒr ausgebildet seien, âIsrael in ein Krematorium zu verwandelnâ. Waren Pohrt und Geisel hier als einzelne streitbare Publizisten am Werk, so bildete sich nach den AnschlĂ€gen von Al Quaida 2001 eine ganze Szene heraus, die in der Berliner âjungle Worldâ ihr publizistisches Organ fand und die die Argumentationsmuster von Pohrt und Geisel wiederholte, variierte, banalisierte und radikalisierte.
Die Kriege von 1991 bis zur Libyenintervention, die die âAntideutschenâ mittels eines beispiellosen Bellizismus affirmierten, waren zuweilen völkerrechtsbrĂŒchige (so der Irakkrieg 2003), sowie Staaten und Gesellschaften zerstörende Unternehmungen eines selbstherrlichen und nach dem Ende des kalten Krieges von neuen Problemstellungen und Gegnern herausgeforderten Westens, die Hunderttausende von Toten hinterlieĂen und aus autoritĂ€ren Staaten staatsfreie Territorien machten, in die Dschihadisten und andere anti-emanzipatorische KrĂ€fte stoĂen konnten. Doch dieser Preis schien den publizistischen und szeneaktivistischen âAntideutschenâ hoch genug, um sich vom nationalstaatlich fixierten wie bewegungsorientierten Antiimperialismus der linken Vergangenheit lösen zu können.
4. Die âAntideutschenâ formierten sich in einer Phase des erinnerungspolitischen Umschlagpunkts in Deutschland. Mit der Wiedervereinigung konnte angenommen werden, dass es zu einem groĂen Aufschwung des Geschichtsrevisionismus und deutschen Revanchismus kommen könnte. TatsĂ€chlich sprachen etliche Tagesereignisse fĂŒr eine solche reaktionĂ€re Tendenz. In der Friedenspreisrede von Martin Walser mit den Schlagworten der âMoralkeule Auschwitzâ schien ein solches Beispiel vorzuliegen. In den Debatten und Suchfindungsprozessen der deutschen Eliten verorteten sich die âAntideutschenâ immer auf der Seite der âHolocaust awarenessâ. Dass sie zusehends im Mainstream der deutschen moralpolitischen Selbstdarstellung mitschwammen, entging ihnen dabei. So waren Goldhagens Thesen des ewigen deutschen Antisemitismus als konsensualem kulturellem Code trotz Anfeindungen durch die Historikerzunft im deutschen Diskursraum Ă€uĂerst beliebt, so auch bei den âAntideutschenâ.
Lediglich angesichts des von Rot-GrĂŒn durchgesetzten Kosovokriegs positionierten sich âAntideutscheâ traditionslinks, gegen den Kriegseintritt Deutschlands. Sie polemisierten gegen Fischers KriegsbegrĂŒndung, der mit âNie wieder Auschwitzâ die NATO-Intervention rechtfertigte. (Dabei befleiĂigte sich Fischer der gleichen Legitimationsideologie wie die antideutsche âkonkretâ 1991 wĂ€hrend des Golfkriegs.) Die âAntideutschenâ verorteten die TriebkrĂ€fte des Kosovokrieg allen Ernstes in einer typisch deutschen GeschichtsbewĂ€ltigung und nicht in imperialistischen Interessen. Sie taten so, als sei der maĂgeblich von den USA getragene Krieg gegen Rest-Jugoslawien ein âdeutscher Kriegâ zur Entsorgung der deutschen Vergangenheit gewesen. Dabei verzeichneten sie das serbische Restjugoslawien zu einem antifaschistischen Staat und erklĂ€rten die Kosovoalbaner zu einer völkischen Hilfstruppe des angeblich ewig deutsch-völkischen GroĂdeutschland. Die in Wirklichkeit atlantizistische NATO-Allianz von USA und rot-grĂŒner Bundesregierung wurde schlicht ignoriert oder geleugnet.
Nach der kurzen vermeintlich dissidenten Position wĂ€hrend des Kosovokriegs gewannen die âAntideutschenâ wieder Anschluss sowohl an den Mainstream der deutschen Vergangenheitspolitik, also auch an die deutschen auĂenpolitischen BĂŒndnisoptionen gegen mögliche âSonderwegeâ jenseits des atlantizistischen Bekenntnisses. Nicht mehr Kosovoalbaner galten als nazigleiche Statthalter des Völkisch-Faschistischen, sondern die PalĂ€stinenser. Israel â und das ist eine der ewigen âantideutschenâ Wahrheiten â musste als guter antifaschistischer Staat der verfolgten Juden erscheinen; in kurioser Ăberzeichnung wurde sogar Israel als âkommunistischâ imaginiert. Der Nahostkonflikt selbst geriet nur zur ProjektionsflĂ€che eigener BedĂŒrfnisse. NatĂŒrlich machte sich der akademische Teil der âAntideutschenâ dann auch daran, postkoloniale AnsprĂŒche in der Erinnerungspolitik und ein multidirektionales Erinnern gegen ein mittlerweile hegemoniales, fetischisiertes und instrumentalisiertes Holocaustgedenken abzuwehren. Die âAntideutschenâ standen und stehen damit deutsch gestimmt im Zentrum der StaatsrĂ€son, sind die wirklichen Vertreter eines âdeutschen Katechismusâ (Dirk Moses) â voller Denunziationseifer und SĂ€uberungswut.
Hier muss Platz fĂŒr eine sozialpsychologische Spekulation sein, die auf die dahinterliegenden Psychodynamiken verweist: Maoisten gab es in den 70er Jahren weltweit, Ăkologisten ebenso. âAntideutscheâ gibt es tatsĂ€chlich nur in Deutschland. Die âAntideutschenâ sind Kinder, Enkel und Urenkel der Nazi-TĂ€ter. In der positiven Rezeption von Goldhagens âWillige Vollstreckerâ wurde deutlich, dass diese Szene zu einem Milieu von Deutschen zu zĂ€hlen ist, die die Aussage âOpa war ein Naziâ vordergrĂŒndig affirmierte und nicht leugnete. Doch der ostentativen Einsicht in die Schuldgeschichte, folgte gleich die VerdrĂ€ngung. Vor dem Hintergrund einer unterrezipierten deutschen Geschichte des Faschismus (siehe Punkt 2) und einer fehlerhaften Antisemitismusbestimmung (siehe Punkt 1) leiteten sie ab, dass im Gleichklang mit westlichen VerbĂŒndeten ĂŒberall einem âbarbarischen Antikapitalismusâ Einhalt geboten werden muss, âAntisemitenâ mit Luftkrieg zu bekĂ€mpfen seien. Die mit Bomben eingedeckte irakische Zivilbevölkerung, die niedergemetzelten desertierenden Soldaten von Bagdad, die Toten des Gazastreifens sind der Preis fĂŒr den sauberen Psychohaushalt des âAntideutschenâ, der damit meint, den Judenmord seiner VĂ€ter, GroĂvĂ€ter und UrgroĂvĂ€ter aufwiegen und sĂŒhnen zu können. âFree Palestine from German Guiltâ ist eine Provokation fĂŒr die deutsche StaatsrĂ€son und attackiert sie so treffend wie jene Psychodynamik, die hinter der Pro-Israel-Position der deutschen âAntideutschenâ steht.
5. Aber die ganzen marxistischen und kritisch theoretischen Schriften, die âantideutscheâ Verlage wie der in Freiburg ansĂ€ssige ça ira Verlag veröffentlicht haben, mag man einwenden! Richtig. Das bleibende Verdienst âantideutscherâ Verleger wie des verstorbene Publizist Joachim Bruhn aus Freiburg war es, Schriften des linksradikalen Parlamentarismuskritikers Johannes Agnoli, Klassiker des RĂ€tekommunismus und Texte des âwestlichen Marxismusâ verlegt zu haben. Doch der Marxismus der âAntideutschenâ selbst, der sich zuweilen den Namen âantideutsche Wertkritikâ gab, blieb hinter diesen kanonischen Werken und Einsichten, fĂŒr die sich bereits die intellektuellen und wissbegierigen Teile der 68er-Generation erwĂ€rmen konnte, weit zurĂŒck. Mit Schlagworten von âsubjektloser Herrschaftâ und dem Kapital als âautomatischem Subjektâ wurde die kapitalistische Produktionsweise als Kapitalismus ohne Klassenkampf und Subjekte gedacht. Das Unrecht und die Ausbeutung sollten nicht mehr âName und Adresseâ (Bertolt Brecht) haben, sondern in unangreifbaren anonymen Strukturgesetzen zu verorten sein. Wer sich dennoch praxisorientiert auf die Suche nach Orten, EntscheidungstrĂ€gern und Verantwortlichen der herrschaftlich organisierten Ausbeutung machte, wurde wiederum des âstrukturellen Antisemitismusâ geziehen.
Im Marxschen Sinne war dies ein RĂŒckfall in kritische Kritik. Diese unter Junghegelianern anzutreffende Marotte wies sich selbst als ultrakritisches Subjekt ohne Bezug zu Praxis und realen Bewegungen aus. Bei den âAntideutschenâ konnte diese kritische Kritik den Anschein von RadikalitĂ€t vorgeben bei gleichzeitig konservativer Realpolitik und ungebrochenen oder kurzzeitig verdrĂ€ngten bĂŒrgerlichen Karriereambitionen. Die ScheinradikalitĂ€t einer âfundamentalen Wertkritikâ, die im Gegensatz zu allen anderen linken, sozialistischen oder marxistischen Kritik- und Praxisformen viel tiefer reichen wĂŒrde, weil Basisstrukturen der Gesellschaft in den kritischen Fokus genommen wĂŒrden, koppelte sich mit einer moralisierenden Kritik-, besser: Polemikstrategie, die stets zu dem Antisemitismusvorwurf zu greifen wusste. Als sich das neo-reformistische BĂŒndnis zur Besteuerung der FinanzmĂ€rkte ATTAC bildete, das immerhin zu konkreten Feldern des globalen Kapitalismus arbeitete und eine globale Vernetzung anstrebte, schallte ihm natĂŒrlich der Antisemitismusvorwurf entgegen. Als sich eine spontane Bewegung wie die No Global-Bewegung oder Occupy als Platzbesetzungsbewegung nach der Finanzkrise formierte, sah die antideutsche Szene reflexhaft âAntisemitismusâ am Werk. Wie eine Art Avantgarde des Antisemitismusvorwurfs gegen links erscheinen nachtrĂ€glich diese âantideutschenâ Protagonisten, die lange vor der britischen Anti-Corbyn-Kampagne und der Hetze gegen PalĂ€stinasolidarische den Antisemitismusvorwurf gegen links als Herrschaftsmittel fĂŒr sich entdeckt hatten. Dass ein prominenter âAntideutscherâ es zum âAntisemitismusbeauftragtenâ in Berlin geschafft hat, ist wenig verwunderlich.
Die theoretisch versierten âAntideutschenâ waren und sind reichlich affirmative Erben der Kritischen Theorie, zuweilen Erbschleicher. Sie beerben das Konservative von Adorno und Horkheimer, deren Ablehnung von Revolte und linker Praxis, ihre Furcht vor spontanen Bewegungen und der Masse. Bloch und Marcuse sind wenig erstaunlich keine Bezugspunkte, diese suchten und unterstĂŒtzten Elemente des Utopischen, des Aufbegehrens und der Revolte. Soziologisch betrachtet sind die meisten âAntideutschenâ kleinbĂŒrgerliche Akademiker mit geringem wirklichem VerĂ€nderungswillen bei gleichzeitigem radikalem Habitus, der sich mĂŒhelos abstreifen lĂ€sst oder opportunistisch im Sinne der herrschenden MachtverhĂ€ltnisse gegen âuntenâ gerichtet werden kann.
6. Im Anschlussszenario 1989/90 formierte sich die sogenannte âRadikale Linkeâ, sie argumentierte zwar gegen ein befĂŒrchtetes â4. Reichâ und startete eine âNie wieder Deutschlandâ-Kampagne. Dies kann aber kaum als âantideutschâ beschrieben werden, sondern radikalisierte und mixte alle bisherigen linken Weltanschauungen: Antiimperialismus, Kapitalismuskritik, Patriarchatskritik, wobei die Akteure eben die Ablehnung des Nationalismus und insbesondere des deutschen Nationalismus ins Zentrum ihrer Kritik rĂŒckten. Selbst eine wichtige Figur wie der klassenkĂ€mpferische Autor und Historiker Karl Heinz Roth war anfĂ€nglich Teil dieses BĂŒndnisses. Als er die sozial disruptiven Folgen des Anschlusses der DDR an die BRD empirisch untersuchte und die Linke aufforderte, auf die prekĂ€rer werdende proletarische Existenzsituation zu reflektieren, wurde er von den Vordenkern der sich erst spĂ€ter formierenden antideutschen Szene polemisch attackiert. Aus dem poplinken Hamburger Milieu kam in den frĂŒhen 1990er Jahren die Parole auf âEtwas besseres als die Nationâ, hier ĂŒberrollten besserwisserische Westlinke mit viel (west-)kulturellem Kapital eine eigenstĂ€ndige Ostlinke, deren Erfahrungen kaum aufgenommen wurden. Bei etlichen lokalen ostdeutschen Antifa-Gruppen kam der antinationale und antideutsche Westimport allerdings gut an. Sie befleiĂigten sich dann auch einer notwendigen Praxis in den âBaseballschlĂ€gerjahrenâ und konfrontierten sich zuweilen militant mit den faschistischen Strukturen in den âFĂŒnf neuen BundeslĂ€ndernâ. Mit prozionistischen und antikommunistischen Phrasen konnten sich diese Antifagruppen von Herkunftsfamilien und der DDR-Geschichte allgemein abgrenzen. So wie einige maoistische Gruppen der 1970er Jahre trotz hanebĂŒchener Fehlrezeption des âKommunismusâ in China, Kambodscha oder Albanien zu einer mutigen klassenkĂ€mpferischen Betriebspraxis fanden, so können diese âantideutschen Antifa-Gruppenâ trotz ihres ideologischen Israelbildes einen praktischen Antifaschismus der StraĂe fĂŒr sich reklamieren.
Allerdings ging es âantideutschenâ Milieus stets um die Attacke auf linke TraditionsbestĂ€nde. In einer nicht unbedeutenden Zwischenphase der âantideutschenâ Ideologie in den Nullerjahren wurde das kapitalistische Marktsubjekt, das sich flexibel den Anforderungen der Marktwirtschaft stellen wĂŒrde, als positive und wĂŒnschenswerte Gegenfolie zum etatistischen Kollektivmenschen imaginiert, der auf Versorgen eines autoritĂ€ren Staates tendieren wĂŒrde. Damit erwies sich die âantideutscheâ Ideologie auch noch als Fleisch vom Fleische des âFreiheitâ verkĂŒndenden Neoliberalismus, wollten diesem nur die passenden pseudo-antifaschistischen Ideologien fĂŒr den Ăberbau anbieten.
So zeigten sich die Akteure des âAntideutschtumsâ als willige Vollstrecker und Ideologen der neoliberalen Ordnung und erlangten zuweilen auch Posten und Einfluss im autoritĂ€ren Liberalismus der aktuellen Bundesrepublik. In einer Zeit der imperialistischen AufrĂŒstung Deutschlands (âZeitenwendeâ), in einer Zeit, in der Deutschland an der Seite der USA die Ukraine einseitig militĂ€rtechnisch und erinnerungspolitisch (âHolodomorâ) unterstĂŒtzt und Russland in atemberaubender Geschichtsvergessenheit einen âVernichtungskriegâ unterstellt, in einer Zeit, in der Deutschland mit Verweis auf den Holocaust eine KriegsfĂŒhrung gegen die Zivilbevölkerung unterstĂŒtzt, die in groĂen Teilen der Welt als Genozid betrachtet wird, stehen âAntideutscheâ an der Seite der Herrschaft, der deutschen freilich. Die Leistungen der âAntideutschenâ sprechen fĂŒr sich. |P
Der Autor hat 2019 die Monografie Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs beim MĂŒnsteraner Unrast Verlag veröffentlicht. Eine ausfĂŒhrliche Kritik an Postone findet sich in seinem Aufsatz: âDeutscher Vernichtungsantisemitismus â eine vom âAntikapitalismusâ angetriebene âRevolteâ?â, in G. Hanloser (Hrsg.), Deutschland.Kritik (MĂŒnster: Unrast, 2015), 64â101.
1. Moishe Postone, âAnti-Semitism and National Socialism: Notes on the German Reaction to âHolocaustââ, New German Critique 19, Special Issue 1: Germans and Jews (Winter, 1980): 97-115. Der Artikel wurde von der Initiative Sozialistisches Forum ĂŒbersetzt und publiziert: Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen (Freiburg: ça ira, 2005) [Hinweis des Herausgebers].