Was waren die Antideutschen?
von Jan Kalk, Jan Sander, Justus Wertmüller und Detlef zum Winkel
Am 2. August 2024 veranstaltete die Platypus Affiliated Society eine Podiumsdiskussion mit Detlef zum Winkel (Autor), Justus Wertmüller (Redaktion Bahamas), Jan Sander (Platypus Affiliated Society) und Jan Kalk (Gesellschaft für kritische Bildung) an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema: Was waren die Antideutschen?
Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=sPbT71IExIw vollständig angehört werden kann. Aufgrund der beschränkten Zeichenzahl der deutschsprachigen Platypus Review in Print wird das Transkript dort in zwei Teilen veröffentlicht. Der erste Teil mit den Eingangsstatements und der anschließenden Antwortrunde der Diskutanten erscheint in der Ausgabe 34 (November/Dezember 2024) der deutschsprachigen Platypus Review. Der zweite Teil mit der Fragerunde erscheint in der Ausgabe 35 (Januar/Februar 2025) der deutschsprachigen Platypus Review.
Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum sind kursiv formatiert. Editorische Anmerkungen sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Zwischenrufe aus dem Publikum sind durch Kursivsetzung und eckige Klammern gekennzeichnet.
BESCHREIBUNG
Nachdem in den 80er-Jahren die sogenannten K-Gruppen zerfallen waren und Die Grünen sich als parlamentarische Partei etabliert hatten, wurde die Linke in der BRD und der DDR von der „Deutschen Wiedervereinigung“ 1989/90 überrascht. Vor diesem Hintergrund erschien der Zusammenbruch der Sowjetunion und des „real existierenden Sozialismus“ auf eine spezifische Weise. Die deutsche Linke thematisierte die Gefahr eines möglichen ‚Vierten Reichs‘ und fragte, welche Bedeutung Begriffe der Alten und Neuen Linken in dieser Situation hatten: Kommunismus, Kapitalismus, Antifaschismus und Antiimperialismus. Retrospektiv betrachtet scheint „Solidarität mit Israel“ als das einzige einheitlich kennzeichnende Merkmal dieser Bewegung, die sich lokal auf Deutschland und Österreich beschränkte. Als die Platypus Affiliated Society im Oktober 2010 Joachim Bruhns „Kommunismus und Israel“ in englischer Sprache international publizierte, kam bei Lesern, die nicht aus Deutschland stammten die Frage auf: „Was hat das mit der Linken zu tun?“
Was war das Verhältnis der Antideutschen zum Rest der deutschen Linken? Was waren wichtige politische Wendepunkte innerhalb der letzten 20 Jahre, durch die sich der Begriff „antideutsch“ entwickelt und verändert hat? Was war die politische Situation in Deutschland und der Welt, als die Antideutschen entstanden? Was ist das politische Erbe der antideutschen Bewegung in den 2020ern, in Deutschland und international?
EINGANGSSTATEMENTS
Detlef zum Winkel: Die Antideutschen bildeten in der Bundesrepublik die einzige offen auftretende Opposition gegen die deutsche Einheit 1989/90. Der Grund war nicht etwa Frustration darüber, dass sich der Kapitalismus ein weiteres mehr oder weniger sozialistisches Land einverleiben würde. Nein, der Grund waren die nationalistischen Exzesse, die diesen Prozess von Anfang an begleiteten und sich von Woche zu Woche steigerten, weil niemand ihnen Einhalt gebot – keine Regierung, kein Parlament, kein Präsident, keine Justiz und keine Medien.
Die Ereignisse, die uns die Augen öffneten, lassen sich am Beispiel der Leipziger Montagsdemonstrationen am anschaulichsten beschreiben. Das waren anfangs demokratische Manifestationen. Sie forderten Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, den Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Willkür. Es war nicht nur sympathisch, es war irgendwie auch überfällig für die DDR. Etwas Neues, Hoffnungsvolles. Ein großer Fortschritt.
Die Ernüchterung folgte prompt, quasi über Nacht. Von einem Montag auf den nächsten änderte die Demonstration ihre Botschaft: Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Dazu ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer, das es in den Wochen zuvor nicht gegeben hatte. Das Phänomen einer solchen überraschenden Kehrtwende ist nicht völlig einzigartig auf der Welt. In Kiew, auf dem Maidan, übernahm plötzlich der Rechte Sektor die Kontrolle. In Kairo, während des Arabischen Frühlings, kaperten die Muslimbrüder den besetzten Tahrir-Platz. Immer ohne Ankündigung, immer mit einem plötzlichen Coup.
Das Besondere in Leipzig lag darin, dass dieser Coup nicht diskutiert, ja nicht einmal als solcher wahrgenommen wurde. Niemand fragte: Wer war das? Wo kamen die ganzen Fahnen her? Sind wir unterwandert worden? Solche Fragen ließen die Initiatoren und Aktivisten von Leipzig gar nicht erst an sich heran. Darin liegt das Problem. „Wir sind ein Volk“ erschien daher als logische Fortsetzung des Vorherigen, als etwas, das alle eigentlich von Anfang an gemeint hatten: Das Volk. Ein Volk. Hauptsache Volk. Wer wird da kleinlich sein?
Aber für uns war es eine völkische Wende, die eine Dynamik freisetzte, welche bis heute anhält. Wenn man für alle Probleme, die in der DDR erdrückend, aber auch in der Bundesrepublik vorhanden waren, eine nationale Lösung anbietet, dann merkt man schnell, dass sie sich auf diese Weise nicht bewältigen lassen. Auch der Nationalist merkt das, aber er ist nicht imstande, seinen Irrtum einzugestehen. Im Gegenteil: Jetzt müssen Schuldige gesucht werden. Ein Feind muss her. Und sie finden sich dann bei denjenigen, die nicht zum Volk gehören: Migrantinnen und Migranten, die Multikultur, ominöse Drahtzieher von der Wall Street, die eine Umvolkung organisieren. Das lässt sich heute bei Höcke, Kubitschek, Elsässer, Sellner nachlesen oder eben gleich bei Adolf Hitler.
Einmal mehr bestätigte sich die Anfälligkeit des Volksbegriffs für rechtes Denken und leider auch die Anfälligkeit des Volkes selbst. An diesem Punkt teilten sich die Wege der Linken. Die einen versuchten, weiter auf der Welle der friedlichen Revolution mitzureiten, obwohl diese ihre Richtung geändert hatte. Die radikalen Linken hingegen verweigerten sich der Einheitseuphorie. Sie warnten vor einem Vierten Reich. „Das Scheitern des Sozialismus und der Zerfall der Sowjetunion förderten einen imperialistischen Größenwahn“, hieß es in einer auf dem ersten Kongress der radikalen Linken verabschiedeten Resolution. Die Bonner Regierenden würden sich bereits als die Herren von morgen aufführen. Im Rückblick finde ich das ziemlich treffend.
Für die Rechten in Ost und West konnten Gegner der Wiedervereinigung nur Gegner Deutschlands sein, also wurden wir von ihnen als antideutsch gebrandmarkt. Wohlgemerkt: von rechts. Ich weiß nicht, wer die Vokabel zuerst in den Ring geworfen hat. Wir selber waren es jedenfalls nicht. Aber wir nahmen den Titel an. Schön, dann sind wir eben antideutsch. Jeder wird schon verstehen, was gemeint ist. Später gab es ein paar Versuche, dem Begriff theoretische Weihen zu verleihen. Sowas kann eigentlich nur in die Irre führen, wenn man seine Entstehungsgeschichte bedenkt.
Der nächste Meilenstein, der die Antideutschen prägen sollte – siehe Frage zwei – war der Golfkrieg 1990/91. Der Irak hatte das kleine, aber reiche Nachbarland Kuwait überfallen und okkupiert. Dagegen initiierten die USA und Saudi-Arabien eine westliche Militärkoalition. Der damalige Präsident des Iraks, Saddam Hussein, wollte in klassisch antisemitischer Manier Israel dafür bestrafen, wenn der Irak angegriffen werde. Einige palästinensische Organisationen brachten ihre Genugtuung darüber zum Ausdruck. Inzwischen sind sie zum Iran übergelaufen. Israel war an jenem Konflikt freilich gar nicht beteiligt. Konkret-Herausgeber Hermann Gremliza kommentierte: „In diesem Fall hätten die Falschen, nämlich die USA, mit unlauteren Absichten ausnahmsweise das Richtige getan.“ Andere Linke widersprachen heftig und deuteten den Krieg nach antiimperialistischen Erklärungsmustern. Hier gehe es doch nur um die weltweite Kontrolle des Ölhandels.
An dieser Auseinandersetzung zerfiel die radikale Linke, kaum dass sie sich gefunden hatte. Aber die verbleibenden Antideutschen lernten, den Staat Israel anders zu behandeln, als es zuvor üblich war, und sich für sein Existenzrecht aktiv zu engagieren, anstatt es bei gelegentlichen alibihaften Lippenbekenntnissen zu belassen. Diese Einstellung haben wir bis heute beibehalten und das ist umso wichtiger in einer Zeit, in der antisemitische Ressentiments in der nationalen und internationalen Linken immer stärker werden. Weil die Antideutschen mit dieser israelfreundlichen Haltung – andere sagen, mit dieser prozionistischen Einstellung – ein Alleinstellungsmerkmal in der Linken besitzen, mag es so scheinen, als ob von ihrem ursprünglichen Ansatz nur noch die Israelsolidarität übrig geblieben sei.
Um diese These abzuwägen, möchte ich auf einen grandiosen Artikel verweisen, der im November 1992 in der New York Times und im Januar 1993 in Konkret auf Deutsch erschienen ist. Damit sollte sich dann auch die Frage vier beantworten. Angesichts rassistischer Aufmärsche und Gewalttaten registrierte der Autor Abraham Rosenthal ein „Erstarken des Nazismus in Deutschland“, wobei er dafür plädierte, endlich mit dem Gerede von Neonazis oder Rechtsradikalen aufzuhören:
Sie und wir wissen ganz genau, wer sie sind. Und die Deutschen, die ihnen Beifall klatschen, wissen es auch. Die Angriffe auf Ausländer, besonders solche mit dunkler Hautfarbe, sind keine plötzlichen Gewaltausbrüche. Sie gehören ebenso zur Strategie der Nazis wie damals die ersten Angriffe auf die Juden.1
Weiter schrieb Rosenthal, dies führe zu spiegelbildlich narzisstischen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa: „So war es in den 30er- und 40er-Jahren, und so lässt es sich auch heute in Ungarn, Rumänien, Russland und den Balkanländern beobachten.“2
Seit 2022 gehört eindeutig Russland auf Platz eins dieser Liste, und eine erschreckende Menge weiterer Länder müsste hinzugefügt werden: Polen, die Slowakei, Tschechien, Österreich, Italien, die Niederlande, Schweden und Frankreich. Bei der Ukraine zögere ich allerdings, eher aus Rücksichtnahme denn aus Überzeugung.
Schonungslos konstatierte Rosenthal: „Deutschlands Krise ist auch unsere Krise. Das haben wir von Hitler gelernt. Aber der Westen verharrt tatenlos. Die Initiative wird ausschließlich der deutschen Regierung überlassen, und diese hat in der Abwehr der Bedrohung völlig versagt.“3 Ich darf wiederholen: völlig versagt! Das konnten scharfsinnige Beobachter vor mehr als 30 Jahren feststellen. Heute haben wir den Schlamassel.
Nun zur Pointe dieses Textes aus heutiger Sicht: Die Beschreibung der gesellschaftlichen Phänomene, die Rosenthal für Deutschland so luzide vorgenommen hat, trifft im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auch auf sein eigenes Land zu. Das konnte er sich nicht vorstellen und niemand von uns konnte sich das vor 30 Jahren vorstellen. Am 5. November wird in den USA eine Wahl von historischer Tragweite stattfinden. Das Ergebnis wird entweder eine Unmenge Benzin in die nationalistischen Brände der ganzen Welt schütten oder uns vielleicht eine Atempause verschaffen. Mir graut vor Leuten, die von der NSDAP lernen wollen, wie man Amerika wieder groß macht.
Die Krise der USA ist auch unsere Krise. Muss ich noch mehr über das Erbe oder die Aktualität der Antideutschen sagen? Antideutsch ist für mich konsequenter Antifaschismus, der sich auch von Appellen an die Volksgemeinschaft oder an die Nation nicht weichklopfen lässt. Auch das Umgekehrte gilt: Wie jede Antifa-Initiative erfährt, wenn sie einmal einen wunden Punkt in ihrer Gemeinde aufgedeckt hat – zack, schon sind sie antideutsch.
Jan Kalk: Die Frage: „Was waren die Antideutschen?“, die vielleicht besser heißen könnte: „Wer waren die Antideutschen?“ – denn anders als ein „Gemenge von Einzelpersonen“ (Dahlmann) sind die Antideutschen nie gewesen –, wiederholt erneut das Postulat vom Tod der Bewegung.4 Dass dieser dieses Mal endgültig sein könnte, legte Jan Gerber in seinem Nachruf „Die Antideutschen“ in der jüngsten Bahamas nahe: „Spätestens nach dem palästinensischen Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde […] klar […]: Die Bewegung, die nie eine Bewegung sein wollte, existiert nicht mehr.“5 Ein „Epitaph auf die antideutsche Bewegung“ wurde aber bereits 2010 von Lars Quadfasel auf einer „Konferenz zum Stand der Kritik“ mit dem Titel „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie scheiße ist Deutschland?“ gehalten, also kurz nachdem ich überhaupt mit der Szene in Berührung gekommen bin. Im Ankündigungstext stellte man 20 Jahre nach dem Fall der Mauer fest, dass „antideutsch“ – auch durch Egotronic – schick geworden ist und nun Israelbuttons statt Palitücher das Bild der autonomen Szene bestimmen, die „kommunistische Kritik an Deutschland“ und damit auch die Frage, „Was deutsch ist“, hierbei aber in den Hintergrund getreten sind.6 Auch wenn der antideutschen Kritik als Fortsetzung der Kritischen Theorie nichts lieber sein kann als ihr Überflüssigwerden, war man dennoch besorgt, dass die Kritik hier ihren Gegenstand verloren habe.
Thesen vom „deutsch-nationalen Taumel“, oder die Angst vor dem Entstehen eines „neue[n] deutsche[n] imperialistische[n] Koloß[es]“,7 wie sie 1990 von der radikalen Linken verlautet wurden, hatten sich blamiert, auch wenn derzeit Max Czolleck das „Demo-Memo“ der iz3w mit dem bekannten Spruch „Nie wieder Deutschland!“ bewirbt, um zu verdeutlichen, dass die AfD mit der Wiedervereinigung „wieder möglich geworden ist“.8 In Auseinandersetzung mit der antinationalen Linken kam die Frage nach dem Sonderweg Deutschlands wieder auf und entsprechend fragte man: „Haben wir es hier mit Aspekten nationalsozialistischer Kontinuitäten im Postnazismus oder mit der allgemeinen Logik von Staat, Nation und Kapital, mithin keiner ‚deutschen Besonderheit‘, zu tun?“9
Sonja Witte, Clemens Nachtmann und Joachim Bruhn richteten sich in ihren Beiträgen wesentlich gegen diese Vorstellung eines Sonderwegs, der es erlaubte, zwischen den „allgemeinen Erkenntnissen der Kritik der Politischen Ökonomie“, die man sich beispielsweise in einem Kapitallesekreis angeeignet hatte, und dem sich dann noch dazu addierenden deutschen Wesen zu unterscheiden. Der wesentlich von Clemens Nachtmann geprägte Begriff des Postnazismus sollte die bundesdeutsche Gesellschaft mit „ihrer barbarischen Geschäftsgrundlage konfrontier[en]“, ohne ihren geschickten Wandel zu übersehen und hierbei dafür sorgen, dass man der auf Faschisierungsdebatten folgenden Normalisierungsdiskussion oder dem Sektierertum entging.10
Die Originalität des antideutschen Materialismus, wie er vor allem von Joachim Bruhn, Clemens Nachtmann und Uli Krug formuliert wurde, besteht gerade in der Zuspitzung wie auch dem nahezu orthodoxen Verhältnis zur marxschen Kritik und der an dieser anknüpfenden kritischen Theorie. Er nimmt hierbei die Frage ernst, „wie die […] in der Hoffnung auf die realen Möglichkeiten eines befreienden Geschichtsverlaufs hin durchgeführte marxsche Kritik angesichts des im 20. Jahrhunderts erfolgten geschichtlichen Umschlags in die Barbarei überhaupt noch möglich sei.“11
Im Wissen, dass man „nicht die Wahl hat, ob man Geschichtsphilosophie betreibt oder nicht, sondern nur die Wahl zwischen einer schlechten oder reflektierten Variante derselben“, wurden die marxschen Begriffe, seine Geschichts- und Revolutionstheorie mit der Gegenwart der postnazistischen Verhältnisse und der ihr vorausgegangenen Geschichte konfrontiert.12 Hierbei konnte man sich neben den Schriften von Adorno und Horkheimer auch auf Wolfgang Pohrt beziehen, dem dieser Materialismus alles zu verdanken hat. Mit Pohrt sei an die marxsche Formulierung erinnert, nach der der Schlüssel zur Anatomie des Affen die Anatomie des Menschen sei, dass folglich „der Ursprung und der Verlauf der Geschichte […] immer durch ihr gegenwärtiges Resultat vermittelt“ sind.13
Während Marx folglich noch unter Annahme eines von ihm herbeisynthetisierten Proletariats seine Kritik der politischen Ökonomie als Einheit von Gesellschaftskritik und Revolutionstheorie formulieren konnte, ist diese nun zerfallen. Rückblickend zeigt sich die von Marx angedeutete „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise“,14 zu der Aktienkapital und Trusts führten, nicht als Vorbote der Befreiung, sondern der nationalsozialistischen Krisenlösung, von der Marx noch keinen Begriff haben konnte. Der Nationalsozialismus, der eine Krisenlösung versprach, ohne die gesellschaftliche Grundstruktur anzugreifen, etablierte die Volksgemeinschaft als – wie es Marcuse in seinem Liberalismus-Text formulierte – „klassenlose Gesellschaft auf Basis und im Rahmen der bestehenden Klassengesellschaft.“15 Oder wie es Joachim Bruhn formulierte, ist es die Massenvernichtung der europäischen Juden als „das kollektive und klassenübergreifende Geschichtsverbrechen, das den ‚Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit definitiv zum systemimmanenten Motor der Akkumulation transformiert.“16 Mit der Abdichtung des Kapitals gegen seine revolutionäre Aufhebung durch regressive Krisenlösung, die im antisemitischen Morden kulminierte, verschwindet auch die Vernunft aus der Geschichte. Auch wenn der antideutsche Materialismus durch die Hoffnung auf Befreiung geleitet ist, muss er eingestehen, dass dieser nichts in den Verhältnissen entgegenkommt. Die in der Ecke stehende rote Fahne auf dem Cover des Konzept Materialismus der Initiative Sozialistisches Forumdrückt eben dies aus.17 Entsprechend sind es oft Zufälle, die noch radikale Kritik, trotz der sich gegen sie verhärteten Verhältnisse, ermöglichen, oder wie es Clemens Nachtmann formulierte: Es ist
derjenige, der an der trügerischen Welt des schönen Scheins nur allzusehr hängt, aber in dem Maße, wie er sich ins Unmittelbare versenkt, zwangsläufig die falsche Gesellschaft auftrifft und sich aus einer idiosynkratischen Kränkung, aus einer letztlich unbegründbaren Entscheidung herausgefordert sieht, es mit der Gesellschaft aufzunehmen.18
Kritik wird hierbei zum Abwehrkampf, zum Eintritt für die prekären Formen bürgerlicher Vermittlung, die vom immer noch andauernden antibürgerlichen Kampf gegen den Liberalismus weiterhin angegriffen werden, und zum Eintreten für Israel.
Damit richtet sie sich wesentlich gegen die gegenwärtigen Formen der „subjektiven Entsubjektivierung“19 und der „selbstdestruktiven Tendenzen der nachbürgerlichen Gesellschaft“, die mit dem Begriff des Postnazismus gefasst wurden. Dieser hat sich jedoch, worauf auch Clemens Nachtmann hinwies, universalisiert. Der gegenwärtige Post-Heideggerianismus der Postmoderne, „die postkoloniale Gegenrevolution gegen Israel“ und die Selbstaufgabe des Westens verdeutlichen, dass der Gegenstand der Kritik sich nahezu totalisiert hat.20
Justus Wertmüller: Am Samstag, dem 27. Juli 2024, haben sich zunächst in Neukölln und schließlich in Kreuzberg gut 8.000 Menschen an einer Demonstration beteiligt, die jedenfalls für Deutschland ein Novum war. In der Nachfolge des Alternativen CSD-Tages nannte sich das Beginnen Internationalist Queer Pride Berlin und stellte sich im Zeichen der Melone hinter den „antikolonialen, antirassistischen, antikapitalistischen Freiheitskampf“ und bekräftigte: „Niemand von uns ist frei, bis alle von uns frei sind“. Damit auch jeder weiß, worum es geht, präsentierten sie auf dem offiziellen Einladungsplakat unter den grün gezeichneten Melonenkernen – nein, die waren, glaube ich, braun – einen Melonenkern in grün und in den Umrissen Israels; das ist ein Straftatbestand.21 Bei den Teilnehmern war das Palästinensertuch omnipräsent, mindestens jeder Vierte hatte eins dabei, die anderen hielten es mit Melonensymbolik.
Am frühen Abend des gleichen 27. Juli 2024, als sich diese Personen in Kreuzberg und Neukölln ans „Chillen“ machten, schlugen Raketen der Hisbollah auf dem Fußballplatz der von Drusen bewohnten israelischen Kleinstadt Madschdal Schams im Golan ein. Es starben 12 Kinder und Jugendliche. Zusammengefasst: Am 27. Juli 2024 fand nicht nur die größte offen antisemitische Demonstration in Deutschland nach 1945 statt. An diesem 27. Juli hat sich die deutsche Linke, nicht nur in Neukölln und Kreuzberg, sondern in toto, mit der Hisbollah solidarisiert und den intendierten Holocaust an israelischen Bürgern teils billigend, teils mit Befriedigung aufgenommen. Wohlgemerkt: Jubelpalästinenser arabischer oder türkischer Herkunft waren auf der Demonstration nicht anzutreffen – war ja ein bisschen schwul und lesbisch, was? –, Linke aus westlichen Ländern waren ganz unter sich – über 8.000 – in Berlin.
Für die Inhalte und Parolen solcher Umzüge zeichnet längst der kalifornische Campus verantwortlich, der im Wesentlichen antiimperialistisch und schon deshalb zwingend antisemitisch inspiriert ist. Auch wenn die zahlreichen Expats am Samstag letzter Woche womöglich die Mehrheit der zur Demonstration Mobilisierten stellten – man hat sehr viel Englisch gehört –: Den am vergangenen Samstag zur Schau getragenen eliminatorischen Antisemitismus hätte jeder, aber vor allem jene, die sich links nennen, so laut es geht, zu denunzieren gehabt. Dieses und viele kleinere Ereignisse der letzten zehn Monate werden aber beschwiegen oder im Zeichen des „Rassismus“ genannten Hauptübels, das man zu bekämpfen habe, kleingeredet. Die der Queer-Szene Verbundenen haben von Beginn an den Blutrausch der Täter vom 7. Oktober 2023 in aller Geilheit sich zu eigen gemacht, machten Massenmord zum Sportevent mit Paragliding und Motocross und vor allem: Sie schmelzen einfach dahin angesichts des verzückten Schimmerns in den Augen der meistens sehr jungen Täter dort und stellvertretend hier in den einschlägigen Kiezen der von Rassismus schwer betroffenen Brüder – Erotik und Massenmord. Queer Pride ist der Ausdruck dessen, wozu die Linke sehr folgerichtig verkommen ist: Sie will den zweiten Holocaust und empfindet den 7. Oktober sehr körperlich – gar sinnlich – nach. Guckt sie euch an.
Wo linke Politik praktisch wurde, entstanden Killing Fields: in der Sowjetunion, in China, in Kambodscha, in Nordkorea. Und dort, wo angeblich das Volk sich im antikolonialen Kampf befreit hatte, waren die Massaker der Befreiung an der Tagesordnung: in Algerien, Pakistan, Nigeria, Kongo, Vietnam und so weiter. Antikolonialismus lehrte die Linke verstehen, dass nunmehr statt in Klassen- in Rassenkategorien zu denken sei, wie es in Sartres blutrünstigem Vorwort zu Frantz Fanons blutrünstigem Buch Die Verdammten dieser Erde von 1961 exemplarisch propagiert wird. So etwas wird heute noch zustimmend gelesen und nicht ähnlich wie Mein Kampf. Der maßlose Anspruch, den Weltgeist zu repräsentieren und deshalb berufen zu sein, das Ziel der Geschichte zu vollstrecken, hat die revolutionäre, radikale Linke nie losgelassen.
Die Blutspur dieses Beginnens setzte mit der Leugnung ein, dass Lenin und seine Leute schon deshalb eine Verbrecherbande waren, weil sie von Anfang an, 1917, auf den Bürgerkrieg setzten, der den tödlichen Hass von tausend Jahren Knechtschaft freisetzte und schließlich die disziplinierteste und skrupelloseste Truppe im zugrunde gerichteten Land als Sieger zurücklassen würde. Seit dem Roten Oktober ging es um die Eroberung der Macht im Staat, die Zentralisierung der Macht nach dem Sieg und die Etablierung einer Erziehungsdiktatur, die kein Entrinnen für die ihr Unterworfenen mehr lassen sollte. Staatskritik, also die Mahnung, dass der Staat des Kapitals das Verhängnis kapitalistischer Vergesellschaftung besiegeln könnte, war es nicht, was radikale Linke bewegte oder bewegt. Es war immer nackte, primitive Staatsfeindlichkeit, die sich, als die Hoffnungen auf einen proletarisch genannten Putsch sich endgültig zerschlagen hatten, aufs Zündeln verlegte und ideologisch darüber wachte, dass da keiner ausschert und weiterhin wacht. Die Drecksarbeit machen die Dreckskerle zum Beispiel in den französischen Banlieues. Die zumeist akademisch gebildete Linke sichert ihnen ideologisch ein ruhiges Hinterland und nennt sie, diese antisemitischen Mörder, am Ende gar Opfer.
Außer den Postkolonialen, für die die Queer Pride steht, gibt es gar keine Linke mehr. Die radikale Linke früherer Jahre ist an der Macht – ein paar Wandlungen in der Biographie waren locker zu machen –, und zwar nicht nur in der aktuellen Bundesregierung, sondern überall dort, wo es gilt, zu verharmlosen, zu beschwichtigen und zu verängstigen. Man will das eigene Scheitern bei der Einrichtung einer wenigstens keynesianischen Welt verschwinden lassen in peinlichen Erziehungsdoktrinen, gepaart mit Panikmache wegen des Klimas, der Bedrohung von rechts und eines dringend zu brechenden rassistischen Konsenses, der so lange behauptet wird, bis endlich mal ein paar Leute einsehen, dass es ihn eventuell gar nicht gibt.
Die Umerziehungslager in der staatskommunistischen Praxis sind aus den Köpfen nie ganz verschwunden, nur dass es heute nicht mehr den Anhängern der besiegten Regime an den Kragen gehen soll, sondern ganz konsequent dem Teil der Bevölkerung, der sich immer noch jenseits des Staatssektors durchzubringen versucht und nicht so richtig mittun will. Diese Leute, die zu einem bedeutenden Teil der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht zuneigen, stehen unter Generalverdacht. Sie, die häufig pöbelhaft gegen die besonders an sie gerichtete Bevormundung auftreten, erfahren die Krise anders als das linke Staatspersonal – alle Linken hängen am Staat, nicht nur in den Parlamenten und bei den Grünen –, von dem sie so verachtet werden. Während die einen, also die Linken, sich für den ungebrochenen, schuldenfinanzierten Ausbau ihres Arbeitgebers, des Staates, stark machen und doch ahnen, dass ihnen die schmale Bezahlung, die sie mit ihren Coaching-Projekten zur Stärkung der Demokratie noch einheimsen, schon bald wegbrechen könnte, imaginieren die anderen sich als radikale Systemgegner. Recht haben die Scheinrebellen von angeblich rechts nur dort, wo sie sich hineingezogen sehen in einen Strudel des Untergangs, unrecht dort, wo sie so tun, als ob sie einen anderen Staat herbeisehnten. Anders als ihre Feinde von links gerieren sie sich dort als Freunde des Untergangs, wo sie dem Staat abverlangen, er möge die Ukraine Russland opfern. Aber ganz genau wie ihre Feinde liefern sie, bei aller bei ihnen teilweise noch vorhandener Sympathie für Israel – die gibt es da nämlich teilweise noch, bei Linken sicher nicht –, den jüdischen Staat seinen Henkern aus, wenn sie darauf bestehen – und das tun sie alle –, dass Deutschland sich nicht in den jüngsten Nahost-Konflikt hineinziehen lassen dürfe. Nur: Diese Aufgeregten sind die Einzigen, die auch aus gemachter Erfahrung benennen, was sonst unter Tabu steht: dass die Gesellschaft vor dem Bandenkrieg um Ehre und Beute der selbstredend rassistisch Verfolgten mindestens teilweise schon kapituliert hat.
Von der Idee einer selbstbewussten Nation halten die beiden so verfeindeten Teile dieser Gesellschaft nichts. Die beiden großen europäischen Nationen stehen vor dem ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenbruch. JD Vance, Lieblingsfeind der Deutschen, seit er Running Mate ist, sagte jüngst:
Und ich habe darüber gesprochen, welches das erste wirklich islamistische Land ist, das eine Atomwaffe bekommen wird. Und wir dachten, vielleicht ist es der Iran, vielleicht zählt Pakistan schon irgendwie dazu. Und dann haben wir schließlich entschieden, dass es vielleicht tatsächlich Großbritannien ist, da Labour gerade die Regierung übernommen hat.22
Und er hat recht, mit dem Unterschied, dass es unredlich wäre, die Schuld für die ungebremste Islamisierung in Großbritannien allein Labour zuzuschreiben – das sind schon alle.
Praktisch sollte es um die Nation gehen, und zwar um jene Vorstellung von der Nation, die einmal mit den Namen Großbritannien und Frankreich verbunden war und heute, wie bizarr auch immer, nur noch in den USA nicht gänzlich verschwunden ist. Zu fordern wäre eine Gesellschaft, die in genau definierten Grenzen – Grenzen! – versucht, ihre Geschicke selbstbewusst zu meistern, die sich zu ihrem Schutz den staatlichen Rahmen gibt, der militärisch für die Sicherheit nach außen sorgt und – und! – ein Grenzregime unterhält, um selber bestimmen zu können, wer hineinkommt und wer nicht. Dazu gehört, wo nötig, durchaus auch eine Politik der Strafzölle gegen die Okkupanten des Weltmarkts.
Die Nation ist im Zeichen der Krise genauso fragwürdig wie Zollgrenzen, sie könnte aber in Zeiten, in denen die feindliche Übernahme durch islamische Minderheiten bzw. die Unterwerfung unter das Diktat totalitärer Mächte droht – Russland, China – das Schlimmste verhindern. Das verweist auf die Gegennation Israel, die ein Staatsvolk repräsentiert, das sich nach völkischen und religiösen Kriterien nicht definieren lässt und dennoch jüdisch ist; die aus dem Unheil der revolutionären Phase nach 1917 entstehen musste, wollte man als Jude überleben; eine Nation schließlich, die eine Antwort auf das Scheitern der Revolution genauso wie des Nationalstaats in seiner Krise ist; mithin ist die Nation Israel auch der Leuchtturm für etwas, das einmal auch anderswo sich etablieren könnte: eine befreite Nation.
Zur Hauptfrage: Was antideutsch ist, bestimmen die anderen. Auf die Bahamas bezogen wird man festhalten können, dass diese Zeitschrift als ein Unternehmen wahrgenommen wird, das nicht etwa differenzierte Kritik an „allen Formen des Antisemitismus und ähnlicher gruppenbezogener Feindseligkeit“ leiste, sondern in nötigendem Ton zur bedingungslosen Solidarität – ja, zur bedingungslosen Solidarität – mit Israel aufrufe und weder ein deutsches noch europäisches noch postkolonial begründetes Recht auf Israelkritik anerkenne. Das trifft auch zu. Insofern war ich natürlich immer ein Antideutscher. Für Israel, statt nur allein als Zeitschrift, zusammen mit möglichst vielen anderen zu kämpfen – da wäre ich gerne dabei. Aber nur unter der Bedingung, dass die Fellow Travelers des queeren Mordkommandos, die ihrerseits auf ihren Demo-Lappen „Gegen jeden Antisemitismus und Rassismus!“ schreiben, draußen bleiben.
Jan Sander: Ein Ausgangspunkt für die antideutsche Kritik – ähnlich wie bei der Gründung der Platypus Affiliated Society 2006 – war die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Imperialismus. Während die linke Opposition gegen den US-Imperialismus in den 60er- und 70er-Jahren zumindest noch als Parteinahme für vermeintlich fortschrittlich-revolutionäre Kräfte in der Dritten Welt gemeint gewesen sein könnte oder es auch war, verband die Linke später, ab den 90er-Jahren, ihre Kritik mit einer mehr oder weniger unverhohlenen Unterstützung reaktionärer Kräfte.
Was die Antideutschen jedoch trotzdem weiterhin mit der gesellschaftlichen Linken verband, waren nicht die allgemein bekannten – und jetzt wiederholten – positiven programmatischen Forderungen jener Strömung – also Unterstützung für Israel, Kampf gegen Antisemitismus, gegen Islamismus, you name it – sondern negativ: die Kritik an dieser Linken.
Durch Kritik knüpften die Antideutschen tatsächlich an das wesentliche, oft vergessene Merkmal des Marxismus an: Karl Marx‘ Diktum von der „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden“ galt entgegen der gängigen gegenwärtigen Interpretationen keinem äußeren Gegenstand, nicht einem subjektlosen Systemkapitalismus, sondern maßgeblich der Linken und Arbeiterbewegung als Subjekt und Objekt des gesellschaftlichen Prozesses.
Die Antideutschen gehörten zu den wenigen Teilnehmern der „post-politischen“ Linken der 80er- und 90er-Jahre, ebenso wie der Millennial Linken, die die Regression der Linken zumindest teilweise bemerkten. Aus diesem Grund interessierte sich das durchschnittliche Platypus-Mitglied wohl mehr für sie, als, sagen wir, für die Interventionistische Linke.
In der aktuellen Ausgabe der Bahamas erinnert Jan-Georg Gerber daran, dass es den Antideutschen ursprünglich darum gegangen sei, Fehler und Irrtümer der Linken aufzuarbeiten. Das Ziel sei die Neuformierung einer „nichtreformistischen, radikalen, antikapitalistischen, kommunistischen Linken“ gewesen. Auch wenn wir uns bei Platypus aus Gründen, die hier zu weit führen würden, anders ausdrücken würden, sind die Ähnlichkeiten zwischen den Antideutschen und Platypus unübersehbar. Was also unterscheidet uns?
In dem Text von Gerber charakterisiert dieser die Antideutschen als Modernisierungsbewegung wider Willen.23 Doch das Gleiche könnte – vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachtet – über die gesamte Linke in der Geschichte gesagt werden. Kapitalismus reproduziert sich ideologisch durch Unzufriedenheit mit ihm und Protest gegen ihn. Schon die Losungen der Neuen Linken der Sechziger Jahre von damals wurden zur neoliberalen Ideologie später. Zuvor führte die alte Linke der 20er- und 30er-Jahre durch ihr politisches Versagen und ihre ideologische Anbiederung an Arbeits- und Nationalethos in die Deutsche Arbeitsfront und den Holocaust. Die konkrete Gestalt dieser Geschichte mag in diesem spezifischen Fall deutsch sein, das hintergründige Problem der Wiederholung hingegen ist spezifisch modern.
In seinem kurzen Essay mit dem Titel „A Short History of Nonbeing“ beschäftigt sich der amerikanische Hegelianer Robert B. Pippin mit diesem merkwürdigen Phänomen. Auch wenn der Text sich mit Philosophie und Kunst befasst, kann er helfen, die Sackgasse der Gegenwart ebenso wie die Thematik der Antideutschen zu erhellen. Außerdem ist er wesentlich prägnanter als die Negative Dialektik, auf der er wesentlich fußt.
Aus Sicht von Pippin stecken Philosophie und Kunst in einer Sackgasse: Phänomene, wie die immer wiederkehrende Diagnose des Todes der Kunst, Romane, in denen es wie schon bei französischen Novellen des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen um bürgerlichen Selbsthass geht, und die Postmoderne in der Philosophie, die sich selbst zwar als großen Bruch feiert, dabei jedoch halbwegs unbewusst die Krise der Philosophie zur Zeit des Auseinanderbrechens der Hegelschule in den 1840er-Jahren auf verzerrte und bombastische Art wiederholt, verweisen auf eine bestimmte Pathologie der Gegenwart. Die Fragen und Probleme der letzten 150 Jahre bleiben wesentlich die gleichen, während sich unsere Fähigkeiten verschlechtern, diese zu beantworten oder gar adäquat zu erkennen. Einen Ausweg aus den alten Kalamitäten bieten die neuen geistigen Produkte nicht, stattdessen vernebeln sie allerdings immer weiter den Zugang zum Bewusstsein der Kernproblematik. Pippin schreibt dazu:
Es gibt einen historischen Preis für die Vernachlässigung, die Nicht-Beachtung oder die fehlende Lösung dieses kritischen Kernproblems: die Wiederholung. Im Wesentlichen besteht der Preis in der ziemlich rätselhaften Wiederholung – inzwischen über mehrere Generationen hinweg – einer Reihe von ursprünglichen Momenten des Zurückschreckens, der Abscheu und der Entfremdung unter den Gründungsformationen der Moderne.24
Pippin zufolge verkennt die gegenwärtige Kritische Theorie, die dem Namen nach das Erbe der Frankfurter Schule antritt, wie weit die geschichtlichen Konflikte, die erstmals in den 1840er-Jahren bemerkt wurden, in die Gegenwart reichen. Kritische Theorie heute sei deshalb „unzureichend kritisch“.
Obwohl Pippin sich dessen nicht vollauf bewusst zu sein scheint, ist eben diese Problematik der Gegenstand dessen, was Theodor W. Adorno Regression nennt. In ihrem Zentrum steht bei Adorno die politische Linke. Die Erschöpfung und unterschwellige Verzweiflung der heutigen „Linken“ lässt sich ihm zufolge darauf zurückführen, dass sie sich in einem Gewirr scheinbar unlösbarer Probleme verloren hat, die sich seit der Zeit von Marx angehäuft haben. Keines der Probleme, die in der Geschichte der vorangegangenen Generationen der Linken seit der Ersten und Zweiten Internationale aufgehäuft wurden, konnte erfolgreich bewältigt werden. Alle belasten uns weiterhin.
Diese Geschichte als „überholt“ abzutun, würde zur Folge haben, dass die Probleme später in potenzierter Form wiederkehren – auf der sogenannten Linken ebenso wie gesamtgesellschaftlich. Die regressive Wiederholung des Todes der Linken ist nicht auf die letzten 30 Jahre beschränkt. Weder die Kids noch die Linke waren vor dem Bestehen der Antideutschen, den 90er-Jahren oder den Jahrzehnten davor alright.
In den sogenannten „Küchengesprächen“ formuliert Max Horkheimer gegenüber Adorno folgenden Gedanken:
Ich glaube, dass die europäisch-amerikanische Zivilisation das Höchste ist, was die Geschichte bis jetzt hervorgebracht hat an Wohlergehen und Gerechtigkeit. Es kommt darauf an, dass das in einem höheren Zustand bewahrt wird. Das ist aber nur möglich, wenn man gegen diese Zivilisation selbst unnachsichtig ist.
Daraufhin erwidert Adorno zustimmend:
Man darf nicht zur Verteidigung der westlichen Welt aufrufen.
Horkheimer ergänzt:
Man darf nicht dazu aufrufen, weil man sie damit kaputt machen würde.25
Obwohl Horkheimer und Adorno die Notwendigkeit erkannten, zu einer neuen „sozialistischen Partei“ aufzurufen – wie sie in den „Küchengesprächen“ diskutieren – und das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx „[s]treng leninistisch“ neu zu formulieren, erkannten sie auch, dass die notwendigen Vorbedingungen für eine solche Praxis nicht erfüllt waren. Schon zu ihrer Zeit gab es keine Linke, die in der Lage wäre, den Appell zu verstehen. Jeder Versuch, diese Antinomie des Politischen nach dem Scheitern der Linken zu ignorieren, würde einer weiteren regressiven Wiederholung Vorschub leisten. Adorno und Horkheimer sahen es daher als ihre Aufgabe, die kritische Spannung aufrechtzuerhalten. Ihre Position sollte nicht als Relativismus missverstanden werden.
Platypus versucht an diese kritische Reflexion anzuschließen – mit notwendig antinomischem Resultat: Einerseits stellen wir fest, dass die Linke heute weder das „Recht noch die Pflicht“ hat, sich in internationalen oder selbst nationalen Konflikten zu positionieren. Eine wirkliche Linke, die Forderungen mit verantwortlichem Handeln selbst durchsetzen könnte, fehlt weltweit. Andererseits ist auch keine unpolitische Reflexion möglich. Mit anderen Worten: Die Fragen: Was müsste eine wirkliche Linke tun? Wie müsste sich die Linke verändern, damit sie die Welt verändern kann? Was sollte passieren, was nicht auch ohne eine Linke sowieso passiert? Und: Was müsste getan werden, um dem Ziel der Befreiung näher zu kommen? Diese Fragen müssen weiter gestellt werden, soll das auch von den Antideutschen ursprünglich geteilte Ziel einer Neuformierung einer, wir würden anraten, marxistischen Linken gelingen.
Doch die von den Antideutschen gefundene schlechte Auflösung der Antinomie des Politischen in der Gegenwart betrügt den selbstgesetzten Anspruch. Statt etwa die Problematik des Imperialismus als Ausdruck einer tieferliegenden Sackgasse auch der eigenen linken Politik zu begreifen, sucht die antideutsche Kritik lediglich nach einem neuen Inhalt für die alte Praxis. Damit versäumt sie es auch, die Pseudopraxis der K-Gruppen zu überwinden, die in den 70er-Jahren keinen unwesentlichen Anteil am Scheitern der Linken hatte. Formal betreiben Zeitschriften wie die Bahamas den Modus der maoistischen Propagandazirkel der 1970er-Jahre weiter. Lediglich die Setzung „Sag mir, wo du stehst?“ wurde inhaltlich anders beantwortet.
Jeder Terrorakt oder Krieg wird weiterhin als Anlass missbraucht, um die jeweils verhasstere Rechte zu diffamieren und für die eigene pseudopolitische Position zu werben. Doch auch Kritik an Antisemiten, so sehr sie zutreffen mag, überschreitet das moralische Urteil nicht. Unbedingt aber ist an der Einsicht Hegels festzuhalten, dass der moralische Standpunkt nicht an den Weltlauf heranreicht und notwendig fremden Zwecken zugutekommen muss, die auf der Höhe der Politik operieren – die Linke tut es nämlich nicht. Mit dem Abgleiten ins moralisierende und tendenziell manichäische Denken, gehen die Antideutschen, vielleicht gewollt, dem Risiko der Politik als „Kunst des Möglichen“ von vornherein aus dem Weg. Damit geben sie jedoch, falls sie überhaupt eine Wirkung entfalten, Rückendeckung für das, was auch ohne sie und ohne eine Linke passieren würde: regressive Wiederholung.
ANTWORTRUNDE
DzW: Es fällt mir nicht leicht, Justus‘ Tour de Force angemessen zu beantworten. Sie war für mich zum Teil wirr. Aus der Auseinandersetzung mit einer relativ kleinen, minoritären Fraktion der Linken wurde sofort eine Auseinandersetzung über die Linke, den Sozialismus und den Kommunismus insgesamt. Es ging um die Entstehung und Entwicklung sozialistischer Regime in China, Kambodscha, Russland, Vietnam, Mosambik, Angola usw. – es tut mir leid, ich habe diesen Regierungen nicht angehört und kann auf sie in dieser Kürze nicht eingehen. Ich bin auch nicht bereit, diesen pauschalen Grabgesang einfach zu unterschreiben. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass wir in einer Diskussion, die dem Thema Deutschland gilt, deutsche Spezifika aus den Augen verlieren.
[Die Podiumsdiskussion wird durch eine vorbeiziehende propalästinensische Demonstration für einige Minuten unterbrochen]
Wenn wir bei einer Veranstaltung, die den deutschen Verhältnissen gilt – wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt haben und welche Tendenzen sie aufweisen –, die Diskussion auf China, Kambodscha, Russland, Vietnam usw. verschieben, begehen wir den klassischen Fehler einer Projektion. Und genau das möchte ich nicht mitmachen. Ich finde es zwar schön, Justus, dass du dir Gedanken darüber machst, wie ein Staat deiner Meinung nach aussehen müsste, wie man aus einem Nationsbegriff doch noch etwas Positives ziehen könnte und wie man die Grenzen richtig kontrolliert. Aber, es tut mir leid, das lese ich täglich in der FAZ, im Spiegel, in der Frankfurter Rundschau und sonst wo. Ich sehe nicht, was das spezifisch Neue an deinen sehr weisen Vorschlägen ist.
Ich möchte gerne beim Thema Deutschland bleiben und noch ein paar Stichworte von den beiden Nachbarn hier aufnehmen, insbesondere den Punkt des Imperialismus. In der antideutschen Linken haben wir diesbezüglich mehr oder weniger in klassischen Kategorien gedacht: Durch einen deutschen Sonderweg drohe ein Viertes Reich, da ein vereintes Deutschland einen Machtzuwachs und spezielle Netzwerke nach Ost-, Mittel- und Südosteuropa haben würde. Dem hat die Regierung Kohl in den 90er-Jahren jedoch einen Riegel vorgeschoben, indem sie tatsächlich auf die europäische Einigung, speziell durch eine gemeinsame Währung, gesetzt hat. Daraufhin war die allgemeine Meinung, dass kein deutscher Sonderweg mehr drohe und die Gefahr eines imperialistischen Kolosses Deutschland vom Tisch sei. Das war ein Fehler, denn das Gegenteil ist der Fall: Gerade durch diesen Schritt ist es Deutschland gelungen, in Europa das Kommando zu übernehmen. Anfang der 90er-Jahre wäre das noch nicht möglich gewesen, da es damals im Gegensatz zu heute neben Deutschland immerhin noch Großbritannien und Frankreich waren, die den Kurs der EU vorgaben. Insofern ist die These von einem Vierten Reich und dem deutschen Imperialismus nach wie vor aktuell.
Allerdings macht es keinen Sinn, in unseren Auseinandersetzungen an alten Schablonen festzuhalten. Man muss sich selbstverständlich damit auseinandersetzen, dass von Russland, China und in gewisser Weise auch vom Iran eine imperialistische Politik ausgeht, die das Weltgeschehen stärker prägt als die imperialistischen Bestrebungen von Frankreich oder Großbritannien. Die Gründe dafür liegen aber nicht in der von Marx und anderen beschriebenen Kapitalentwicklung, sondern im Einfluss- und Bedeutungsverlust sowie in den daraus entstehenden sozialen Problemen dieser Gesellschaften – mit Ausnahme von China –, die sich aggressiv dagegen zur Wehr setzen. Das wiederum ist eine Parallele zum deutschen Nazismus, was ich aber nicht weiter vertiefen will.
Bleiben wir also beim Thema Deutschland. Eine Abrechnung mit der Linken? Gut, das kann man machen, gehört aber nicht hierhin.
JK: Ich denke, dass man bei Deutschland bleiben kann. Diesen Schlenker muss man machen, da die radikale Linke sich mit dem weltweiten Imperialismus befassen wollte, bevor sie sich mit dem deutschen Imperialismus befasst hatte. Der Kommunistische Bund Westdeutschland hat tatsächlich Kambodscha besucht, was tödlich ausgegangen ist. Er hat dort das Heilversprechen für mannigfaltige Probleme gesehen. Das Grundproblem scheint doch zu sein, dass die Linke einen universellen, einen revolutionären Anspruch hat. Man kann Reformpolitik machen, aber man kommt mit den vielen einzelnen Problemen nicht zu Rande, weil man sie zum großen Ganzen vermittelt, und das ist eben entweder der Imperialismus oder der israelische Staat oder in der Regel beides.
Dass die Antideutschen dem Imperialismus anfangs feindlich gesinnt waren, ist irgendwann krisenhaft geworden. Du hattest gesagt, dass wir jetzt diese ganzen rechten Bewegungen haben, diese wären aber einzeln anzuschauen. Sie sind die Konsequenz eines deutschen Imperialismus und die Normalisierungs- oder Faschisierungs-Diskussion, die ich versucht habe nachzuzeichnen, spricht Bände: Die Wiedervereinigung, die die von dir beschriebenen Erscheinungen hatte, ist nicht gleichbedeutend mit einem Vierten Reich und wir können daraus keine Verbindungen zum Internationalen und zu Russland ziehen, wie du das gemacht hast.
Es sollte stattdessen um eine Kritik der Linken und die Frage gehen: Warum hat die Linke sich die ganze Zeit mit diesen Staaten und mit Mao beschäftigen müssen, wenn man doch in Westdeutschland saß? Das hat nichts damit zu tun, dass es angehäufte Probleme gibt, sondern dass man die Negativität, in der man sich befindet, nicht aushalten kann: dass die marxsche Kritik der Politischen Ökonomie eine Lösung der Probleme verspricht, die in weite Ferne rückt, dass man aber gleichzeitig auch mit Reformismus nicht zufrieden sein kann. Daher kommen die ganzen Projektionen, die sich heute sehr wahnhaft in der postkolonialen Theorie ausdrücken.
Jetzt allerdings Schutzzölle vom Nationalstaat zu fordern, ist eine zu analysierende Krisenerscheinung, die auf das Problem eines fehlenden Liberalismus verweist. Wenn es in Frankreich keine liberalen Parteien mehr gibt und Juden entsprechend gezwungen werden, das Land zu verlassen, muss man sich überlegen, wo liberale Kräfte sind. Der liberale Nationalstaat ist heute völlig abwesend und vielleicht wäre es die Aufgabe der gegenwärtigen Linken, sich für Liberalismus einzusetzen.
JW: Detlef, Gegenstand dieser Veranstaltung ist, etwas über die Antideutschen zu sagen und das durchaus aus dem Blickwinkel: Was heißt das für die Linke? Das habe ich getan und von einer Blutspur gesprochen, die von Lenin bis hierher reicht.
Der Bürgerkrieg ist ein Verbrechen der Bolschewiki, sie haben ihn losgetreten. Lenin hat das kurz davor noch in den „Juni-Thesen“ begründet. Es ist ein unendliches Verbrechen, bei einem in Knechtung vor sich hin vegetierenden Volk, in dem der Hass brodelt, auf Bürgerkrieg zu setzen, anstatt mit den Menschewiki zusammen irgendetwas jenseits des Zarismus zu schaffen, was möglich gewesen wäre: Das ist ein gigantisches Verbrechen, das lange vor dem Stalinismus über drei Millionen Menschen allein das Leben gekostet hat! Über dergleichen Abenteurereien sollte nachdenken, wer überhaupt den Namen Lenins, dieses Bastards, in den Mund nimmt. Ich möchte damit nicht den Antikommunisten machen, versprochen! Ich erwarte aber, dass man dieses papierene, verstaubte, dogmatische Zeug auch mal wirklich goutiert – Lest das mal, das ist unerträglich: Dahinter steckt die Gewalt.
Zu den Antideutschen: Den eliminatorischen Antisemitismus, wie er gerade hier unten vorbeigezogen ist – na, was hat denn diese tolle Musik sekundiert? Da waren sie doch, die Holocaustfreunde, da war sie doch, die Melone, die Palästina-Fahne – interessiert hier auf dem Podium offensichtlich überhaupt nicht. Ich habe vor vielen Jahren einen Artikel mit dem Titel „Es geht um Israel“ in der Bahamas geschrieben – ich publiziere aus guten Gründen nirgends anders mehr. Ich hatte gehofft, dass es wenigstens bei den Referenten hier auch so sein könnte, in der Zeit nach dem 7. Oktober – einen Scheißdreck, nichts ist, ja wovon redet ihr denn überhaupt?
Und dann erzählt man mir, ich würde hier schlechte Politik machen, das würde alles im Spiegel und sonst irgendwo stehen, wenn ich über Dinge rede, die vielleicht einmal interessant dafür wären, wie sich Leute zusammentun könnten: ausdrücklich jenseits der Linken, ausdrücklich jenseits des Antirassismus, jenseits der Postcolonial Studies, jenseits des Antiimperialismus. Das ist keine Frage der Vokabel, es muss etwas anderes her, das Leute, die mit sich und der Welt etwas Besseres vorhaben, zusammenbringen könnte – bitte nicht mit links.
JS: Meinst du das ernst mit Lenin?
JW: Unbedingt.
JS: Alles klar. Ich bin deshalb verwirrt, weil die Weiße Armee, die Lenin gegenüberstand, das mitunter widerwärtigste, antisemitischste Pack war, das es überhaupt gab. Die Alternative zur Diktatur des Proletariats – die dann gescheitert ist und in einer Konterrevolution in der Tat zu furchtbaren Verbrechen geführt hat – wäre schon 1917 der faschistische Putsch von Kornilow gewesen. Die Bolschewiki haben mit einem der allerersten Dekrete überhaupt, den militanten Schutz der jüdischen Siedlungen durchgesetzt. Es ist auch vorgekommen, dass im Bürgerkrieg Bataillone der Roten Armee an Pogromen teilgenommen haben – auch in jüdischen Siedlungen –, dafür gab es harte Disziplinarmaßnahmen.
[Was ist mit Kronstadt?]
Das Manifest von Kronstadt ist hardcore antisemitisch. Es hat sowohl den Kapitalismus als auch die Bolschewiki mit den Juden identifiziert. Deshalb bin ich sehr verwundert über diese Einlassung.
Der Antiimperialismus ist eine Prioritätensetzung, die einer Strategie entspringt, die in den 20er- und 30er-Jahren aus einer sehr fragwürdigen Setzung innerhalb der Komintern getroffen wurde. Die prinzipielle Ausrichtung, dass sich eine Linke gegen den Imperialismus richten müsste – damals übrigens als temporäres taktisches Manöver gedacht, nicht als Prinzip – ist fragwürdig. Ich glaube, dass gar keine politische Kraft existiert – ob sie jetzt links ist oder anders benannt werden sollte, wie Justus meinte –, die in der Lage wäre, auf dem Level dieser Weltarena mitzuspielen. Israel braucht uns hier nicht, um sich zu verteidigen. Israel verteidigt sich selbst, hat die Israel Defense Forces (IDF), you name it. Es sind Sachen, die ohnehin passieren.
[Du willst einfach zugucken, ja?]
Mir bleibt nichts anderes übrig. Alle, die versuchen, hier mit moralischer Erpressung zu argumentieren, spielen dasselbe Game wie die antiimperialistischen Linken, die mit ähnlich fragwürdigen moralinsauren Argumenten versuchen, Leute auf die nächste Demo zu zwängen. Ich halte es für überhaupt nicht sinnvoll, so zu tun, als wären wir ein Player, der auf der Weltebene in der Form mitspielen könnte. Die Linke existiert nicht.
Ich möchte noch eine Sache zu Trump loswerden: Ich glaube, dass es wichtig ist, nicht darauf hereinzufallen, was große kapitalistische Parteien sich gegenseitig an den Kopf werfen. Die Aufgabe der Linken sollte sein, die Unterschiede, die von diesen Parteien natürlich gravierend übertrieben werden, realistisch zu betrachten. In Amerika – um Gore Vidal zu zitieren – gibt es eine Partei mit zwei rechten Flügeln: Das ist die Partei des Eigentums. Trump ist mitnichten ein Faschist oder jemand, der dem Nationalsozialismus ähnelt. Trump ist Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre selbst Anhänger der Demokratischen Partei gewesen. Die politischen Positionen bewegen sich auf ähnlicher Ebene. Das ist nur ein weiteres Zeichen, wie sehr die Linke sich in das Sogfeld von Mainstream-Politik begeben hat. Dazu hat Justus auch schon etwas gesagt.
FRAGERUNDE
Ich habe eine Verständnisfrage an Detlef: Du hattest in deinem Beitrag darüber gesprochen, dass der Irakkrieg der Wendepunkt war, der in der antideutschen Bewegung dazu geführt hat, dass das Existenzrecht Israels einer der Hauptpunkte wurde. Mir ist nicht klar, was genau das heißt. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Antideutschen zu dem Zeitpunkt ihres Entstehens, wie du auch selber meintest, eine der letzten noch historisch bewussten Antworten auf die Regression der Linken waren. Wie ist es dann dazu gekommen, dass wir auf einmal nur noch über das Existenzrecht Israels sprechen? Kannst du das ausführen?
DzW: Ich habe das Ganze sehr kurz dargestellt. Erstens gab es den klassisch antisemitischen Reflex von Saddam Hussein, der als selbstverständlich vorausgesetzt hat, dass man Israel angreifen muss, wenn man in einen Konflikt mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten gerät. Zweitens verfügte der Irak zu dieser Zeit über Massenvernichtungswaffen, insbesondere Chemiewaffen, die auch tatsächlich eingesetzt wurden, zum Beispiel gegen aufständische Kurden, was zu 5.000 toten Zivilisten führte. Diese Chemiewaffen wurden mithilfe von deutschen Ingenieuren und deutschen Firmen hergestellt. Saddam Hussein drohte damit, dieses mit deutscher Hilfe produzierte Giftgas gegen Israel einzusetzen – das konnte man nicht einfach als Alltäglichkeit abtun. In Israel verteilte man überall Gasmasken, die ironischerweise oft auch in Deutschland hergestellt wurden. Das brachte viele Israelis an den Rand des Wahnsinns: Sie fühlten sich von deutschem Giftgas bedroht und mussten sich mit deutschen Gasmasken schützen. Das war der Hintergrund, vor dem die linke Debatte stattfand.
Die meisten Linken sagten damals: „Der Irak ist ein kleines Land, das seine Ressourcen verteidigt.“ Es war ihnen auch egal, dass der Irak Kuwait annektiert hatte. Hauptsache, es ging gegen die USA – die Supermacht, die den gesamten Ölhandel kontrollierte und die Preise diktierte. Daher waren viele Linke auf der Seite des Iraks. Diese Haltung findet sich leider heute noch in der Friedensbewegung und wird oft völlig zu Unrecht gegenüber dem Iran angewendet. Denn wenn es so weitergeht, wird der Iran bald eine Atommacht sein.
JK: Wenn die Linke eine Daseinsberechtigung hätte, dann als Instanz, die der Vernunft verpflichtet ist. Diese Vernunft würde moralisch dazu führen, dass man sich Israel verpflichtet fühlt. Wenn die Linke das nicht tut, dann hat sie den Anspruch des Universalismus aufgegeben und ist eben keine Linke mehr – falls man den Begriff nach dem, was Justus gerade aufgezählt hat, überhaupt noch verwenden kann.
JW: Die hervorragenden Fehler oder tollen Sachen, die die Komintern oder weiß der Teufel irgendwann gemacht hat, sind zum Thema Antiimperialismus nicht wichtig. Antiimperialismus ist ein originäres Produkt der Neuen Linken, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und auf die Kooperation mit den kämpfenden Völkern setzte – ob maoistisch oder wie auch immer. Antiimperialismus hat sich weit entfernt von leninistischen und sonstigen Fragwürdigkeiten.
Damit hier nicht der Eindruck entsteht, es wäre irgendetwas an den Bolschewiki zu retten. Erstens: Die Geschichte schreiben die Sieger. Die Bolschewiki haben es hervorragend verstanden, ihre Darstellung – auch durch Justizmorde ab den frühen 20er-Jahren – zu verbreiten. In Russland hat es kurz vor 1914 erhebliche linksliberale und sozialdemokratische Kräfte gegeben, die nicht immer Schaum vor dem Mund hatten, sondern sogar gebildet waren. Es waren die Bolschewiki, die einen einigermaßen besseren Ausgang der Revolution 1905 durch ihre schwachsinnige Radikalisierung verhindert haben. Wer den Bürgerkrieg angeht und wer systematisch auf Gorki statt Tschechow setzt, um es mal literarisch zu sagen – Tschechow war ein linksliberaler Reformer, und der Mann hatte Recht, er hasste die Radikalen –, wer auf die Bolschewiki statt auf die Menschewiki setzt und das hinterher auch noch begründet, der wird natürlich nicht begreifen, dass das Hauptanliegen der Bolschewiki das Anzetteln eines Bürgerkriegs war, in dem sich, wie gesagt, aus tausend Jahren Knechtung an jeder Ecke in diesem Land jede Sauerei geäußert hat. Diejenigen wegzutun, die berufen gewesen wären, etwas Besseres zu tun – die Linksliberalen, die Sozialdemokraten, sehr, sehr viele Juden darunter: Das ist die Vorbereitung der Bolschewiki für das Unheil, das sie angerichtet haben. Bitte lest das nach!
JS: Meine Kritik bezog sich nicht auf den Universalismus, sondern darauf, dass moralische Kategorien – und das ist eine Einsicht, auf die sich Marx und Hegel stützen – nicht an den Weltlauf heranreichen. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Verhältnisse erlauben es nicht, die Welt einfach in Gut und Böse zu unterteilen: in fortschrittliche und nicht-völkische Staaten, die zu unterstützen wären, und solche, die es nicht sind. Es ist ein weltweites System, in dem verschiedene Rechte miteinander konkurrieren, eine Linke gibt es schlechterdings nicht. Ich halte es daher für falsch, in diesen Konflikt der Rechten moralische Normen hineinzuinterpretieren, dieses Standpunkt-Denken weiterzuführen und sich auf eine Seite zu schlagen. Das fängt an mit dem Wechselspiel von Islamismus und US-Imperialismus, was den Aufstieg der Hamas angeht. Es ist nicht einfach so zu deuten, dass sich die israelische Seite die ganze Zeit nur dem Wahren, Schönen, Guten verpflichtet hat. Es ist bekannt, dass die israelische Regierung ab den späten 1970er-Jahren die Vorgängerorganisation der Hamas, die Muslimbruderschaft, und später auch die Hamas selbst, im internen Flügelkampf der Palästinenser gegen die Fatah gestützt und damit ihren Aufstieg mitbegünstigt hat. Das heißt nicht, dass es da irgendeine Verschwörung gegeben habe, aber die Situation erlaubt einfach nicht, dass eine Linke sich plump auf die Seite irgendeiner Regierung schlagen könnte…
JW: Auch nicht auf die israelische?
JS: Sie muss schon versuchen…
JW: Auch nicht auf die israelische – ja, nein?
JS: Nein.
JW: Ok, Yalla Intifada, ich gehe.
[Justus Wertmüller verlässt das Podium]
JS: Wie gesagt, braucht die Linke überhaupt gar keinen Standpunkt einzunehmen.
JW: [Aus dem Saal heraus] Wer hier sagt, man kann sich nicht auf eine Seite stellen, auch nicht auf die israelische, mit dem rede ich nicht – das ist aus, vorbei! Ich bin doch kein Leninist!
Moderator: Justus, wir hätten gerne, dass du noch weiter dabei bleibst.
JW: [Aus dem Saal heraus] Wer Israel nicht verteidigt, mit dem kann man nicht diskutieren.
[Justus Wertmüller verlässt den Saal]
Jan Sander, du hast gerade gesagt, dass wir uns als Linke nicht immer direkt auf eine Seite stellen sollen, sondern stattdessen beispielsweise erstmal analytisch checken sollten, was das mit uns zu tun hat, beispielsweise mit der Regression, mit dem Kapitalismus. Ich würde grundsätzlich zustimmen, aber wie würdest du dich zu dem Einwand äußern, dass Marx seiner Zeit durchaus Partei ergriffen hat – beispielsweise im Krieg Frankreichs gegen Preußen oder im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Marx hat die ganze Zeit Position dazu bezogen und den Leuten gleichzeitig auch erklärt, was das mit den Verhältnissen zu tun hat. Könntest du diese generelle Abstention ausführen: Nur weil Israel oder auch die Ukraine keine perfekten kommunistischen Weltrepubliken sind, können wir dort keine Partei ergreifen. Warum denkst du, dass es gerade jetzt zweckführend ist, das nicht zu tun?
JS: Der Unterschied ist, dass es damals eine Linke gab und diese Konflikte eine Rolle in der revolutionären Strategie gespielt haben. Gegenwärtig gibt es einfach keine Linke, und in diesen internationalen Konflikten erscheint deswegen auch kein progressiver Beitrag zum Aufbau einer solchen Linken. Das ist eine unpolitische Position, die versucht, wie Marcuse Ende der 40er-Jahre einmal gesagt hat, das Potenzial darauf zu bewahren, tatsächlich irgendwann eine politische Position einnehmen zu können.
Jan Kalk, du hast vorhin gesagt, dass du dich einerseits einer orthodoxen marxistischen Politik und Kritik verpflichtet siehst, aber andererseits glaubst, dass man den Liberalismus verteidigen sollte. Marx‘ Punkt war, dass das Projekt einer selbstbewussten Nation, die den Wohlstand der Nationen durch Handel verwirklicht, in der Krise ist. Die liberalen Ideale sind für Marx durch den Kapitalismus unterminiert worden, weswegen sie nur durch eine sozialistische Revolution verwirklicht werden können. Glaubst du, dass sich irgendetwas daran geändert hat, dass man Liberalismus jetzt anders verteidigen kann, ohne dass man sich in Widersprüche verwickelt?
JK: Natürlich setzt sich die marxsche Kritik der politischen Ökonomie mit liberalen Vorstellungen anhand von Smith und Ricardo auseinander. Für Marx war klar, dass deren politische Ökonomie und auch die Ideen des Deutschen Idealismus nur durch eine soziale Revolution verwirklicht werden können. Das ist natürlich nach wie vor nicht falsch. Das Problem ist aber, dass die soziale Revolution weder in der Geschichte noch aktuell in greifbarer Nähe war oder ist – erst recht nicht bei den Bolschewiki. Ich frage mich auch wirklich, was das für eine Vorstellung von einer Linken sein soll, die zu Israel schweigt und sich für linke Regierungen einsetzt, die es nicht gibt – möchte man sich für Pol Pot, möchte man sich für den Angriff Chinas auf Pol Pot einsetzen?
JS: Wer hat denn von linken Regierungen geredet?
JK: Du hattest gesagt, diese Regierungen sind rechts und deswegen möchtest du sie nicht unterstützen. Möchtest du irgendwelche Linken in Israel unterstützen?
JS: Die gibt es dort ja auch nicht.
DzW: Natürlich gibt es die!
JK: Du siehst also zu, wie Menschen abgeschlachtet werden, weil sie keine Linken sind? Zurück zur Frage: Der Liberalismus ist nur unter der Bedingung schützenswert, dass man sich bewusst ist, dass es sich um Residuen handelt. Das ist ein schwieriger Abwehrkampf, gleichzeitig hat man nichts anderes, erst recht nicht nach der Erfahrung des Nationalsozialismus.
DzW: Ich bin nicht ganz mit Marx‘ berühmtem Satz einverstanden: „Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Ich denke, es ist genauso wichtig, die Welt zu deuten und zu interpretieren, um sie zu verstehen. Es ist aber nicht so, dass es keine Handlungsmöglichkeiten mehr gibt. Mit der Art von Schlagworten, Provokationen und Polemik, die das Thema verfehlen und Eklats produzieren, kommt man nicht weiter. Angesichts der großen Demonstrationen gegen die AfD sieht man, dass es eine enorme Bereitschaft gibt, sich gegen negative gesellschaftliche Entwicklungen zu engagieren und sie zu beeinflussen. Es ist Unsinn, diese Demonstranten einfach zu diffamieren und ihnen Antisemitismus oder Vorurteile gegenüber Israel vorzuwerfen – das kann nur von jemandem kommen, der an solchen Demonstrationen nicht teilgenommen hat. Die Menschen warten darauf, dass man produktiv mitarbeitet, sei es bei „Omas gegen Rechts“ oder durch Aktionsvorschläge und Hilfestellungen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, uns an solchen Bewegungen zu beteiligen, nicht nur Ideologiekritik zu üben und selbst Ideologien zu produzieren. Wir müssen uns dort einklinken, wo es möglich ist, und etwas bewirken.
Natürlich gibt es in Israel eine starke linke und demokratische Opposition, die massiv demonstriert. Wenn man das hochrechnet und mit der Bevölkerungszahl vergleicht, sind das gewaltige Demonstrationen mit enormem Durchhaltevermögen. Das ist für mich eine Orientierung und ich unterstütze sie auch finanziell.
JS: Ich frage mich, was für eine Perspektive des Sozialismus damit gewonnen ist, wenn wir für die Opposition oder gar für die Regierung in Israel Partei ergreifen. Wie bereits angeschnitten, existiert die Linke nicht erst seit gestern, sondern hat schon eine ganz schöne Strecke hinter sich. Sie wiederholt sich in ihren Protest- und Aktionsformen, ohne dass sie der Lösung der Probleme, die sie aufgreift, wirklich näherkommt. An der Stelle muss es auch solche Leute geben, die den Finger in die Wunde legen und diese Frage aufwerfen. Da lasse ich mich nicht getreu dem Motto, für irgendwen das Schild hochhalten zu müssen, erpressen.
Es gab gerade den Einwand gegen die Parteinahme, dass die IDF das schon mache und es uns da nicht braucht. In diesem Gebäude der Humboldt-Universität gab es vor wenigen Monaten wilde antisemitische Schmierereien. Ein Büro von jemandem, der als Antideutscher geoutet wurde, wurde mit dem Hamas-Blutdreieck beschmiert. Dieses Problem löst die IDF nicht. Justus Wertmüller trifft einen Punkt, wenn er auf die 8.000 Berufspalästinenser hinweist, die hier letzte Woche durchmarschiert sind und gegen die es keinen nennenswerten Protest gibt, den die emanzipatorische Linke auf die Beine stellen würde – da nutzt die IDF auch nichts. Insofern kann ich auch Wertmüllers Empörung und seinen großen Abgang verstehen, auch wenn es gleichzeitig etwas peinlich ist, weil es eher der eigenen Gewissensberuhigung dient. Ich hätte es sinnvoller gefunden, das im Handgemenge auszudiskutieren.
Es geht nicht darum, zu schauen, ob ich irgendwo eine linke Bewegung aufbauen kann – was ist das für eine alberne Frage? Du hast doch selbst 20 Mal gesagt, dass es die nicht gibt. Es gibt niemanden, auf den man sich beziehen kann. Die Frage ist im Grunde ganz einfach: Unter welchen Verhältnissen – so hündisch und elend sie auch immer sein mögen – kann ich mir ein einigermaßen würdiges und selbstbestimmtes Leben eher vorstellen? Dass wir an diesem Abend in freier Diskussion zusammensitzen und nicht in Sibirien oder in Xinjiang im Knast sitzen, sobald wir diese Positionen öffentlich äußern – das ist ein Unterschied in der Sache. Den sollte man sich nicht abmarken lassen, indem man sich in Äquidistanz begibt.
Natürlich ist die Parteinahme für den Kommunismus eine moralische Sache. Es ist Blödsinn, das Gegenteil zu behaupten. Die Revolution soll sein und die Verhältnisse, wie sie sind, sollen nicht sein. Das ist ein moralisches, normatives Urteil – ganz einfach.
JS: Du vergleichst Äpfel mit Birnen. In der einen Frage ging es darum, ob ich dazu aufrufen würde, die israelische Regierung zu verteidigen. Das kann sie sehr gut selbst, dafür hat sie die IDF. Ob ich solidarisch bin, wenn Leute angegriffen oder deren Büros angeschmiert werden, ist eine andere Frage. Das liegt in meinem Bereich und mein Verhalten – oder das meiner Gruppe – kann möglicherweise einen Unterschied machen. Es würde eine ganz andere Diskussion erfordern als die abstrakte Diskussion, ob man für oder gegen Israel ist, um hier einzugreifen. Dasselbe gilt für eine Demonstration, wobei mir hier nicht klar ist, was du gegen diese Demonstrationen ausrichten möchtest.
Du hast Recht, dass es sich um einen Unterschied handelt, ob man in einem sibirischen Knast sitzt oder in Freiheit ist. Die Aufgabe einer Linken bleibt aus meiner Perspektive aber dieselbe. In beiden Situationen müsste es darum gehen, dass die Linke am Aufbau einer sozialistischen Partei mitwirkt und versucht, ihrem Ziel näher zu kommen.
Schade, dass der Adressat gegangen ist, aber ich habe zwei kurze, ziemlich blutrünstige Zitate vorbereitet:
Was bedeuten schon ein paar verlorene Menschenleben in ein oder zwei Jahrhunderten? Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen aufgefrischt werden. Das ist sein natürlicher Dünger.
Und, von derselben Person:
My own affections have been deeply wounded by some of the martyrs to this cause, but rather than it should have failed, I would have seen half the earth desolated. Were there but an Adam & Eve left in every country, & left free, it would be better than as it now is.
Dieser blutrünstige Bastard, der das gesagt hat, ist Thomas Jefferson, einer der Gründerväter des Gemeinwesens, auf das sich Justus Wertmüller positiv bezieht, nämlich die Amerikanische Republik. Mit seiner ganzen Hysterie rund um haufenweise Leichenberge – die ganze Zivilisationsgeschichte – fällt er sogar hinter die Leute zurück, die einen blutigen Befreiungskrieg geführt haben. Life, Liberty and the Pursuit of Happiness – dafür hat es sich gelohnt.
Den Mythos, dass eine liberale Entwicklung in Russland möglich gewesen wäre, hat der Historiker Leopold Haimson in seinem Paper „Problem of Social Stability in Urban Russia, 1905–1917“ bereits in den 60er-Jahren endgültig widerlegt. Kein Historiker nimmt die Fantasie ernst, dass man einen Konstitutionalismus im Zarenreich hätte aufbauen können.
Jan Sander, du hast mehrmals zu deiner Aussage Stellung beziehen müssen, dass du dich nicht vor den moralischen Karren spannen lassen möchtest. Ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dass – obwohl ich gegen einen moralischen Approach bin – du eine Art Äquidistanz aufbaust, die das Spezifikum einer deutschen Linken mit ihrer spezifischen Vergangenheit irgendwie wegrasiert. Wir sind hier fast alle Nazienkel. Die Linke beschäftigt sich immer noch zu wenig mit dem Antisemitismus und mit der Frage, welche spezifische historische Verantwortung wir als deutsche Linke deswegen haben. Mir tut es wirklich weh, wenn wir hier so darüber sprechen, als sei das „irgendwie früher“ und „mal ein kleiner Zivilisationsbruch“ gewesen. Das schwingt bei mir mit, wenn man darüber hinwegsieht und sagt, man will sich nicht vor den moralischen Karren spannen. Wir haben diese spezifische Verantwortung. Ich kann aus keiner Perspektive sprechen, die die spezifische Vergangenheit meiner Großeltern und den dort begangenen Zivilisationsbruch nicht beachtet und die eine Äquidistanz zu dem herstellt, was gerade propalästinensische Seiten versuchen. Diesbezüglich wäre in der Diskussion mehr Sensibilität angebracht.
JS: Das sind wieder verschiedene Sachen. Das eine ist eine sehr spezifische linke Strategie, die, wie gesagt, aus den 20er- und 30er-Jahren kommt, wobei es darum geht, Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen Regimen für die politische Strategie auszumachen, die dann angeblich zum Sozialismus führen soll. Diese Auseinandersetzungen haben die Gegensätze zwischen einer antifaschistischen und einer antiimperialistischen Orientierung hervorgebracht. Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Umgruppierungen anhand der Wechselfälle, in welchen der Kapitalismus diese Regime hervorgebracht hat. Die Strömung, aus der Justus kommt, war zuerst israelkritisch und hat sich dann umorientiert, aber das Grundschema dahinter – die Aufteilung in verschiedene Länder und verschiedene Regime, die es etwa zu bekämpfen oder zu unterstützen gelte – affirmiert auf einer tieferen Ebene das weltweite System der Nationalstaaten, das den Kapitalismus stützt. Dagegen bin ich.
Aus der Geschichte der deutschen Linken und der deutschen Vergangenheit den Schluss zu ziehen, dass in diese Konflikte eingegriffen werden muss, ist ein weit hergeholter Schluss. Man kann auch Adornos „Elemente des Antisemitismus“ lesen, ohne sich solchen Argumenten herzugeben. Aus deiner Argumentation ließen sich auch noch ganz andere Schlussfolgerungen ziehen. Aus meiner Perspektive nutzen die Antideutschen – genauso wie ihr antiimperialistischer Gegenpart –, jeden Terrorakt, jeden Krieg weltweit, um darzustellen, dass sie die konsequenten Kämpfer gegen Antisemitismus oder, auf der anderen Seite, gegen koloniale oder imperiale Beherrschung sind. Darüber versuchen sie, Support für ihre Position zu generieren – das finde ich missbräuchlich.
In der Vorbereitung auf diese Podiumsdiskussion habe ich viele historische Podien aus den letzten 30 Jahren gehört und mir die ganze Zeit gedacht: Das gibt’s doch nicht, dass der Titel dieser Veranstaltung „Was waren die Antideutschen?“ lautet. Ihr habt alle drei in euren Eingangsstatements gesagt, dass da etwas schiefgelaufen ist. Jan Kalk, als du vor 10 Jahren durch die Antideutschen politisiert wurdest, stand – so habe ich dich verstanden – schon die Frage im Raum, ob das nicht eigentlich überkommen ist. Jetzt sitzen wir hier, aber meinem Gefühl nach hat sich nichts im Selbstverständnis geändert. Könnt ihr in Bezug auf die letzten 30 Jahre darauf reflektieren, was ihr geschafft und was ihr nicht geschafft habt?
DzW: Dass die deutsche Einheit stattgefunden hat, kann den Eindruck erwecken, als hätten wir gar nichts bewirkt. Dass sie stattfinden würde, war uns auch klar und war kein Anlass, unsere Anliegen zurückzuziehen, wir haben sie weiter vertreten. Dann kam der Golfkrieg. Wir haben dazugelernt. Auch wenn man gesehen hat, dass wir an der Geschichte nichts ändern können, haben wir an der Verfasstheit der Linken nichts geändert. Die Dinge liefen, wie sie liefen – wir haben heute Abend mehrere anschauliche Beispiele dafür erlebt. Es ist auch nicht aufgegangen, mithilfe einer antideutschen Fraktionierung ein anderes Milieu zu schaffen, das zumindest anders miteinander umgeht und auf einem qualitativ höheren Niveau diskutiert als früher die K-Gruppen, die Trotzkisten usw. Dennoch hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren – ich kann es nicht genau erklären – ergeben, dass das Gedankengut der Antideutschen in diese Gesellschaft eingesickert ist. Es ging den Antideutschen nie darum, eine Zwei- oder Drei-Prozent-Partei zu werden und einen Schriftführer zu wählen, sondern darum, bestimmte Ideen zu platzieren.
Die Beispiele, die Justus genannt hat, sind nicht ganz falsch. Es gibt auch Leute, mit denen wir wirklich wenig zu tun haben, die sich auf einmal als antideutsch bezeichnen, weil sie das schick finden – aber das bedeutet, dass die ganze Sache nicht völlig wirkungslos geblieben ist.
Heute sitzt ihr als eine neue Generation von Linken hier und habt bestimmte Fragen und Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann. Ihr habt aber auch bestimmte Chancen: Ihr habt nicht das Gepäck einer starken stalinistischen Linken; ihr habt auch nicht die Hypothek der Irrungen, die es bei den K-Gruppen gegeben hat (wobei sich Justus die Freiheit nahm, alles durcheinander zu mischen: Der Kommunistische Bund Westdeutschlands mit seinem Kambodscha-Besuch ist praktisch das Gleiche wie die antifaschistischen Bemühungen des KB Nord – alles eine Blutspur. Das ist wirklich eine ideologische Auseinandersetzung, die uns nicht weiterbringt). Die Frage, ob es eine Linke gibt oder nicht, liegt in euren Händen. Ihr müsst nicht alles neu erfinden, aber ihr könnt vieles in den bestehenden Organisationen anders und besser machen, beispielsweise in den Gewerkschaften. Das ist natürlich eine Sisyphusaufgabe, aber ich habe es auch überlebt. Es gibt außerdem immerhin die Linkspartei, die Sahra Wagenknecht verlassen hat und jetzt nach einer neuen Orientierung sucht, was nicht komplett uninteressant ist. Und es gibt auf Landes- und regionaler Ebene eine Menge von linken Ansätzen und Initiativen, die auf eure Ergänzung warten.
JK: Eine Bilanzziehung ist deswegen eine sehr merkwürdige Angelegenheit, weil der Gegenstand der Kritik weiterhin besteht. Gleichzeitig zeugt es von Hybris zu denken, dass eine antideutsche oder materialistische Gesellschaftskritik allzu viel verändern könnte. Der einzige Erfolg besteht vielleicht darin, anderen Menschen in diesen Verhältnissen ein paar Gedanken vermittelt zu haben, sich nicht komplett von dieser Gegenwart kaputt machen zu lassen und nicht in irgendwelche Wahnvorstellungen zu verfallen, man könnte sich durch die Gründung einer Partei von allem anderen fernhalten.
Könnte das Podium noch etwas zu diesen 8.000 Berufspalästinensern im Rahmen des teilweise als völkisch-nationalistisch wahrgenommenen Protests sagen, der sich geriert, als ob hier die Reaktion im linken Gewand auftritt? Man hat das Gefühl, dass sich die Linke bei diesem Thema wegduckt und sich daran die Hände nicht schmutzig machen möchte.
JS: Was ist damit gewonnen, wenn ich dazu etwas sage? Was stellst du dir vor?
Das Thema hat mit den Anschlägen des 7. Oktobers 2023 zu tun und die Linke positioniert sich dazu antisemitisch. Das Thema wird weggewischt und wir hatten vor der Tür hier auch eine Demonstration.
JS: Dieses Thema hatte Jan schon aufgeworfen. Dem liegt die Frage zu Grunde, ob die Linke überhaupt ein Objekt der Kritik ist. Klar kann man den Leuten Antisemitismus attestieren – das wird wahrscheinlich stimmen, das habe ich auch schon erlebt. Aber was ist deine Vorstellung davon, wohin das Ganze führen soll? Die Antideutschen gibt es auf der deutschen Linken schon seit 30 Jahren. Der Ausgangspunkt meines Eingangsstatements war eine Grabrede auf die Antideutschen: Dieses ganze Projekt ist mit Ach und Krach gescheitert. Damit stellt sich für mich die Frage, ob wir ewig in dieser Wiederholung eines Todes der Linken nach dem anderen weiterleben wollen? Was wäre notwendig, um ein Projekt zu schaffen, das über diese ewige regressive Wiederholung hinausweisen würde? Insofern würde ich die Frage zurückgeben.
DzW: Ich bin der Meinung, dass diese – wie ich gelesen habe – feministische Demonstration dieser Größe einer ganz klaren Antwort bedarf. Da kann man nicht die Hände in den Schoß legen und sagen: „Das geht mich nichts an.“ Es waren wohl keine 8.000 Antisemitinnen und Antisemiten, sondern auch Leute, die meinen, aus humanitären Gründen auf der Seite der Palästinenser zu sein. Dazu muss man eine klare Gegenposition formulieren, sich zusammensetzen – im Rahmen des AStAs oder anderen Netzwerken – und versuchen, wenigstens einen Großteil der Demonstrantinnen und Demonstranten zur Besinnung zu bringen.
JK: Die Linke sollte sich als erstes gegen so eine Versammlung richten – was soll eine Linke überhaupt machen, wenn sie dem nicht etwas entgegensetzen kann? Als Antwort darauf eine Partei aufzubauen und irgendwelche Produktionsmittel zu vergesellschaften, ist angesichts dieser Verhältnisse ein komisches Hobby.
Meine Frage bezieht sich auf die Verwirrung der Jugend in der Gegenwart. Es scheint nicht wirklich klar zu sein, ob man sich in einer Wiederholung der 30er- oder der 90er-Jahre befindet oder in einer Mischung aus beidem. Meinem Verständnis nach haben die Antideutschen in den 90er-Jahren versucht, einen Sinn aus der Geschichte der Linken zu machen und in diese Tradition zu treten, indem kritisch die 30er-Jahre hinterfragt wurden. Gleichzeitig haben sie mit der Anerkennung, dass die 90er-Jahre anders als die 30er-Jahre waren, den Weg nach vorne gewiesen. Woher kommt die Verwirrung, dass junge Leute nicht wirklich wissen, ob die neue NSDAP oder der Neonazismus der 90er-Jahre die große Bedrohung ist? Inwiefern war das antideutsche Projekt hilfreich, die 30er- und 90er-Jahre für die Generation zu klären, die heute vor euch sitzt? Und wie sollte von hier aus weiter gegangen werden?
DzW: Das ist keine einfache Frage und ich möchte darauf keine einfache Antwort geben. Das, was wir in den 90er-Jahren gemacht haben, war in gewissem Sinne der Versuch eines linken oder kommunistischen Beitrags zur Erinnerungskultur – das vergisst man, wenn man von der Blutspur redet –: die Erinnerung an die Fehler der Kommunistischen Internationale, an den Hitler-Stalin-Pakt, letztlich auch an die Ermordung Trotzkis. Diese Erinnerungskultur war damals auf der deutschen Linken so gut wie gar nicht vorhanden. Durch die Frage der Nation, die Kritik an dem, was bis dahin proletarischer Internationalismus genannt wurde, und die Notwendigkeit, das zu einem Antinationalismus weiterzuentwickeln, wurden eine Menge von Schwachpunkten der nicht nur deutschen, sondern internationalen kommunistischen Geschichte aufgearbeitet. Ich glaube, dass dieser Anstoß nicht ganz umsonst gewesen ist.
Eine Frage war, inwiefern die antideutsche Bewegung hilfreich war, um genau diesen Moment jetzt klären zu können?
DzW: Man muss sich nicht unter Wert verkaufen. Die antideutsche Bewegung war hilfreich, weil sie uns ermöglicht hat, die Entwicklung ein bisschen vorauszusehen. Deswegen haben wir eine gewisse Autorität, wenn wir heute von Faschisierung reden, mit dem Finger auf Trump zeigen und darauf hinweisen, dass sich viele der amerikanischen Rechtsradikalen – beispielsweise die Turner-Tagebücher – explizit auf den Nazismus beziehen. Irgendjemand muss das sagen und wir haben die Legitimität dazu, ohne dass man uns gleich Antiamerikanismus vorwirft – obwohl Justus uns natürlich Antiamerikanismus vorwerfen wird, das ist klar.
JS: Ich würde dir zumindest Feindlichkeit gegenüber der Amerikanischen Revolution attestieren, wenn du Trump mit irgendwelchen deutschen Nationalsozialisten über einen Kamm scherst. Die Demokraten schüren diese Einstellung schon seit Langem. Seit Eisenhower ist jeder republikanische Präsidentschaftsanwärter als Faschist und jeder demokratische Präsidentschaftsanwärter als Sozialist tituliert worden. Beide übertreiben und lügen offensichtlich. Um die Verhältnisse zu verstehen, muss man schon ein bisschen mehr tun, als New York Times zu lesen und Clinton News Network zu schauen.
Ich finde es gut, dass jetzt doch noch jemand die Sache der Antideutschen vertritt. Ich bin der antideutschen Linken gegenüber eigentlich sehr positiv eingestellt. Die Linie Wertmüller/Elsässer fand ich die Abart. Ich würde den Veranstaltern anraten, das nächste Mal Jürgen Elsässer einzuladen: Der bleibt nämlich, der geht nicht weg. Man sollte keine rechten Ideologen einladen, gegen solche Scheiße haben Antideutsche auch gekämpft. Wir in unserer autonomen Gruppe waren als Antideutsche erstmal gegen den deutschen Militarismus und den deutschen Nationalismus, nicht nur gegen Faschismus, sondern gegen Nationalismus. Dazu gehörte für uns Lafontaine schon damals.
Natürlich muss es heißen: gegen jeden Antisemitismus. Und das heißt natürlich auch, sich nicht mit irgendwelchen Konterrevolutionären aus Russland gemein zu machen, die gegen die Judas-Kommune gehetzt haben. Das ist ein typisches Topos der Antisemiten gewesen – die bolschewistische Weltverschwörung, die hier im Grunde in neuer Form von einem Ex-Antideutschen dargeboten wurde. Uns war von Anfang an klar: Deutschland denken heißt Auschwitz denken und Deutschland denken heißt auch wieder Kriege führen. Dieser neue Militarismus, diese sogenannte Zeitenwende, ist nicht erst seit Putin da – im Gegenteil, wir haben die deutsche Friedensbewegung dafür kritisiert, dass sie deutschnational war. Es ist aber nun Zeit, gegen den heutigen deutschen EU-Militarismus vorzugehen, und zwar nicht mit der deutschen Friedensbewegung, die jetzt wieder aufsteht, sondern mit Gruppen wie Rheinmetall Entwaffnen, die erkannt haben, dass Krieg hier beginnt, die vor deutschen Konzernen protestieren und nicht irgendeine Geopolitik betreiben. Das ist auch eine Fortsetzung des antideutschen Kampfes.
Als Justus rausgegangen ist, musste ich natürlich an ein Adorno-Zitat denken: „Wer denkt, ist nicht wütend.“ Ich möchte keine üble Nachrede betreiben, sondern zum Ausdruck bringen, was ich zum Titel „Was waren die Antideutschen?“ sagen würde: Das Scheitern der Antideutschen. Ich finde, dass Detlef es sich etwas zu einfach macht, wenn er sagt, dass ihr Kulturkritik betreiben oder Meinungen platzieren wolltet. Thomas Ebermann, ein Genosse von dir, sagt so etwas wie: „Hätte ich gewusst, dass das alles nicht klappt, hätte ich nicht jahrelang Finanzberichte gelesen, sondern hätte mich dem Hedonismus hingegeben.“ Jan Gerber, der von beiden Jans zitiert wurde, sagt: „Wir wollten die Linke rekonstituieren, also eine kommunistische Linke.“ Ich befürchte, ich sehe bei vielen älteren Antideutschen, wie bei vielen älteren Leuten der Neuen Linken, eine Art späte Rationalisierung: „Wir wollten nur mehr Freiheiten, in Wohngemeinschaften leben, Frauenrechte usw.” Aber das stimmt nicht, sie waren Kommunisten und sie wollten eine Kritik herantragen. Gerber macht auch den Punkt, dass die Antideutschen Teil der neoliberalen Modernisierung waren. Da musste ich an ein Zitat von Helmut Kohl denken: „Die Deutschen müssen mehr Bescheidenheit lernen.“ Auch das drücken die Antideutschen leider aus. Deswegen die Frage – ohne falsche Bescheidenheit, wenn ihr eure ursprünglichen Ziele ernst nehmt –: Könnt ihr noch einmal versuchen, das Scheitern zu erklären? Liegt es an zu viel Leninismus, worauf Jan Sander angesichts der K-Gruppen-Kontinuität hingewiesen hat? Oder liegt es an zu viel Antileninismus, an der Angst vor Partei und Masse, wie bei Wertmüller? Oder waren die Antideutschen von Grund auf zum Scheitern verurteilt? Die letzte Frage ist gerade auch an Jan Kalk gerichtet. Deine Aufgabe als Nachfolger der Antideutschen wäre eine radikale Selbstkritik statt einer einfachen Nachbildung. Wo siehst du die Fehler?
JK: Ich habe diesen Punkt in meinem Eingangsstatement aufgenommen. Die radikale Zuspitzung des Materialismus ist damit konfrontiert, die befreite Gesellschaft zu wollen, aber sie aufgrund der Verhältnisse nicht erreichen zu können. Mit diesem Punkt haben Leute, die mehr wollen, oft Probleme, und das sieht man im linken Alltag die ganze Zeit. Die Vorstellung, es gäbe aufgehäufte Probleme der Linken, aus denen man lernen müsse, ist sehr merkwürdig. Es klingt für mich danach, als hätten wir nur konsequenter sein müssen, irgendjemand hätte keine Familie gründen und stattdessen den nächsten Artikel schreiben sollen oder die Leute hätten ein bisschen netter zueinander sein sollen – und dann wäre alles gut gewesen. Wir leben in einer Gesellschaft des endlosen Endes des Kapitals, 150 Jahre Kommunistisches Manifest war ein Text der antideutschen Bewegung.26 Wenn man sich jetzt jedes Mal fragt: Warum hat es nicht geklappt mit dem Kommunismus? – dann macht man doch irgendetwas falsch.
[Warum macht man da etwas falsch?]
DzW: Dass Geschichte sich dialektisch entwickelt, ist eine Binsenweisheit. Nach den ersten Jahren der deutschen Einheit unter Kohl, die schlimm genug waren, kam die rot-grüne Regierung. Es schienen andere Themen gesetzt und wer dann noch mit der Gefahr durch den Nationalismus anfing, wurde rasch isoliert oder konnte seine Thesen in irgendeiner linken Nische verbreiten. Gleichzeitig hat die rot-grüne Regierung die Vokabel von den Heuschrecken in Gang gesetzt und der Antisemitismus ist den Umfragen nach zu urteilen enorm gewachsen. Er begab sich in das Kleid, Israel als Gefahr für den Weltfrieden darzustellen – ein Stichwort von Günter Grass. So haben sich die Auseinandersetzungen verschoben. Von der Realisierung eines linken Großprojekts oder auch nur der Einheit der Linken waren wir doch immer wahnsinnig weit entfernt – ganz zu schweigen von einem neuen Programm oder einer neuen Massenbewegung. Wie Jan Kalk schon gesagt hat, kann man nicht erwarten, dass man zwei, drei gute Ideen hat und dann groß rauskommt – wer das will, ist bei der Linken falsch. Stattdessen muss man versuchen, die eigenen Überzeugungen von der Realität mit der Realität zu konfrontieren, notwendige Korrekturen vornehmen und dann zum richtigen Zeitpunkt wieder präsent sein. Ohne falsche Bescheidenheit würde ich sagen, dass die Antideutschen nicht gänzlich ein Schlag ins Wasser gewesen sind. Sie waren ein Beitrag, heute die notwendige Abwehrfront gegen die weltweite Rechtsentwicklung zu formieren und neue Freunde dabei zu finden.
JS: Die Antideutschen waren einerseits zu sehr dem verhangen, was sie selbst als Leninismus verstanden, und haben die Praxis der 70er-Jahre mit anderem Inhalt fortgesetzt, also weiter ihr Fähnchen auf der Landkarte gesetzt und zwischen vermeintlich progressiven, weil westlichen, und reaktionären, weil islamistischen Kräften unterschieden, und anhand dieser Linien versucht, weiter ihre Polemik zu betreiben. Andererseits waren sie zu wenig leninistisch, weil sie, wie die Neue Linke insgesamt, das Ziel – den Aufbau einer sozialistischen Partei – aus den Augen verloren haben, um das so schematisch zu sagen.
Beide Jans haben in ihrem Eingangsstatement darüber gesprochen, dass die Antideutschen angetreten sind, eine neue Linke zu rekonstituieren. Detlef hat gesagt, dass es schön ist, dass wir jetzt eine antifaschistische Bewegung haben und so viele Leute gegen die AfD auf die Straße gehen. Justus Wertmüller hat gesagt, dass die gesamte Linke am Staat hängt. Hier vorne haben wir gehört, dass es keine Opposition oder eine Linke gibt, die in den queeren antisemitischen Mob intervenieren kann. Wo ist diese Linke nach 35 Jahren Antideutschen? Und, um es nochmal aufzugreifen: Was ist das Problem damit, sich nach einer Generation linken Aktivismus irgendwann zu fragen, wieso es mit dem Kommunismus nichts geworden ist?
JS: Ich habe bereits versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Was Justus meint, ist, dass große Teile der Antideutschen von damals in den Staat integriert sind, und offensichtlich ein ganz anderer Ton gegenüber palästinensischen Demos herrscht. Da kann man sich auf die Schultern klopfen und sagen, dass die Polizei heute ein bisschen härter zuhaut als in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, ob das eine Errungenschaft ist. Aber das ist, denke ich, tatsächlich das Resultat. Jan Gerber hat in seinem Artikel absolut recht: Die Antideutschen sind eine Modernisierungsbewegung. Sie haben sie mit ihren kulturellen Einstellungen teilweise durchgesetzt, natürlich mit einem anderen Gewicht als vorherige Generationen der Linken, die wesentlich stärker waren. Wir erleben eine sukzessive Abnahme der Integration von Generationen von Linken in ideologische Staatsapparate.
DzW: Du hast gesagt, dass ein linkes Projekt geplant war, das es nicht gegeben hat. Woran lag es? Das drängt mich in die Position, mir doch noch Erfolge aus den Fingern zu saugen, um nicht ganz nackt dazustehen. Darauf möchte ich möglichst verzichten. Es gibt ein paar Zeitschriften und Autorinnen und Autoren, die im Sinne der Antideutschen argumentieren und diese Argumente weiterentwickeln. Das gilt auch für Österreich, was ich wichtig finde, da es dort einen Sender gibt, der einen weiteren Anschluss Österreichs an Deutschland platzieren will. Und auch innerhalb der Labour Party gibt es offenbar eine linke Fraktion, die in der Auseinandersetzung mit Corbyn tatsächlich auch die Israelsolidarität für sich entdeckt hat und ähnlich argumentiert wie wir. Das feiere ich als Erfolg, so winzig das ist.
JK: Warum funktioniert diese Revolution nicht, warum scheitert die Linke? Diese Frage ist das Gründungsmoment der Art von Materialismus, den ich hier, wie zu Recht gesagt wurde, nachgebildet habe, weil ich ihn richtig finde. Das Scheitern der Revolutionstheorie wurde in den größten Teilen der Linken einfach abgespalten und als individuelle Verfehlung verstanden. In diesem Materialismus ist aufgehoben, die Bedeutung des Scheiterns der Revolution für die Theorie selbst ernst zu nehmen. Das müssen wir tun, anstatt Scheiternsstrukturen in der Geschichte zu verorten. Genau aus diesem Materialismus entspringt die Solidarität mit Israel und der moralische Imperativ, sich heute vor jüdisches Leben zu stellen.
Mir tat es weh zu sehen, dass Justus Wertmüller gegangen ist. Ich dachte mir: Er hat 30 Jahre lang versucht, die Linke zu verändern, und er hält es nicht aus, das Ergebnis zu sehen, das wir alle auch sind – er möchte dafür keine Verantwortung übernehmen. Detlef, du sitzt noch hier und hältst es irgendwie noch mit uns aus. Du hast den Sisyphus-Stein an uns weitergegeben. Jan Kalk, du hast in deinem Eingangsstatement gesagt, dass die AfD mit der Wiedervereinigung möglich geworden ist. Die Antideutschen haben versucht, in die Wiedervereinigung zu intervenieren. Hätten die Antideutschen nicht eigentlich die AfD verhindern müssen? Mir ist noch nicht ganz klar, ob du dich heute noch als Antideutschen bezeichnen möchtest. Warum würdest du heute noch Leute motivieren wollen, antideutsch zu sein? Jan Sander, du wiederum hast vielen Leuten im Raum Kopfschmerzen damit bereitet, dass du einen Horizont aufmachen wolltest von: Die Linke war mal etwas anderes, und Politik als Kunst des Möglichen scheint heute für viele nur noch in Form von Israel möglich zu sein. Bruhn hat damals gesagt: Israel und der Kommunismus. Du möchtest Leute, glaube ich, nicht dazu bewegen, heute noch antideutsch zu sein. Möchtest du Leute noch dazu bewegen, Kommunisten zu sein?
JK: Der Begriff „antideutsch“ ist immer eher eine Fremdzuschreibung gewesen, die man vielleicht nicht abgewiesen hat, weil sie nicht das Schlechteste ausgedrückt hat. Dennoch würde ich sagen, dass man heute als Kommunist gezwungen ist, eben genau diese Kritik zu üben. Man kann am Kommunismus als Bekenntnis festhalten, aber das Einstehen für Israel ist gerade die kommunistische Tätigkeit schlechthin. Ich habe aber zurückgewiesen, dass die AfD ein direktes Resultat der Wiedervereinigung ist. Die Phänomene 1992–1994 sind nicht identisch mit dem Phänomen der AfD.
DzW: Ich habe in den letzten 30 Jahren nicht Tag und Nacht an der antideutschen Politik gearbeitet. Ich will das auch niemandem empfehlen, weil es nicht wirklich antideutsch wäre.
JS: Ich fand es auch schade, dass Justus gegangen ist. Es wird zum Teil auch an einer Aussage von mir gelegen haben, die ein bisschen zu scharf war, wobei ich schon überrascht bin, wie empfindlich er reagiert hat. Ich möchte niemanden auf eine direkte Art und Weise dazu animieren, Kommunist zu sein. Aber ich möchte Fragen in den Raum stellen, die damit zusammenhängen, weil es offenbar ein Phänomen ist und weitere Generationen sich damit beschäftigen. |P
1. Abraham M. Rosenthal, „Für eine internationale Offensive gegen den Nazismus“, Konkret 01/93, 24.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Manfred Dahlmann, „Vorwort zur Neuauflage: Was heißt antideutsch?“, in Joachim Bruhn, Was Deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation (Freiburg: ça ira, 2019), 10.
5. Jan-Georg Gerber, „Die Antideutschen. Ein Nachruf“, Bahamas 94 (Frühjahr 2024): 72.
6. Antinationale Gruppe Bremen (ANG), „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie Scheiße ist Deutschland? Konferenz zum Stand der Kritik“, online abrufbar unter: https://conne-island.de/nf/181/27.html [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2024].
7. Kongressvorbereitungsgruppe (Hrsg.), Die radikale Linke. Reader zum Kongress vom 1. - 3. Juni 1990 in Köln (Hamburg, 1990), 193.
8. Vgl. https://www.instagram.com/p/C-FY9yLKTFu/?hl=de [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2024].
9. ANG, „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie Scheiße ist Deutschland? Konferenz zum Stand der Kritik“.
10. Clemens Nachtmann, „Die demokratisierte Volksgemeinschaft als Karneval der Kulturen. Von der Verallgemeinerung des Postnazismus und dem Altern der antideutschen Kritik“, in Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert, Hrsg. Stephan Grigat (Freiburg: ça ira, 2012), 57.
11. Matthias Spekker, „‚ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär‘. Wahrheit in Marx‘ wissenschaftlicher Gesellschaftskritik“, in Wahrheit und Revolution. Studien zur Grundproblematik der Marx’schen Gesellschaftskritik, Hrsg. Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder und Matthias Spekker (Bielefeld: transcript, 2020), 32. Online abrufbar unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783839450673/html?lang=de.
12. Clemens Nachtmann, „Wenn der Weltgeist dreimal klingelt. Zur Geschichtsmetaphysik der ‚Krisis‘-Gruppe“, Bahamas 21 (Herbst 1996): 25. Online abrufbar unter: https://redaktion-bahamas.org/hefte/21/Wenn-der-Weltgeist-dreimal-klingelt.html.
13. Wolfgang Pohrt, „Vernunft und Geschichte bei Marx“, in Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt (Berlin: edition TIAMAT, 2001), 270. Online abrufbar unter: https://archive.org/details/vernunft-und-geschichte-bei-marx/mode/2up.
14. Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band“, in Marx-Engels-Werke, Band 25, Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin: Dietz, 1964), 454. Online abrufbar unter: https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/mew_band25.pdf.
15. Herbert Marcuse, „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“, in Kultur und Gesellschaft I (Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1965), 35.
16. Joachim Bruhn, Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation (Freiburg: ça ira, 2019), 170.
17. Vgl. Initiative Sozialistisches Forum (Hrsg.), Das Konzept Materialismus. Pamphlete und Traktate (Freiburg: ça ira, 2009).
18. Clemens Nachtmann, „Krisenbewältigung ohne Ende. Über die negative Aufhebung des Kapitals“, in Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert, Hrsg. Stephan Grigat (Freiburg: ça ira, 2012) 156.
19. Vgl. Rainer Rotermundt, Verkehrte Utopien. Nationalsozialismus. Neonazismus. Neue Barbarei (Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1980) 102.
20. Vgl. das Heftthema der Bahamas 93 (Winter 2024): https://redaktion-bahamas.org/hefte/93/Für-Israel-gegen-die-postkoloniale-Konterrevolution.html [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2024].
21. Vgl. https://t1p.de/8jjna [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2024].
22. Vgl. Andrew McDonald, „Trump’s VP pick J.D. Vance called U.K. ‘Islamist country’“, Politico, 16. Juli 2024, https://www.politico.eu/article/donald-trump-pick-jd-vance-vice-president-republican-party-uk-islamist-country/ [zuletzt aufgerufen am 26. Oktober 2024).
23. Gerber, „Die Antideutschen. Ein Nachruf“, 72–75.
24. Robert B. Pippin, „Critical Inquiry and Critical Theory: A Short History of Nonbeing“, Critical Inquiry 30/2 (Winter 2004): 427f. Online abrufbar unter: https://www.academia.edu/2223948/Critical_Inquiry_and_Critical_Theory_A_Short_History_of_Nonbeing.
25. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, „Diskussion über Theorie und Praxis“, in Max Horkheimer. Gesammelte Schriften, Band 13 (Frankfurt am Main, Suhrkamp,1988), 46.
26. Initiative Sozialistisches Forum, „Die Vernunft in der Geschichte. 150 Jahre Kommunistisches Manifest“, in Flugschriften gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten (Freiburg: ça ira, 2001), 117–126. Online abrufbar unter: https://www.ca-ira.net/verein/jourfixe/jf-1998-1_vernunft-geschichte/.