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Die Linke ist tot! Es lebe die Linke!

Die Wechselfälle des historischen Bewusstseins und Möglichkeiten emanzipatorischer Politik heute

Platypus Review #33 | September/Oktober 2024

von Chris Cutrone

[English] [Ελληνικό]

„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“

Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon (1852)

„Der Theoretiker, der heute in praktische Kontroversen eingreift, erfährt regelmäßig und beschämend, dass, was er an Gedanken etwa beizubringen hat, längst gesagt ward und meist besser beim ersten Mal.“

Theodor W. Adorno, Sexualtabus und Recht heute (1963)

Lenin zufolge bestand der bedeutendste Beitrag der deutschen radikalen Marxistin Rosa Luxemburg (1871–1919) zum Kampf für den Sozialismus in ihrer Feststellung, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 zu einem „stinkenden Leichnam“ geworden sei. Das schrieb Lenin im Jahr 1922 über Luxemburg, am Ende einer Epoche, die aus Krieg, Revolution, Konterrevolution und Reaktion bestanden hatte und in der Luxemburg ermordet wurde. Lenin bemerkte, dass man sich Luxemburgs wegen ihrer scharfsinnigen Kritik in einem entscheidenden Krisenmoment jener Bewegung erinnern würde, der sie ihr Leben verschrieben und schließlich geopfert hatte – stattdessen erinnert man sich Luxemburgs heute ironischerweise wegen ihrer gelegentlichen Kritik an Lenin und den Bolschewiki!

Aus dieser Geschichte lassen sich zwei Lehren ziehen: dass die Linke aufgrund der angehäuften Trümmer ihrer zwischenzeitlichen Niederlagen und Misserfolge unter einer sehr partiellen und verzerrten Erinnerung an ihre eigene Geschichte leidet; und dass in entscheidenden Momenten das beste Werk der Linken ihre eigene Kritik ist, motiviert durch den Versuch, dieser Geschichte und ihren Auswirkungen zu entkommen. Zu bestimmten Zeiten ist der notwendigste Beitrag, den man leisten kann, die Linke für tot zu erklären.

Deswegen verkündet Platypus für unsere Zeit die Losung: „Die Linke ist tot! – Es lebe die Linke!“ – Wir sagen dies, damit die zukünftige Möglichkeit einer Linken leben kann.

Platypus nahm im Dezember 2004 seinen Anfang als Projekt einer internationalen Zeitschrift für kritische Literatur und emanzipatorische Politik. Das Projekt wurde von einer Gruppe Studenten des Professors Moishe Postone an der University of Chicago initiiert, der Marx‘ reife kritische Theorie der Grundrisse und des Kapitals studierte und über sie schrieb, um die Vorstellungskraft für eine postkapitalistische Gesellschaft seit den 1960er Jahren offen zu halten.

Platypus entwickelte sich und mündete im Frühjahr 2006 in einen Lesekreis unserer Studenten, die daran interessiert waren, ihr Verständnis der marxschen kritischen Theorie zu vertiefen. Die Platypus Affiliated Society ist eine vor Kurzem (im Dezember 2006) gegründete politische Organisation, die die Möglichkeiten zur Wiederherstellung einer marxschen Linken nach dem Niedergang der historischen marxistischen Linken untersuchen will.

Wir haben uns nach dem Schnabeltier (engl.: Platypus) benannt, welches zum Zeitpunkt seiner zoologischen Entdeckung darunter litt, dass es von der vorherrschenden Wissenschaft nicht klassifiziert werden konnte. Wir denken, dass eine authentische emanzipatorische Linke heute unter einem vergleichbaren Problem der Erkennbarkeit – oder besser der Verkennung – leiden würde, zum Teil, weil die Aufgaben und das Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation zerfallen sind und daher für uns nur noch als Fragmente und Splitter existieren.

Wir sind von anfänglich etwa einem Dutzend Studenten und Dozenten auf über dreißig Studenten, Dozenten und weitere Mitglieder aus dem Großraum Chicago und darüber hinaus gewachsen (zum Beispiel durch Mitglieder in New York und Toronto).

Wir haben mit verschiedenen anderen linken Gruppen in Chicago und darüber hinaus zusammengearbeitet, zum Beispiel in Form eines Workshops über die irakische Linke im Rahmen der Konferenz des New SDS zur Irak-Besatzung in Chicago im Februar. Im Januar veranstalteten wir in Chicago die erste einer Reihe von Platypus-Podiumsdiskussionen zum Thema „Imperialismus“ und die Linke, an der Kevin Anderson von News and Letters (Marxist Humanists), Nick Kreitman von den kürzlich wiedergegründeten Students for a Democratic Society, Danny Postel von OpenDemocracy.net und Adam Turl von der International Socialist Organization teilnahmen.

Wir haben unsere kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Linken organisiert, um dabei zu helfen, emanzipatorische Möglichkeiten in einer Gegenwart zu erkennen, die von der Geschichte der Niederlagen und des Scheiterns der Linken bestimmt ist. Als Suchende im Nachgang eines hochproblematischen Erbes, von dem wir durch eine unzweifelhafte historische Distanz getrennt sind, widmen wir uns der Geschichte des Denkens und Handelns der Linken – aus der wir lernen müssen – bewusst undogmatisch und nehmen nichts als gegeben hin.

Warum Marx? Warum jetzt? Wir betrachten das marxsche Denken als Mittelpunkt und vitalen Lebensnerv der fundamentalen Kritik einer modernen Welt, in welcher wir immer noch leben und die zu Marx’ Zeit mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts entstand. Wir beschäftigen uns mit dem Denken von Marx unter Bezugnahme sowohl auf die ihm vorangegangene Geschichte der kritischen Theorie, einschließlich der Philosophie von Kant und Hegel, als auch im Hinblick auf die Arbeit derjenigen, die später inspiriert wurden, Marx in der Kritik der Moderne zu folgen, also vor allem Georg Lukács, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Platypus setzt sich deswegen für ein Wiederaufgreifen der gesamten kritischen Theorietradition des 19. und 20. Jahrhunderts ein. Wie Leszek Kołakowski (in seinem Essay „Der Sinn des Begriffes ‚Linken‘“ von 1968) es formulierte, muss die Linke ideologisch und nicht soziologisch definiert werden; das Denken, nicht die Gesellschaft, ist in rechts und links geteilt: Die Linke wird durch ihren Utopismus definiert, die Rechte durch ihren Opportunismus. – Oder, wie Robert Pippin es formuliert hat: Das Problem der kritischen Theorie heute ist, dass sie nicht kritisch ist (Critical Inquiry, 2003).

Platypus hat sich der Wiederöffnung verschiedener historischer Fragen der Linken verschrieben, um diese Geschichte „gegen den Strich“ zu lesen (wie Benjamin es in seinen 1940 verfassten „Thesen zur Geschichtsphilosophie“ formulierte), und versucht, vergangene Momente der Niederlage und des Scheiterns der Linken nicht als gegeben hinzunehmen, sondern vielmehr in ihrem unerfüllten Potenzial zu erfassen. Dabei betrachten wir die Gegenwart nicht als Produkt historischer Notwendigkeit, sondern als das, was geschah und nicht hätte geschehen müssen. Wir mühen uns an der Erblast von mindestens zwei vorangegangenen Generationen problematischen Handelns und Denkens auf der Linken ab: den 1920er und 1930er sowie den 1960er und 1970er Jahren. Noch direkter leiden wir unter den Auswirkungen der Entpolitisierung – also der bewussten „postmodernen“ Abkehr von jeglichen „großen Erzählungen“ der gesellschaftlichen Emanzipation – der Linken in den 1980er und 1990er Jahren.

Aber die „Tradition“ der „toten Geschlechter“, die als „Alp“ am schwersten auf unseren Köpfen „lastet“, ist doch die Neue Linke der 1960er Jahre, insbesondere hinsichtlich ihrer Geschichte des Antibolschewismus – ausgedrückt sowohl durch die sich ergänzenden schlechten Alternativen eines stalinophoben Antikommunismus (im Liberalismus des Kalten Krieges und der Sozialdemokratie) als auch durch die stalinophile „Militanz“ (z. B. im Maoismus, Guevarismus etc.) –, welche zur Naturalisierung des Zerfalls der Linken hin zu Resignation und Selbstaufgabe führte, was seinen Ursprung in der unzureichenden Antwort der „Neuen Linken“ der 1960er Jahre auf die Probleme der „Alten Linken“ nach den 1920er und 1930er Jahren hatte. Unserer Einschätzung nach blieb die Neue Linke der 1960er Jahre dem Stalinismus verhaftet, einschließlich dessen Lüge, dass Lenin zu Stalin führte – zum großen Schaden der Möglichkeiten emanzipatorischer Politik bis heute.

Indem wir versuchen, diese Geschichte des beschleunigten Niedergangs und der Selbstauflösung der Linken nach den 1960er Jahren „gegen den Strich“ zu lesen, stehen wir vor einem Problem, das Nietzsche in seinem Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1873) erörterte:

[Der Mensch] muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können. […] Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, daß sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. […]Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt […]1

Karl Korsch jedoch schrieb in „Marxismus und Philosophie“ (1923) von der „Menschheit im ganzen“,

daß sie sich ‚immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind‘ [,wie Marx im Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie schrieb.] Und hieran ändert sich auch dadurch nichts, daß die für die nunmehrigen Verhältnisse transzendente Aufgabe in einer früheren Epoche theoretisch schon einmal formuliert gewesen ist.2

Schließlich schrieb Adorno in der „Negativen Dialektik“ (1966):

Die Liquidation der Theorie durch Dogmatisierung und Denkverbot trug zur schlechten Praxis bei; […] Das Verhältnis beider Momente [von Theorie und Praxis] zueinander ist nicht ein für allemal entschieden, sondern wechselt geschichtlich. […] Wer Theorie anachronistisch schilt, gehorcht dem Topos, was als Vereiteltes weiter schmerzt, als Veraltetes abzutun. […] Daß die Geschichte über Positionen hinwegschritt, ehren nur die als Urteil über ihren Wahrheitsgehalt, denen Geschichte das Weltgericht heißt. Vielfach gibt das Abgetane, aber theoretisch nicht Absorbierte später seinen Wahrheitsgehalt erst frei. Er wird zur Schwäche der herrschenden Gesundheit; das lenkt in veränderten Situationen abermals darauf.3

Platypus beschäftigt sich mit der Erforschung der unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Aufgaben und dem Projekt der Wiederentstehung einer kritischen Linken mit emanzipatorischen gesellschaftlichen Absichten. Wir freuen uns darauf, einen kritischen, aber unverzichtbaren Beitrag zu einer möglichen „Rückkehr zu Marx“ bei der potenziellen Wiederbelebung der Linken in den kommenden Jahren zu leisten. Hierzu laden wir alle ein, die sich an diesem Projekt beteiligen und einen Beitrag dazu leisten wollen. |P

Chris Cutrone ist Gründungsmitglied und Leitender Pädagoge der Platypus Affiliated Society. Der vorliegende Text wurde ursprünglich in Platypus Review#1 (November 2007) veröffentlicht und ist im englischen Original online Abrufbar unter: https://platypus1917.org/2007/11/01/vicissitudes-of-historical-consciousness-and-possibilities-for-emancipatory-social-politics-today/. Der Text wurde von Platypus-Mitglied Johannes Hauber ins Deutsche übersetzt.


1. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Leipzig: E. W. Fritzsch, 1874), S. 32ff.

2. Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (Hannover: Offizin, 2017), S. 328.

3. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften VI(Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 2003), S. 146f.