Linke Perspektiven auf den Nahostkonflikt
Platypus Review #32 | Juli/August 2024
mit Jens Benicke, Nora Hasan, Fabian Lehr und Lars Quadfasel
Am 03.12.2023 veranstaltete die Platypus Affiliated Society eine virtuelle Podiumsdiskussion mit Nora Hasan (Podcast-Host „Rote Fahne in den Alpen“, Vorsitzende der Österreichischen Hochschüler_innenschaft an der Universität Wien), Lars Quadfasel (Hamburger Studienbibliothek), Fabian Lehr (ex-trotzkistischer Blogger und Youtuber) und Jens Benicke (Politikwissenschaftler und Autor).
Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=OGkf83h52MY vollständig angesehen werden kann.
BESCHREIBUNG
Wie sollte die Linke die gegenwärtige Krise im Nahen Osten, ihre Ursprünge und ihre historische Bedeutung verstehen? Welche positive oder negative Rolle hat die Linke bei der Gestaltung dieser Verhältnisse gespielt? Gibt es eine linke Alternative zur gegenwärtigen Eskalation des Blutvergießens? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht? Was sind die Ziele der Linken im Nahen Osten im weiteren Sinne? Wie verhalten sich diese zu den Aufgaben, vor denen die Linke hier steht? Kann eine Befreiung Palästinas erreicht werden? Wenn ja, auf welchem Weg?
EINGANGSSTATEMENTS
Nora Hasan: Die gestellten Fragen bilden einen zentralen Punkt der Ausrichtung einer Organisation und sind entscheidend dafür, ob Menschen aktiv werden und sich organisieren. Das war auch schon vor dem 7. Oktober der Fall.
Obwohl es eigentlich darum gehen sollte, gemeinsame Interessen zu finden, diese in den Vordergrund der Agitation zu stellen und sich mit den Widersprüchen der Geschichte im Sinne einer marxistischen Analyse auseinanderzusetzen, geht es nur noch um eine bürgerliche Geschichtsanalyse, deren Ziel es schon immer war, Feind:innen zu suchen.
Die gemeinsamen Interessen und die Analyse der Strukturen, die ihre Durchsetzung verhindern, werden dabei für die Agitation zweitrangig. Erstrangig werden die Fragen, wie etwas entstanden ist und wer Ansprüche stellen darf. Dabei tragen sie aber nichts zur Bewegung bei und hinterfragen oder kritisieren stattdessen Dinge, die nicht zur Debatte stehen, wie beispielsweise das Existenzrecht Israels. Über dieses zu debattieren ist etwas für Staatenlenker oder imperialistische Wunschdenker. Israel existiert nicht mehr oder weniger, weil ich es sage, sondern weil es seine eigene Existenz durch ein Gewaltmittel und seine Wirtschaftsleistung rechtfertigt. Es braucht keine Nora Hasan, die über irgendwelche Staaten hinweg entscheidet oder ihre Grenzen neu verlegt.
Wo bleibt die Frage nach unserer Rolle im Ganzen? Könnte es sein, dass sie schlichtweg unwichtig ist, weil unsere Analysen keinen Einfluss auf die Bewegungen vor Ort haben? In diesem Fall wäre das Einzige, was wir beitragen können, der Austausch sozialistischer Ideen sowie die Förderung einer weltweiten Arbeitsgemeinschaft, auf die es hinzuarbeiten gilt.
Unsere Analyse der Situation im Nahen Osten stimmt nicht. Und sie kann auch nie stimmen, wenn zunächst eine Abweichung vom Ideal, ein Missstand festgestellt und unmittelbar anschließend die Suche nach einem Schuldigen begonnen wird. Wer dabei niemals ins Visier gerät, ist man selbst. Als wäre man die Ausnahme von der Regel. Trotzdem flammen Konflikte immer wieder von Neuem auf, und die Politik reagiert mit entsprechenden Maßnahmen. Da muss doch jemand auf die Idee kommen, dass es vielleicht gar nicht der Zweck dieses blöden Gemeinwesens ist, das Anliegen der Linken zu erfüllen. Viel näher liegt doch der Schluss, dass jene Katastrophen und Kriege nur das Resultat sind, wenn die Gewaltfrage höchster Ordnung – territoriale Neuverlegung der Herrschaft über Land und Leute – wieder einmal ansteht.
Außerdem unterliegt die Lebensrealität vor Ort den Umständen des Kapitalismus. Die gesamte linke Agitation, die eigentlich die Verhältnisse ändern will, hängt sich an dieser Frage auf. Aber wer profitiert am Ende? Der Staat. Denn nichts ist praktischer als eine Linke, die sich durch unterschiedliche Kritik auf die Seite unterschiedlicher Staaten stellt und dadurch spaltet. Und das, während rechte Kapitalismuskritik, also antisemitische Verschwörungserzählungen, und die Überausbeutung marginalisierter Gruppen aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken sind.
Mein Rückschluss aus dem Gesagten ist, dass Interessen wieder im Vordergrund stehen müssen. Es gibt so viele Interessenvertretungen, politische Organisationen, die sich seit Jahren mit dem Kampf gegen Diskriminierung auseinandersetzen. Wir haben es aber nie geschafft, durch Safer Spaces, seien es jüdische, schwarze, muslimische oder Trans, die Probleme und die Analyse der dahinterstehenden Unterdrückung zusammenzuführen. Anstatt die Kritik am System gemeinsam zu gestalten, ist jede Gruppe mit ihren Struggles beschäftigt und die anderen sieht man dann am 1. Mai auf der Straße. Die aus den Safer Spaces hervorgehende Kritik am System animiert nicht zu einem gemeinsamen Kampf gegen Überausbeutung und Unterdrückung, sondern schließt andere aus. So werden beispielsweise jüdische Stimmen nicht als migrantisch oder schwarz gelesen und daraus folgt, dass Diskriminierungsformen gegeneinander ausgespielt werden, obwohl alle Seiten bereits eine Kritik für ihre Form der Unterdrückung gefunden haben. Aber was ist denn die Rolle von Safer Spaces? Natürlich ist die Analyse der Historie wichtig und sollte in der Agitation berücksichtigt werden, aber sie kann niemals alleine ausschlaggebend sein, denn auch sie ist dem System, in dem wir leben, inhärent.
Als Pädagogin möchte ich auch noch den Aspekt der vierten Gewalt einbeziehen. Die Bilder und Videos, mit denen wir uns aktuell auseinandersetzen, ändern die Art, wie wir Kritik ausüben. Medien profitieren aktuell im höchsten Grad davon, dass wir immer und überall unsere Informationen aus Social Media beziehen. Wir nutzen die Medien, ohne zu reflektieren, dass sie in Wahrheit Instrumente des Kapitalismus sind und die kritische Frage, warum diese Instrumente die Bewusstseinswerdung hemmen, bleibt oft unbeantwortet. Das Unterlassen des Nachdenkens über diese Ursache verhindert sodann, dass wir drei Schritte weiterdenken, da wir uns mit einer Schuldfrage für den nächsten Schritt auseinandersetzen. Es wird Zeit, dass wir diese Ängste überwinden und das Licht der Analyse auf diese dunklen Ecken unserer Denkmuster werfen. Ich glaube, dass wir nur so die Grundlage für eine emanzipierte Gesellschaft erreichen können.
Die vierte Gewalt legt uns eine Maske auf, wie Frantz Fanon das beschrieben hat. Die kapitalistische Abhängigkeit suggeriert uns, dass jenes System, das uns gegenübertritt, natürlich sei. Weil es keine Bewusstseinsbildung unserer Selbstentfremdung gibt, auch weil sie vom Staat untersagt wird, kommt es zur Formulierung liberaler Forderungen, die jenen Umstand gar nicht kritisieren wollen. Wir dürfen in unserer Diskussion über linke Agitation und gesellschaftliche Veränderung nicht vergessen, dass Konzepte, wie die von Adornos Erziehung zur Mündigkeit, eine leidenschaftliche Aufforderung sind, um Analysen mit konkreten Aktionen zu verbinden. Wir müssen uns von oberflächlichen Geschichtsanalysen und bürgerlichen Kritiken lösen und uns stattdessen auf gemeinsame Interessen konzentrieren, um unsere Bewegung voranzutreiben. Das soll uns ermutigen, über nationale Grenzen hinweg zu denken und eine solidarische Front gegen die bestehenden Strukturen zu formieren. Bildung soll nicht nur theoretisch, sondern durch eingehende Auseinandersetzung mit der Lebensrealität vor Ort stattfinden. In unserer Podiumsdiskussion müssen wir eben ein Erbe, wie das von Adorno, aufgreifen und eine kämpferische Vision für die Linke skizzieren, um zu handeln – um Mündigkeit und Solidarität auch Taten folgen zu lassen. Unsere Bewegung hat das Potenzial, diese Welt zu gestalten, wenn wir den Mut haben tiefer zu gehen und uns vereint gegen bestehende Strukturen zu erheben.
Lars Quadfasel: Das Massaker vom 7. Oktober war ein historischer Einschnitt. Nach dem größten antisemitischen Pogrom nach 1945 kann nichts mehr so sein wie zuvor. Danach lässt sich die beliebte Erzählung „Hier die jüdisch-israelischen Unterdrücker, dort die unterdrückten, palästinensischen Opfer, die um nichts als ihre Bürgerrechte und Würde kämpfen“ notfalls noch bebildern. Wer aber nach dem gezielten Abschlachten von Kindern, Alten, Tänzerinnen und Tänzern in der Wüste immer noch von Widerstand und resistance spricht, muss das auch wirklich wollen und jedes Gefühl von Sittlichkeit und Humanität in sich abtöten. Von den Leuten, die denen zujubeln, die die entführten Frauen im Gaza-Streifen einer enthemmten Masse als Beute vorführen, um sie zu demütigen, möchte nicht nur ich nichts mehr von Emanzipation hören, sie selber werden es auch nicht mehr hören wollen. Man kann nur eins haben: Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und Schwulen, oder Verbrüderung mit der Hamas.
Aber das Massaker ist auch für Israel ein Einschnitt. Trotz des aktuellen Burgfriedens, wie in Kriegszeiten üblich, und in Israel umso mehr, ist es klar, dass die Ära Netanjahu und seine Regierungskoalition am Ende sind – so wie 50 Jahre zuvor der Jom-Kippur-Krieg 1973 das Ende des Arbeiterzionismus bedeutet hat. Diese Regierung wird das komplette Versagen der israelischen Sicherheitsbehörden und ihre jahrelange Politik gegenüber der Hamas mit ziemlicher Sicherheit nicht überleben. Sie ließ die Hamas gewähren, stärkte sie sogar gegen die Fatah im Westjordanland im Sinne des divide et impera.
Was danach kommt, das weiß eigentlich niemand und man kann nur hoffen, dass etwas danach kommt. Der Staat Israel steckt in einer fürchterlichen Falle. Kein Staat der Welt könnte ein Massaker wie jenes vom 7. Oktober hinnehmen, ohne zurückzuschlagen. Erst recht, wenn die antisemitischen Mörder jedes Zögern, jede Zurückhaltung als Schwäche auslegen. Aber zugleich gibt es keine wirkliche militärische Option für das, was eigentlich anstünde, die komplette Entwaffnung und Zerschlagung der Hamas als organisierte Antifa-Aktion, die nicht massenhaft unschuldige Tote produzieren würde. Die Hamas verheizt die Bevölkerung allzu willig, um die Bilder zu produzieren, die sie für ihren PR-Krieg gegen Israel benötigt.
In einer derart hoffnungslosen Lage hier online über die Ziele der Linken im Nahen Osten zu reden, über die Befreiung Palästinas, was auch immer das sein soll, scheint mir einigermaßen weltlos, wenn nicht gar irrsinnig. Das ist natürlich kein subjektives Versagen, sondern die Folge einer Lage, die einen auch nur irrsinnig machen kann. Aber wenn man zumindest ein bisschen bei Verstand bleiben möchte, dann darf man die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus nicht ausblenden. Denn das ist genau, was in allen möglichen linken Analysen trotz aller Lippenbekenntnisse immer wieder passiert. Der Antisemitismus passt schließlich nie wirklich in die beliebten Schemata: nicht ins antikapitalistische Schema, weil die Jüdinnen und Juden nie einfach nur die ausgebeuteten armen Schlucker waren, sondern immer auch mit Geld und Geist assoziiert wurden; auch nicht ins antirassistische Schema, in welchem die israelischen Jüdinnen und Juden weiß sind und die Braunen unterdrücken. Israel ist, bei allem anderen was es auch ist, die einzige Antwort, die die Welt jemals auf Auschwitz zugelassen hat.
Der Antisemitismus ist immer die Erinnerung daran, dass der Kapitalismus und das Kapitalverhältnis noch Schlimmeres hervorbringt als sich selbst. Dies zu leugnen, gehört seit jeher zur Geschäftsgrundlage dessen, was man gelernt hat, als palästinensischen Widerstand oder arabischen Widerstand zu bezeichnen: vom Antizionismus des Großmuftis Husseini, dem guten Hitler-Freund, über die arabische Drohung, die Juden ins Meer zu treiben, die Hamas-Charta, die die „Protokolle der Weisen von Zion“ zitiert, bis zu Mahmud Abbas, dem Chef der Fatah im Westjordanland, der in seiner Dissertation noch den Holocaust geleugnet hat.
Ich teile Fabian Lehrs Wunsch nach einem palästinensischen Befreiungskampf, vor dem sich kein jüdischer Israeli fürchten muss. Aber so etwas hat es geschichtlich nie gegeben und wenn es ihn einmal geben wird, wird er ganz anders sein als das, was heute palästinensischer Befreiungskampf genannt wird. Darüber, dass es den nicht gibt, kann man einigermaßen verzweifelt sein, aber mit einem Wort von Christian Grabbe, das Adorno gerne zitiert hat: „Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.“
Fabian Lehr: Der Nahostkonflikt hat in der deutschsprachigen Linken eine überragende Bedeutung, obwohl dieser regionale Konflikt weit von der Alltagsrealität der Menschen entfernt ist. Er ist eine Projektionsfläche, um sich innenpolitisch und innerhalb der Linken abzugrenzen. Das hat sich durch den aktuellen Gaza-Krieg potenziert und geht weit über die Linke hinaus. Die meisten Stellungnahmen zum 7. Oktober und zum israelischen Gegenschlag sind keine nüchternen Analysen, sondern sollen innenpolitische Kontrahenten innerhalb Deutschlands und Österreichs durch zugespitzte Positionen angreifen und provozieren. Die antiimperialistische und pro-palästinensische Linke grenzt sich durch den Nahostkonflikt offensiv von der antideutschen und ideologiekritischen Linken und dem liberalkonservativen Mainstream ab, für den die Solidarität mit dem israelischen Staat aktuell Staatsräson ist. Für die antideutsche Seite ist der Konflikt eine Projektionsfläche, um die antiimperialistisch orientierte Linke als regressiv zu diffamieren. Dazu wird der Nahostkonflikt von den großen Parteien in Deutschland und Österreich für eine rassistische und anti-muslimische Abschiebungsstimmung missbraucht. In Deutschland und Österreich nutzen die großen Parteien, Boulevard-Medien und gesellschaftliche Institutionen die Demonstrationen als Vorwand, um Abschiebungen und einen Zuwanderungsstopp zu fordern. Das alles hat sehr wenig mit der Situation vor Ort zu tun.
Es handelt sich beim Nahostkonflikt und insbesondere beim jetzigen Gaza-Krieg um einen Kolonialkrieg. Diesen Begriff benutze ich nicht in polemisierender Absicht, sondern als Tatsachenbeschreibung, aus der keine moralische Wertung folgt. Daraus folgt nicht, dass der Widerstand der Hamas einen progressiven Charakter hätte und daraus ergibt sich eben die Problematik und Ratlosigkeit dieser Situation. Es ist ein Kolonialkonflikt, in dem es keine progressive Kampfpartei gibt und der Widerstand von einer zutiefst reaktionären politischen Kraft angeführt wird. Es ist keine Situation wie im algerischen Befreiungskrieg, wie im Indochinakrieg gegen Frankreich oder später im Vietnamkrieg gegen die USA. Der antikoloniale Kampf wird nicht, wie in zahllosen afrikanischen Befreiungskämpfen des mittleren 20. Jahrhunderts, von einer progressiven oder sogar sozialistisch orientierten Kraft angeführt.
Es hat in Palästina die Chance einer Dominanz säkularer und linker Kräfte im palästinensischen Widerstand gegeben, aber die ist spätestens in den 90er-Jahren verspielt worden. Die Korrumpierung der Fatah durch die Kooperation mit dem israelischen Staat und die völlige Erfolglosigkeit dieses Ansatzes haben zu einem Aufschwung des Islamismus und zum Aufstieg der Hamas in Palästina geführt. Die Hamas war glaubwürdiger als die alten diskreditierten säkularen, eher linksorientierten Widerstandskräfte. Der reaktionäre Charakter der Hamas bedingt aber auch, dass dieser Konflikt sich perpetuiert und nicht wirklich aufgelöst werden kann. Der israelische Staat und insbesondere die radikale Rechte stehen in einem quasi symbiotischen Verhältnis zur Hamas. Sie brauchen die Hamas als einen permanenten Konfliktpunkt, um ihr Programm des Hypermilitarismus und die Konstruktion eines nationalen Burgfriedens, in Abgrenzung vom äußeren arabischen Feind, zu konstruieren. Wenn in ganz Palästina eine an friedlicher Kooperation ausgerichtete, linksorientierte Kraft an der Macht wäre, wäre das für die israelische radikale Rechte eine Katastrophe. In einem solchen Szenario könnte man die Notwendigkeit der permanenten Militarisierung Israels, des Baus von Grenzanlagen und den Siedlungsbau im Westjordanland kaum aufrechterhalten. Netanjahu hat noch ein paar Monate vor dem 7. Oktober in einer internen Kabinettssitzung dargelegt, dass die Hamas im Gazastreifen erhalten werden müsse, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Deswegen kooperierte er auch jahrelang mit der Hamas. Andererseits braucht die Hamas regelmäßige Gewaltakte des israelischen Staates gegen den Gazastreifen.
Die Hamas zieht ihre Legitimation innerhalb Palästinas daraus, dass sie sich als die radikalere Kraft des Widerstandes im Kolonialkrieg präsentieren kann. Wenn der israelische Staat keine regelmäßigen Luftschläge gegen Gaza durchführen und regelmäßige Verschlimmerung der Lebensbedingungen in Gaza erwirken würde, dann würden die Palästinenser aus ihrer inneren Verzweiflung nicht die Hamas unterstützen. Das heißt, sowohl die radikale Rechte, als auch die Hamas brauchen die regelmäßige Eskalation und haben kein Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konflikts. Auch das hat die Hamas-Führung mittlerweile relativ explizit klargestellt. Ein Mitglied des Zentralkomitees der Hamas und ein Medienberater der Hamas sagten in Interviews, dass ihr die mittelfristigen Lebensbedingungen in Gaza relativ egal sind und dass sie mit dem 7. Oktober einen massiven Gegenschlag provozieren wollte. Die Hamas will einen langanhaltenden größeren Krieg provozieren, in dem die palästinensische Öffentlichkeit fester hinter ihr zusammengeschweißt wird. Ihre Popularität im Westjordanland legt mittlerweile deutlich zu. Außerdem soll sich die gesamte arabische Öffentlichkeit als Reaktion auf die Intensität des israelischen Gegenschlages auf die Seite der Hamas stellen. Das ist eine Spirale, aus der schwer ein Ausweg zu sehen ist, da weder die Hamas noch der israelische Staat tatsächlich ein Interesse an einer dauerhaften Beilegung dieses Konflikts haben.
Wenn wir jetzt fragen, was wir als Linke in diesem Konflikt tun können, muss man sich zunächst einmal die banale Realität vor Augen halten, dass wir auf diesen aktuellen Krieg keinen Einfluss haben werden. Weder der israelische Staat noch die Hamas-Führung, noch irgendeine bewaffnete palästinensische Formation interessieren sich dafür, was deutsche, österreichische oder europäische Linke zu diesem Konflikt zu sagen haben. Wir werden auch kurzfristig kein solches Mobilisierungspotenzial haben, dass wir die Politik der europäischen Staaten in Bezug auf den Nahostkonflikt beeinflussen könnten. Unsere Aufgabe besteht einerseits darin, analytische Klarheit über den Charakter dieses Konflikts zu erlangen, andererseits auf die öffentliche Meinung über diesen Krieg innerhalb der europäischen Staaten einzuwirken: Solidarisierung mit der israelischen Linken gegen die regierende israelische radikale Rechte und Solidarisierung mit dem Grundanliegen des palästinensischen Befreiungskampfes bei gleichzeitiger Distanz von der reaktionären Führung der Hamas.
Jens Benicke: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche Linke im Großen und Ganzen pro-israelisch ausgerichtet. Sie zeigte große Begeisterung für Israel und argumentierte, dass dort jetzt erst eine Aufbauleistung stattfindet. Selbst die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hat damals noch die Position der Sowjetunion und der Ostblockstaaten getragen, die auch Israel unterstützt haben. Man denke an die Waffenlieferungen der Tschechoslowakei an Israel oder an die Zustimmung zur Gründung Israels. Die KPD verließ als erstes diesen Konsens, ihren Vorbildern im Osten folgend, die sich auf die Seite der arabischen Staaten stellten. Das blieb aber erstmal eine Ausnahme. Restliche Fraktionen der Linken forderten diplomatische Beziehungen mit Israel und Wiedergutmachungsleistungen, denn die Adenauer-Regierung hatte keine offizielle diplomatische Beziehung zu Israel, was der sogenannten Hallstein-Doktrin geschuldet war, die besagte, dass die Bundesrepublik Deutschland (BRD) keine diplomatischen Beziehungen zu Ländern haben dürfe, die die Deutsche Demokratische Republik (DDR) anerkannten. Aus Angst, dass die arabischen Staaten die DDR anerkennen, wenn die BRD Israel anerkennt, verweigertedie Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel. Die Positionierung für Israel in der frühen Bundesrepublik bis in die 1960er-Jahre hatte also einen, dem Selbstverständnis angemessenen, system-oppositionellen Charakter. Zudem setzte sich die antiautoritäre und die studentische Linke, wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), mit der NS-Vergangenheit und dem Antisemitismus auseinander. Mitte der 1960er-Jahre wurden die Deutsch-Israelischen Studiengruppen (DIS) gegründet, die als Israel-politische Arbeitskreise des SDS bezeichnet wurden.
1965 nahm die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zu Israel auf und kurz darauf ereignete sich jener Umbruch, an dem die deutsche Linke ihre Kehrtwende vollzog: der Sechstagekrieg von 1967. In diesem Krieg stellte sich die deutsche Regierung auf die Seite Israels. Deutsche Medien, allen voran die Springerpresse, feierten den Sieg Israels. Zugleich radikalisierte sich die Protestbewegung. Es bildete sich ein antiimperialistisches Weltbild heraus, in das Israel als Aggressor und die palästinensische Bevölkerung als die Unterdrückten gepresst wurden. Der Verlust des system-oppositionellen Aspekts und das antiimperialistische Weltbild führten zu einem Umschwung innerhalb großer Teile der Linken.
Es wurden Aktionen des SDS, wie die Störung eines Vortrags des israelischen Botschafters in Deutschland oder die Reise einer Mitgliedergruppe nach Jordanien auf Einladung der Al-Fatah und der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), bekannt. In der Studierendenbewegung formierten sich zahlreiche propalästinensische Komitees und die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit, dem Antisemitismus und antiautoritären Positionen, geriet in den Hintergrund. Ein Anschlag am 9. November 1969 auf das Jüdische Gemeindehaus in Westberlin scheiterte, weil der Brandsatz nicht zündete. Die Gruppe Schwarze Ratten Tupamaros West-Berlin übernahm die Verantwortung für den Anschlag und sprach in ihrem Bekennerschreiben von einem „Judenknacks“, der überwunden werden solle, um sich an die Seite der kämpfenden Palästinenser zu stellen. Nach dieser extremen Kehrtwende waren die Studierendenbewegung und ihre neu entstehenden Fraktionen allesamt propalästinensisch eingestellt – von den K-Gruppen, über den bewaffneten Kampf, die Spontis, die Deutsche Kommunistische Partei bis hin zu den Trotzkisten.
Insbesondere Gruppen des bewaffneten Kampfes stellten sich auf die Seite des palästinensischen Kampfes, pflegten enge Verbindungen zu palästinensischen Gruppen, wurden in Lagern vor Ort ausgebildet und führten gemeinsame Aktionen durch. Der Anschlag bei den Olympischen Spielen in München wurde von der Roten Armee Fraktion (RAF) begeistert gefeiert. Auch bei der Geiselnahme in Entebbe transformierte sich der Antizionismus in Antisemitismus. Zwei deutsche Terroristen der Revolutionären Zellen entführten gemeinsam mit palästinensischen Kämpfern ein Flugzeug, aus dem sie nach der Landung in Entebbe alle Geiseln außer israelische und jüdische Geiseln freiließen. Diese Aktion führte zunächst nur zu verhaltener Kritik. In den 1980er-Jahren wurden diese wirklich einseitigen, immer wieder antisemitischen Positionen innerhalb der deutschen Linken kritisiert, wobei das Sozialistische Büro (SB) eine wichtige Rolle spielte. Auch der aus den K-Gruppen hervorgegangene Kommunistische Bund (KB) übte Kritik und spätestens in den 1990er-Jahren entstand aus diesen Strömungen eine explizit antinationale, antideutsche Linke, die die Diskussionen fortlaufend prägte. Die 1990er- und 2000er-Jahre waren sodann von einer antideutschen und einer antiimperialistischen Linken, zwei Extremen, die sich gegenseitig aufschaukelten und Zwischenpositionen schwer vernehmbar machten, geprägt. Seitdem hat sich nicht mehr viel verändert.
ANTWORTRUNDE
NH: Das, was ich in meinem Eingangsstatement ausführte, hat sich nun sehr schön gezeigt. Bei den Fragen für diese Podiumsdiskussion ging es darum, wie die Linke aktuell mit dem Nahostkonflikt umgeht: Was sind Strategien und Kritiken, mit denen wir uns daraus emanzipieren können? Das ist jetzt untergegangen. Es ist überhaupt nicht auf die Frage eingegangen worden, inwiefern wir den Diskurs lenken oder verwenden könnten, um Emanzipation oder linke Bewusstseinsbildung zu vollziehen. Mir fiel eher eine Hyperfixierung auf die Thematik auf, die uns so nicht weiterbringen wird, im Gegenteil.
Fabian, wenn nach einem Anschlag nach Solidarität gesucht wird, würde ich Menschen nicht unterstellen, dass sie sich positionieren, um „edgy“ Statements zu veröffentlichen. Es geht dabei darum, wie Traumata im Rahmen der Identifikation mit gewissen Unterdrückungsformen verarbeitet werden. Wir müssen diese Umgangsart daher in die Kritik miteinbeziehen. Auch die Unterscheidung zwischen Staat und Regierung war in der Argumentation etwas verschwommen. Diese Trennung ist notwendig, um nicht bei einer Kritik zu landen, die wir nicht brauchen, etwa Israel das Existenzrecht abzusprechen.
LQ: Jens hatte gesagt, der große Wendepunkt war 1967, doch eigentlich war das 1969. 1967 versuchten die meisten SDS-Linken, sich herauszuhalten und Ulrike Meinhof veröffentlichte in der Konkret den Artikel „Drei Freunde Israels“ über die Linke als einzig wahren Freund Israels. Der Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus und die Abrechnung mit dem „Judenknacks“ der Linken von Kunzelmann und Co. kamen erst ab 1969. 1967 war ein riesiger militärischer Erfolg Israels, aber ab 1969 übten palästinensische Freischärler um die Palästinensische Befreiungsorganisation ihre ersten erfolgreichen Attentate, die die Hoffnung aufkommen ließen: Mit denen kämpfen heißt siegen. Die Vorstellung, mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), DFLP etc. auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, mit dem Strom der Geschichte zum angestrebten Erfolg – der Vernichtung Israels – zu schwimmen, ist hier entscheidend.
Dass die säkulare Linke in den 1970er- und 1980er-Jahren den palästinensischen Widerstand dominierte, stimmt möglicherweise, spricht aber nicht für diese säkulare Linke, denn die gezielte Ermordung von Kindergartenkindern, die Flugzeugentführung mit Selektionen, haben nicht reaktionäre Islamisten, sondern Organisationen wie DFLP und PFLP, sogenannte säkulare, progressive Linke verübt.
In Verbindung damit der dritte Punkt: Es stimmt in einer Hinsicht nicht, dass Linke keinen Einfluss auf das Geschehen im Nahen Osten haben. Sie sind Lautsprecher und Propagandisten für das ungefähr schlimmste, das gerade zur Auswahl steht. Dieser Jargon kann vielleicht nicht mehr antiimperialistisch genannt werden, sondern orientiert sich an den Neuen Sozialen Bewegungen. Das könnte man Antizionismus mit menschlichem Antlitz nennen. Der ganze Menschen- und Völkerrechtsdiskurs war immer wichtig, um die reaktionärsten Kräfte in der westlichen Öffentlichkeit als das Gute, Wahre und Schöne zu präsentieren. Keine rechte Parteibewegung hätte das so hinbekommen wie die Leute mit dem besten Wissen und Gewissen.
Warum beschäftigt man sich eigentlich mit diesem winzigen Landstrich, dessen wenige Tote, im Weltmaßstab gesehen, kaum ins Gewicht fallen? Ich meine nicht, dass einem das egal sein kann, sondern dass es in anderen Gebieten der Welt noch viel böser zugeht. Ich habe versucht zu sagen, dass man es tut, weil in einer Welt, die gelernt hat, mit Auschwitz zu leben, es bei Israel immer um die Frage des Antisemitismus und der Konterrevolution geht. Kurz gesagt: Jeder Feind Israels ist ein Feind der Arbeiterklasse.
FL: Die Bedeutung der Zäsur von 1967 beziehungsweise 1969 ist zentral. Der Nahostkonflikt und die Diskussion über den israelischen Staat und seine weltweite Rolle haben durch den Krieg von 1967 und den überwältigenden israelischen Sieg einen vollkommen anderen Charakter angenommen. Tom Segev hat in seinem großartigen Buch 1967. Israels zweite Geburt über die Geschichte des Sechstagekrieges dargelegt, dass der Sieg von 1967 für Israel und die israelische Bevölkerung ein schreckliches Unglück war. Seitdem wird dieser Konflikt nicht nur perpetuiert, sondern alle paar Jahre wieder heiß.
Der israelische Staat bis 1967 war das Resultat einer extrem blutigen Auseinandersetzung von 1948, die mit beidseitigen Massakern, mit einer großen ethnischen Säuberung einherging, aber der israelische Staat hatte nach 1948 einen mehr oder weniger saturierten Charakter angenommen. Innerhalb Israels gab es eine arabische Minderheit, die anfangs starken und auch heute noch teilweise vorhandenen Diskriminierungen unterlag. Sie wurde aber zunehmend in den israelischen Staat integriert, indem sie die israelische Staatsbürgerschaft und einen normalen Zugang zum israelischen politischen und Justizsystem bekam. Natürlich gab es die Vertriebenen von 1948. Die Forderung nach einem Rückkehrrecht für Vertreibung von 1948 wäre aber für die internationale Linke heute kein relevantes Thema mehr in der Weltpolitik.
Der Nahostkonflikt ist heute ein Dauerthema, weil der israelische Staat durch den Krieg von 1967 zu einer Kolonialmacht wurde. Deshalb ist die Frage der Rolle des israelischen Staates im Nahostkonflikt nicht identisch mit der Frage nach dem Existenzrecht des israelischen Staates. Es geht um die veränderte Rolle des israelischen Staates seit 1967 und wie man diese beurteilt.
JB: In Israel oder Palästina wartet niemand auf die Ratschläge unserer vollkommen irrelevanten Fraktionen. In Deutschland und Österreich hat man eine absolute Zweiteilung, eine Schwarz-Weiß-Positionierung, ähnlich wie beim Krieg in der Ukraine. Neben denen, die auf der Straße für Palästina demonstrieren und in der Öffentlichkeit als der Hamas hinterherlaufend wahrgenommen werden und der anderen Position, die sich der deutschen Staatsräson verschreibt, ist eine eigenständige linke Position überhaupt nicht sichtbar. Parallel dazu ist beim Krieg in der Ukraine eine pro-westliche, pro-ukrainische oder eine pro-russische Position sichtbar, aber ebenfalls keine eigenständige linke Positionierung. Das ist wahrscheinlich Ausdruck der vollkommenen Schwäche der radikalen Linken in Deutschland. Dabei gäbe es, wie Fabian angesprochen hat, viel zu kritisieren: Der Krieg wird für eine rassistische Kampagne gegen das Asylrecht genutzt und Demonstrationsverbote werden durchgeführt, die in Zukunft auch für andere Themen genutzt werden können. Das würde eine explizit linke Positionierung herausfordern, die ich aber überhaupt nicht sehe.
FRAGERUNDE
An Fabian: Warum handelt es sich um einen antikolonialen Kampf? Wer ist der Kolonisator und wann hat diese Kolonisierung angefangen? An Nora: Was sagst du zur Perspektive der IMT (Der Funke)? Ich sehe da keine bürgerlichen Sichtweisen. An Lars: Was ist mit linken Gruppen in Palästina? Soviel ich weiß, gibt es die, wenn auch nicht mehr in so großem Umfang wie früher. Sind die auch antisemitisch?
NH: Stimmt, der Funke in Österreich hat keine bürgerliche, sicherlich aber eine antisemitische Kritik. Er feiert die Anschläge der Hamas und meint, dass daraus eine Befreiungsbewegung hervorgehen kann. Darüber kann man diskutieren, aber ich sehe das ganz anders. Islamistischer Terrorismus wird uns weder befreien, noch woanders hinbringen, ganz im Gegenteil.
LQ: Ich weiß nicht, was mit „linken Gruppen“ gemeint ist. DFLP und PFLP, die immer die ultralinken Hoffnungsträger sind, haben fürchterliche antisemitische Attentate mit fürchterlich antisemitischen Begründungen begangen. Insofern müsste man das konkreter sagen, denn in so einer Abstraktheit kann ich darauf nicht antworten.
Die Frage ist: Wie begründe ich, was ich tue und gegen was kämpfe ich? Solange nur ein Kampf gegen Israel und nicht in allererster Linie gegen den Hauptfeind im eigenen Land mit einer Perspektive auf Emanzipation stattfindet, kann ich jedenfalls nicht viel Hoffnungsvolles entdecken. Ich fände es schön, wenn es machtvolle, wirkungsvolle Gruppen gäbe, die gegen alles mögliche Böse, Falsche und auch gegen den Antisemitismus antreten – sodann auch gegen Siedler und eine furchtbare Regierungspolitik. Aber das ist nicht die historische Realität. Es geht wirklich nicht um subjektive Defekte oder um Leute, die alle Antisemiten seien, sondern um das, was bei Adorno und Horkheimer in der siebten These der Elemente des Antisemitismus stand: Aber es gibt keine Antisemiten mehr, weil sich der Antisemitismus verallgemeinert hat, weil er in die Gesellschaft eingegangen ist und jeder gezwungen ist, daran zu partizipieren.
FL: Ich datiere den Beginn des israelischen Kolonialismus gegenüber der Bevölkerung der annektierten Regionen, insbesondere des Westjordanlands, auf 1967. Im Gazastreifen hat sich der Charakter durch den Rückzug der israelischen Armee 2005 grundlegend gewandelt.
Das Westjordanland hatte nach der Annexion 1967 zunächst den Charakter einer klassischen ökonomischen Kolonie. Einerseits wurde der Import von arabischen Gütern der arabischen Nachbarländer weitgehend unterbunden und ein Monopolmarkt für die israelischen Konzerne geschaffen, die ihre Güter zu deutlich höheren Preisen als im israelischen Kerngebiet verkaufen konnten. Andererseits wurde das Westjordanland zu einem Reservoir von billigen Arbeitskräften, insbesondere in der Landwirtschaft und der Bauindustrie. In den 1970er- und 1980er-Jahren waren in den am schlechtesten bezahlten Branchen palästinensische Arbeiter:innen teilweise absolut dominierend. Die israelische Ökonomie dieser Zeit basierte auf der massiven Ausbeutung von Palästinenser:innen aus dem Westjordanland, die gleichzeitig keine politischen oder juristischen Rechte in Israel besaßen. Ein politisch rechtloses Proletariat, das man massiv ausbeuten kann, ist für Unternehmer:innen und für Kapitalist:innen eine perfekte Situation.
Das hat sich Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre durch die Erste Intifada grundlegend gewandelt. Sie führte dazu, dass Israel aus Sicherheitsgründen den Pendelverkehr zwischen dem Westjordanland und den israelischen Kerngebieten zunehmend einstellen musste. Da man das Westjordanland nun ökonomisch nicht mehr gebrauchen konnte, stellte sich die Frage, was der israelische Staat stattdessen mit dem Westjordanland machen würde. Man hätte es natürlich einfach aufgeben, die Konstitution eines souveränen Staats zulassen können – das wäre für den israelischen Staat und insbesondere für die israelische Rechte aber eine krachende Niederlage gewesen und hätte den Sieg der Ersten Intifada anerkannt. Man entschied sich, das ökonomisch funktionslos gewordene Westjordanland nun als Siedlungskolonie zu verwenden. In den 1990er-Jahren begann der massive Ausbau der israelischen Siedlungen, der die palästinensischen Gebiete zunehmend zurückdrängte. Das ist die Wurzel des aktuellen Konflikts im Westjordanland. Sein Charakter wandelte sich von einer ökonomischen zu einer Siedlerkolonie, aber es war durchgehend eine Kolonie.
Um Noras Vorwurf aufzugreifen, dass nicht auf die Frage eingegangen wird, wie die Linke damit umgehen sollte: Ich habe den Grundtenor vernommen, dass die Linke nichts beizusteuern hat und ohnehin keinen Einfluss ausübt. Wieso beschäftigen wir uns dann überhaupt so intensiv damit? Gibt es dabei irgendwelche Lehren, Erkenntnisse oder etwas, das unser Verständnis gewisser Fragen erneuert?
NH: Bei Umfragewerten der Freiheitlichen Partei Österreichs von rund 30 Prozent sind wir ziemlich handlungsunfähig. Wir müssten eine linke Bewusstseinsbildung anstreben, damit sich Menschen gegen den Dreck, der gerade stattfindet, organisieren. Dieses Thema macht es schwierig, aber wir können daraus herleiten, welche Bedingungen dazu führten, dass wir uns in dieser Lage befinden. Daher ist Geschichte nicht ganz unwichtig. Welche Fragen müssen mit Diskursbereitschaft gestellt werden, damit wir uns daraus befreien? Das kann pädagogische Ansätze haben. Paulo Freires Theorien oder Adornos Erziehung nach Auschwitz bieten uns Anleitungen, wie wir als Linke kollektiv mit Unterdrückungsformen, mit einer sogenannten Überausbeutung, wie sie im globalen Süden stattfindet, umgehen können. Es ist kein Zufall, dass wir uns nicht mit dem Tod der Uiguren oder den Geschehnissen im Sudan beschäftigen. Das ist in Österreich historisch gewachsen. Wenn das Thema aber schon einmal da ist, dann müssen wir es zur Agitation, zur Interessenvereinigung nutzen können, damit wir uns mit Betroffenen vor Ort sowie Leuten, die ebenfalls das Interesse haben, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, austauschen können.
FL: Natürlich wäre es größenwahnsinnig, von europäischen Linken zu glauben, sie könnten in den nächsten Wochen und Monaten den militärischen Verlauf dieses Krieges oder die politische Nachkriegsplanung des israelischen Staates beeinflussen. Die westliche Linke kann aber Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen.
Der israelische Staat ist mit neun Millionen Einwohnern und einer Ökonomie, die etwas kleiner als jene Österreichs ist, für sich genommen keine relevante Macht. Der Grund dafür, dass er überhaupt einen relevanten Machtfaktor im Nahen Osten darstellt, ist die massive Unterstützung durch die EU und die USA. Insofern ist das Verhältnis der westlichen Staaten zu Israel ein ausschlaggebender Faktor für den weiteren Verlauf des Nahostkonflikts. Und darauf können europäische Linke natürlich Einfluss nehmen, damit die EU und die USA ihren Einfluss nutzen, um eine Deeskalation des aktuellen Krieges anzustreben.
Wir müssen in der gesamten westlichen Welt wieder eine erstrangige politische und gesellschaftliche Macht werden. Dazu braucht es sowohl Klarheit über die politischen Verhältnisse des eigenen Staates als auch über das Verhältnis des eigenen Nationalstaates zu anderen Staaten und der Weltpolitik. Eine Massenorganisation oder Massenpartei wird niemals möglich sein, wenn in der Öffentlichkeit verkündet wird: „Zu allen weltpolitischen Fragen habe ich keine Position, weil wir sie heute nicht beeinflussen können.“
NH: Um direkt auf Fabian einzugehen: Wir setzen uns schon ewig mit der Geschichte auseinander. Es gibt verschiedene Theorien, die meinen verstanden zu haben, was es genau bräuchte und nach einer historischen Wahrheit suchen. Wir drehen uns als Linke weiter im Kreis. Es wäre jetzt an der Zeit, Interessengemeinschaften in den Vordergrund zu rücken und sich nicht in ständigen Diskursen über Israel als Apartheidstaat zu verzetteln.
JB: Um wieder eine relevante Kraft zu werden, müssten wir uns einerseits lokal in den Massen verankern und andererseits wieder eine positive Utopie entwickeln. Aus der Kritik der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse, die katastrophal sind, von der Klimakatastrophe über die kapitalistische Krise und aufbrechende Kriege bis hin zu Flüchtlingswellen müsste wieder eine klare, positive Utopie entwickelt werden. Da sehe ich gerade keine Entwicklung, sondern ein realpolitisches Politik-Spiel der Linken, die sich bei jedem Konflikt unbedingt auf eine Seite stellt und Politikberatung im besten Sinne betreibt.
LQ: Ich sehe meine Rolle nicht darin, irgendwelche Lösungsvorschläge zu machen, weil Eskalation oder Deeskalation beides furchtbare Alternativen sind. Denn was jetzt passiert, kostet Zehntausende von Toten und keine Antifa-Aktion zu machen, um eine faschistische Organisation zu entwaffnen, ist eben auch eine furchtbare Kapitulation.
Meine Perspektive wäre im Sinne von dem, was Nora gesagt hat: Es muss doch darum gehen, dass das, was den verschiedensten Leuten unter den Nägeln brennt, zusammengeführt wird. Die Erhaltung des Staates Israels brennt den ägyptischen Fellachen, libanesischen Intellektuellen, deutschen Bürgerkindern und afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisation aber nicht am meisten unter den Nägeln. Das Verhalten des Staates Israels ruft viel größere Emotionen hervor als das, was den Leuten tatsächlich unter den Nägeln brennen könnte. Und das ist ein ziemliches Mysterium. Man kann jetzt sagen: Ja, das liegt ja daran, dass die USA und EU Israel unterstützen. Auf welcher Seite die EU steht, ist, wenn ich daran denke, wie viel EU-Hilfsgeld auch die antisemitische Propaganda der palästinensischen Autonomiebehörde mitfinanziert haben, eine andere Frage. Ich glaube kaum, dass es nur daran liegt.
Der emotionale Aufruhr, als der deutsche Staat Jugoslawien überfallen hat, war viel geringer als jede Reaktion, die entsteht, wenn der Nahostkonflikt mal wieder aufflammt. Wie kommt das eigentlich und warum sorgt das dafür, dass Leute unnötig dümmer werden und vergessen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen? Das finde ich interessant und dafür muss man tatsächlich dann leider auch über Geschichte reden, über die Geschichte der Welt nach Auschwitz, weil das Thema immer aufgerufen wird und selbst wenn man versucht, es totzuschweigen, drängt es sich nur noch stärker in den Vordergrund.
Inwiefern hat die Linke die aktuelle Situation hervorgebracht? Jens hatte darüber gesprochen, wie die linken Bewegungen in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Staatsräson, keine diplomatischen Beziehungen aufzunehmen, protestiert haben. Kann man sagen, dass der Beitrag der Linken die Beeinflussung der öffentlichen Meinung war, damit diese diplomatischen Beziehungen aufgenommen wurden? Lars, du hattest ja auch die PFLP thematisiert und gesagt, dass sie als vermeintlich linke Kraft auch antisemitische Anschläge verübt hat. Waren sie die Wegbereiter für die Herrschaft des Islamismus? Musste das notwendig so kommen? Und wenn die Linke eine gemeinsame Meinung zu diesem Konflikt finden muss, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, inwiefern würde das dabei helfen, eine Organisation aufzubauen oder zu einer universellen Emanzipation verhelfen?
LQ: Nichts passiert mit Notwendigkeit. Menschen können immer neue Anfänge setzen. Wenn man sich aber nicht aktiv gegen den Lauf der Geschichte stellt, dann überrollt sie einen und sorgt dafür, dass Dinge tatsächlich mit Notwendigkeit passieren. Die Geschichte läuft, entgegen früherer Hoffnung, im Moment nicht naturnotwendig in die Weltrevolution und in den Kommunismus, sondern führt, weil man sich ihr nicht entgegenstellt, in die Barbarei.
FL: Die europäische Linke ist nicht schuld daran, dass sich im Nahen Osten der Islamismus durchgesetzt hat. Die Zahl der Menschen in Gaza, die verfolgen, welche deutsche 100-Mitglieder-K-Gruppe ein Statement herausgibt, ist sehr begrenzt. Nichtsdestotrotz ist der Siegeszug des Islamismus in Gaza sowie in Syrien, im Iran und Irak in hohem Maße eine Reaktion auf das Scheitern der panarabischen, säkularen, vage sozialistisch orientierten Linken – wenn man den Nasserismus im weiteren Sinne als eine linke Strömung auffassen will. Das Scheitern der Bewegung der Baath-Parteien hat den Nährboden für den Siegeszug des Islamismus bereitet. Das Programm dieser panarabischen, nasseristisch orientierten Parteien und Organisationen bestand darin, eine autoritäre Modernisierung der Gesellschaft und Ökonomie mit vage sozialistischen Phrasen durchzuführen, die aber an der Realität scheiterten und zu einem dysfunktionalen Kapitalismus voller Nepotismus und Korruption führten. Obwohl einige Schlüsselindustrien in staatliche Hand gelangten, kam es nirgends zu einer sozialistischen Planwirtschaft, sondern zu einer extremen sozialen Polarisierung dieser Gesellschaften. Der Islamismus war zunächst eine Bewegung der unteren sozialen Schichten gegen die abgehobenen, nasseristisch orientierten Eliten und gewann mehr und mehr eine bürgerliche Klassenbasis. Das Buch Hamas. Der islamische Kampf um Palästina von Joseph Croitoru über den Aufstieg der Hamas zeigt ihre kleinbürgerliche Klassenbasis. Aber der Islamismus begann als eine Protestbewegung gegen die Degeneration und das politische Scheitern der Fatah in den 80er Jahren.
JB: Die Islamisten füllten das von der Linken in den 70er Jahren hinterlassene Vakuum und konnten dadurch groß werden. Dazu kommt der Niedergang der staatssozialistischen oder staatskapitalistischen Ideologie der Sowjetunion, die keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorgelockt hat. Zuletzt hat Mitte der 70er-Jahre auch der Niedergang des Maoismus dazu beigetragen. So wenig sympathisch diese Strömungen auch waren, sie haben immer noch hochgehalten, dass etwas ganz anderes möglich wäre und das ist verschwunden.
NH: Wir sollten uns fragen, welchen Einfluss dieses Rasse-Konstrukt, das in Bezug auf antimuslimischen Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, als Nährboden für den Islamismus hat. Und welche Umstände dafür sorgen, dass der Antisemitismus darin inhärent ist.
Die Obsession mit dem Nahostkonflikt ist ja auch ein Phänomen der globalen Linken. Warum gibt es diesen Fokus? Die Antisemitismuskritik in Deutschland und Österreich ist gemessen am internationalen wissenschaftlichen Diskurs und auch innerhalb der globalen Linken sehr einzigartig. Die antideutsche Kritik hat versucht, diese Kritik in die restliche Linke hineinzutragen. Welche Relevanz hat diese Antisemitismuskritik für eine linke Bewegung?
Waren die Linke und der Marxismus historisch auf der Seite der Unterdrückten? Ist das eine sinnvolle Beschreibung des Projektes und gibt es heute eine vitale politische Perspektive, die daraus zu gewinnen ist?
FL: Bei Myanmar ist niemand der Meinung, dass die Vertreibung und Ermordung der muslimischen Minderheit etwas Gutes und Feiernswertes ist. Den Nahostkonflikt betrachten zwei Drittel der globalen Linken als Kolonialkrieg gegen eine Imperialmacht und ein anderes Drittel solidarisiert sich bedingungslos mit dieser Macht. Das ist eine einzigartige Situation. Dazu ist der Nahostkonflikt eine Chiffre für andere Konflikte. Eine Positionierung pro oder kontra Israel ist gleichzeitig eine Positionierung pro oder kontra USA und NATO. Eine Positionierung gegenüber Israel, oder seit 2022 der Ukraine, ist eine geopolitische Chiffre.
Zur Beantwortung der Frage, ob der Marxismus auf der Seite der Unterdrückten stand, muss man zwischen der marxistischen Geschichtsphilosophie und der marxistischen politischen Praxis unterscheiden. Die Geschichtsphilosophie von Marx und Engels betrachtet den Kampf gegen Unterdrückung nicht als eine historische Kraft an sich. Sie waren nicht der Meinung, dass unterdrückte Nationen oder Bevölkerungsgruppen per se progressiver sind, oder dass der Kampf gegen ihre Unterdrückung zwangsläufig eine für die gesamte Menschheit emanzipatorische Rolle hat. Die marxistischen Parteien im frühen und mittleren 20. Jahrhundert hofften, dass im Kampf einer unterdrückten Nation oder einer unterdrückten Bevölkerungsgruppe die soziale Frage automatisch mit aufgeworfen wird, weil die herrschende Klasse in einer (halb-)kolonialen Region insgesamt einem anderen Staat angehört und als Feind betrachtet wird. Historisch hat sich das sehr begrenzt bewahrheitet und die meisten erfolgreichen antikolonialen Befreiungskämpfe führten nicht zur sozialen Emanzipation, sondern zu neuen Nationalstaaten mit einer nepotistisch herrschenden Klasse und kapitalistischer Ökonomie. Es gibt sehr wenige Beispiele, wie Kuba, in denen ein antikolonialer Kampf gleichzeitig zur sozialen Befreiung geführt hat.
JB: Natürlich muss es die Aufgabe sein, Unterdrückung aufzuheben und gegen Unterdrückung zu kämpfen. Aber das bedeutet nicht, dass die Unterdrückten grundsätzlich Recht haben und dass die Unterdrückten bessere Menschen sind, sondern dass sie oftmals aufgrund der Unterdrückung und Lebensverhältnisse regressive Ideologien ausbilden.
LQ: Um es konkret am Nahen Osten festzumachen: 1948 hat niemand mit mehr Begeisterung Elogen auf die Gründung des jüdischen Staates geschwungen als die Sowjetunion. Was der Außenminister der UdSSR von 1957 bis 1985, Andrei Gromyko, bei den Vereinten Nationen gesagt hat, ist wirklich sehr herzerweichend. Ab 1949 setzte die Sowjetunion dann auf die antizionistische Karte, nicht weil sich innerhalb eines Jahres die Unterdrückungsverhältnisse geändert hätten, sondern weil die Sowjetunion beschlossen hat, dass ihre weltpolitischen Interessen auf Seiten der arabischen Staaten liegen und nicht auf der Seite Israels. Die hatten mehr Leute und mehr Öl. Israel hatte nichts davon. Die antikolonialen Kämpferinnen und Kämpfer Afrikas in den 50er-Jahren haben das anders gesehen. Es gab Zitate von den frühen Staatschefs, die sinngemäß sagten: „Wir stehen immer zusammen mit Israel, denn wir Schwarzafrikaner und wir Juden haben den gleichen Gegner. Wir sind von den gleichen Leuten unterdrückt worden.“ Dieses historische Bewusstsein ist im Zuge der blockfreien Bewegung im internationalen Staatenverhältnis verloren gegangen.
Zu den anderen Fragen: Es wäre ja wirklich sehr schön, wenn ein Drittel der Linken ein historisches Bewusstsein dafür hätte, wofür Israel steht. Das ist leider nicht so. Es ist tatsächlich eine komische Situation, als Kommunist in Deutschland festzustellen, dass die deutsche Linke genau so ist wie ihr eigenes Land: Speerspitze der Dummheit – wenn auch im globalen Maßstab etwas weniger wahnsinnig. In den USA sind Leute mit Paraglidern zu Demonstrationen der Democratic Socialists of America gekommen und die Leute vom Rednerpult verkündeten: Am 7. Oktober tanzten die Hipster und dann kam der Widerstand. Das Abfeiern der barbarischen Abschlachtung von Menschen haben sich in der Massivität in Deutschland nur sehr wenige linke Gruppen getraut. Wolfgang Pohrt hat einmal gesagt, dass Leute von einem deutschen Linken nur lernen können, wie man es nicht macht. Aber wenn man lange genug gelernt hat, wie man es nicht machen sollte, dann hat man vielleicht auch ein paar Einsichten in die Barbarei, die andere schwerer erarbeiten müssen, wobei die Hoffnung ist: Das kommt auch noch. Ich finde die Weltlage auch sehr merkwürdig und sie macht mich ratlos.
NH: Ich rede lieber von Ausbeutung, weil wir alle ausgebeutet werden und die Ausgebeuteten, laut Marx, das revolutionäre Subjekt sind. Es gilt, sich zu organisieren, um Interessen durchzusetzen. Dann sind wir wieder dabei, zu kritisieren, was wir gerade als Linke machen und inwiefern es dem Ganzen dienlich ist. Analysieren wir überhaupt Antisemitismus ganzheitlich, damit wir eine richtige Analyse zu den aktuellen Gegebenheiten haben? Es gibt neben der Ausbeutung auch Strukturen der Überausbeutung, die auf diesen Krieg zutreffen. Wir sollten uns fragen, inwiefern sich unsere Sozialisierung diskriminatorisch auf diese Fragen auswirkt? Schaffen wir es, ein System dahinter zu erkennen, und uns davon dann zu entfremden in einer Art der Agitation? Was ich eher feststelle, ist, dass wir einfach darüber hinwegblicken und uns in dem liberalen Diskurs verlieren. Meine individuelle Meinung zu dem Ganzen macht nicht wirklich einen Unterschied, weil dem eine Systematik inhärent ist. Ich dachte, dass wir da als Linke schon einig sind, dass da eine Systematik dahinter liegt und das Kollektiv die Umstände ändern muss, damit es sich auf das Individuum auswirkt.
An Lars: Warum setzt du Antizionismus, Israelkritik und Antisemitismus gleich? Wo ist der Universalismus in Bezug auf die über 20.000 Toten im Gazastreifen nach dem 7. Oktober? Und die Frage an Fabian: Inwiefern stellt es einen Rückschritt für Linke dar, dass es in der Globalisierungskritik und Friedensbewegung keine revolutionären Kräfte sind, sondern liberale und bürgerliche, die die Palästina-Solidarität mit anführen?
FL: Dass die pro-palästinensische Bewegung von (links-)liberalen Kräften dominiert wird, ist ein Ausdruck der allgemeinen Schwäche der radikalen Linken. Ich habe nicht den Eindruck, dass in den letzten Jahrzehnten ein Schwenk innerhalb der deutschsprachigen Linken zugunsten pro-israelischer Positionen stattgefunden hätte, eher im Gegenteil. Ich habe eher den Eindruck, dass antideutsche und ideologiekritische Positionen innerhalb der deutschsprachigen Linken zurückgehen. Aber die radikale Linke ist insgesamt eben so weit marginalisiert worden, dass sie keine gesellschaftlichen Massenmobilisierungen mehr stemmen kann. Deswegen sind in jeder linksorientierten politischen Bewegung linksliberale Kräfte zahlenmäßig absolut stärker als radikallinke, marxistische Kräfte. Das sehen wir nicht nur in der Palästina-Soli-Bewegung, auch in der Black Lives Matter-Bewegung und in verschiedenen sozialen- und Klassenkonflikten.
LQ: Nicht ich setze Antizionismus mit dem Antisemitismus gleich, sondern der Antizionismus macht das. Antizionismus bedeutet, dass man sich einen Staat dieser Welt aussucht, nämlich Israel, und sagt, dass er verschwinden soll. Antizionismus war vielleicht in den 20er-Jahren eine legitime politische Position, als sich Bundisten, Zionisten und Kommunisten darum stritten, wie genau die jüdische Emanzipation, insbesondere in Osteuropa, aussehen soll. Die einen sagten, wir brauchen einen Staat Israel, die anderen sagten, wir brauchen ein Jiddisch-Sein, wie der Bund, und die Dritten sagten, wir brauchen einfach eine kommunistische Partei und dann geht das Judentum in der allgemeinen Arbeiterklasse unter. Die Debatte hatte Substanz. Nach Auschwitz ist die Frage erledigt. Es gab keinen Bund mehr und die kommunistischen Parteien begannen unter Stalin eine klar antisemitische Politik, dazu die „Ärzteverschwörung“ und der Slánský-Prozess. Der Staat Israel war die einzige Möglichkeit für jüdische Emanzipation nach 1945, weswegen selbst die härtesten Antizionisten vom Bund nach Tel Aviv gezogen sind. Danach bedeutet Antizionismus tatsächlich die Vernichtungsdrohung gegen den Staat der Überlebenden der Schoa. Hätte ich mir eine bessere Antwort der Welt auf die Schoa gewünscht? Ja. Aber das ist die einzige, die die Welt zugelassen hat und bis heute für jüdisches Leben von Bedeutung ist. Vor allem für Jüdinnen und Juden, die nicht in Israel leben, weil es die Möglichkeit gibt, nach Israel zu gehen, wenn sie es nicht mehr aushalten. Das war zum Beispiel für französische Jüdinnen und Juden in den letzten Jahren sehr wichtig.
Ist das eine Lösung für den Antisemitismus? Nein, weil er sich jetzt verschiebt: Statt gegen die Juden geht es jetzt gegen den Juden unter den Staaten. Es ist und bleibt bei allem anderen, was Israel auch an Furchtbarem tun mag, immer noch das Ergebnis einer Emanzipationsbewegung und die zurücknehmen zu wollen, heißt Antisemitismus zu affirmieren. Damit bejubelt man nicht 19.000 Tote im Gazastreifen. Die Lage ist furchtbar, weil sie auf die Alternative hinausläuft, nichts gegen faschistischen Terror zu tun oder unglaublich viele Tote dabei in Kauf zu nehmen.
JB: Bei jedem anderen Konflikt auf der Welt, wie beim Ukrainekrieg, würde ich die Position des revolutionären Defätismus hochhalten, weil die Arbeiter kein Vaterland haben. Da kann man sich auf keine Seite stellen. Bei Israel kann man das nicht so einfach übernehmen wie bei allen anderen Staaten der Welt, weil Israel das Ergebnis der Schoa ist und solange der mörderische Antisemitismus weltweit nicht beendet ist – und der wird nicht beendet sein, bevor nicht die kapitalistische Produktionsweise beendet ist – sind wir da in einem Dilemma gefangen.
In welchem Verhältnis steht die heutige Linke zu der Geschichte des Nahostkonflikts um 1967 und 1969 und inwiefern ist die Durcharbeitung dieser Geschichte relevant für die Linke oder für linken Aktivismus in der Gegenwart oder in der Zukunft?
JB: In der Gegenwart bringt es uns nicht weiter. Ich denke, durch die Diskussionen in der radikalen Linken bis 1967 kann man sich klarmachen, dass eine einseitige Position nicht automatisch die linke Position ist. Die antizionistische Wende war Ausdruck der Zerfallsbewegung und Regression der radikalen Linken.
FL: Ich habe vorhin skizziert, dass die Bevölkerung der palästinensischen Kerngebiete seit 1967 unter einer Kolonialherrschaft steht. Auch die israelischen Arbeiter und Armen leiden unter diesem Konflikt, der alle paar Jahre aufflammt. Daraus folgt für mich, dass westliche Linke sowohl auf palästinensischer als auch israelischer Seite Solidarität üben und für progressive linke Kräfte Unterstützung leisten müssen, die diesen Zyklus zerbrechen wollen. Wir haben heute viel darüber gesprochen, wie Kommunist:innen sich gegenüber Israel im Nahostkonflikt verhalten sollten, aber es interessiert niemanden, was israelische Kommunisten eigentlich dazu sagen. Die kommunistische Partei Israels ist viel größer als irgendeine westeuropäische kommunistische Partei und die Mitglieder dieser israelischen kommunistischen Partei werden wegen ihrer Kriegskritik, ihrer Aufforderung zur Sabotage des Krieges und ihrer Charakterisierung des israelischen Staates als eines brutalen Kolonialregimes reihenweise als Vaterlandsverräter verhaftet. Die Position, die in einem beträchtlichen Teil der deutschsprachigen Linken gerade als antizionistische bis antisemitische Position gebrandmarkt wird, ist die offizielle Parteiposition der israelischen Kommunisten. Das muss man sich klarmachen. Eine bedingungslose Solidarisierung mit dem israelischen Staat mit der aktuellen rechtsradikalen Regierung und ihrem Krieg in Gaza bedeutet gleichzeitig, den israelischen Kommunist:innen ins Gesicht zu spucken.
LQ: Warum über den Nahostkonflikt reden? Weil ich, willentlich oder nicht, Teil der Linken bin und die Linke hat in dieser Frage fürchterliche Dinge getan. Und weil ich willentlich oder nicht ein Deutscher bin und die Deutschen noch viel fürchterlichere Dinge getan haben. Aus dem Erbe kann man sich nicht davonschleichen.
NH: Aus der Geschichte können wir lernen, was falsche Kapitalismuskritik ist. Das hat Moishe Postone weiter ausgeführt. Damit können wir rechte Strömungen hier in Österreich bekämpfen, weil wir wissen, wie wir ihre Theorien auseinandernehmen können.
Zwei Dinge können zur selben Zeit wahr sein. Man kann scheiße finden, was gerade in Palästina abläuft und mit den Menschen solidarisch sein und auf der anderen Seite auch jüdisches Leben schützen wollen. Es ist beides zur selben Zeit möglich. Nur eine Seite als Wahrheit darzustellen, wird uns nicht weiterbringen. Wir haben geschichtlich gelernt, dass es um die Interessen der beiden Völker geht, die jetzt in den Vordergrund gerückt werden müssen. |P