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Israel-PalÀstina und die Linke

Platypus Review #32 | Juli/August 2024

von Chris Cutrone

Der Paragraph. – Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafĂŒr, denn selbst Massenmord hĂ€tte gegenĂŒber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch mußte ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden könnten, noch den Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprĂ€gt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen ErklĂ€rung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darĂŒber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fĂ€llt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgefĂŒhrt.

Theodor W. Adorno, zitiert aus Minima Moralia, Anhang, II (1944-47)

Diesen bitteren Aphorismus verfasste Adorno am Ende des 2. Weltkriegs im Rahmen seines Buches Minima Moralia, und zur gleichen Zeit schrieben er und der Direktor der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, am Pool in Santa Monica ihre Dialektik der AufklĂ€rung, in der sie (ungeheuerlicherweise) aufwarfen, dass vielleicht der Hegelsche Weltgeist der Freiheit die Zerstörung kleiner Nationen – in diesem Falle der Juden – diktiere und Marxisten diesen unvermeidlichen Trend akzeptieren und mitmachen mĂŒssten.* Denn schließlich waren die Sozialisten machtlos, dies zu verhindern, mĂŒssen aber dennoch fĂŒr die Verwirklichung des Sozialismus in seinem Gefolge kĂ€mpfen. „Nie wieder!“ hieß nach dem Holocaust: immer wieder. Das gibt zu denken.

In der Zwischenzeit hat es viele Beispiele gegeben. So ereignete sich etwa gleichzeitig mit dem israelischen UnabhĂ€ngigkeitskrieg die postkoloniale Teilung Indiens, die nicht zuletzt im Zuge der Schaffung eines muslimischen Staates in Pakistan Millionen von Opfern nach sich zog – was sich bei der Trennung von Bangladesch in den 1970er-Jahren wiederholte. Und dann ist da noch Kaschmir.

Sollte etwa Alan Dershowitz Recht behalten, dass sich niemand darum schert, solange es nicht die Juden sind, die etwas tun? (Oder ist es, weil sie „weiß“ sind? Allerdings sind Juden nicht mehr – oder weniger – weiß als ihre semitischen MitbĂŒrger, die Araber, und außerdem ist die Mehrheit der jĂŒdischen Bevölkerung Israels mizrachisch und sephardisch, nicht aschkenasisch.) Oder haben die Islamisten Recht, dass es deshalb von Belang ist, weil es al-Aqsa betrifft? Oder liegen die millenaristischen Christen richtig mit ihrer Vorstellung von Armageddon und vom Anfang und Ende der Welt? Oder die Chassidim, die den Zionismus als Blasphemie verurteilen? Oder ist dies die EntrĂŒckung der „Linken“, bei dem die AuserwĂ€hlten Gottes zum Seelenheil aufsteigen und der Rest zurĂŒckbleibt? Immerhin bietet die Hamas den „MĂ€rtyrertod“ als Trost fĂŒr die Bewohner der ehemaligen römischen Provinz PalĂ€stina.

Lenin und Trotzki

Was die Vereinten Nationen anbelangt, so wurde diese nachtrĂ€gliche Umsetzung von Woodrow Wilsons Völkerbund von Stalin begrĂŒĂŸt, wohingegen Lenin den Völkerbund ablehnte. Anhand dessen lĂ€sst sich gut der Unterschied zwischen Leninismus und Stalinismus verdeutlichen: Der Stalinismus beruht auf der Akzeptanz der rassistisch-nationalistischen Vision Wilsons, anstelle der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution und der globalen Diktatur des Proletariats, die der ursprĂŒngliche historische Marxismus noch verfolgte.

Dies war die Grundlage von Adornos Kritik des Völkerrechts im Kapitalismus und dessen inhĂ€rent mehrdeutigen und heuchlerischen Begriffen wie „Genozid“. Das, was die Vereinten Nationen als „Genozid“ definieren, schließt den sogenannten „kulturellen Genozid“ ein. – Was sagte Lenin dazu?

Die Sozialisten der unterdrĂŒckten Nationen mĂŒssen ihrerseits unbedingt fĂŒr den völligen (auch organisatorischen) Zusammenschluß der Arbeiter der unterdrĂŒckten und der unterdrĂŒckenden Nationen kĂ€mpfen. Die Idee der rechtlichen Absonderung der Nationen voneinander (die sog. „national-kulturelle Autonomie” Bauers und Renners) ist eine reaktionĂ€re Idee.1

SpĂ€ter sprach Trotzki davon, dass proletarische Sozialisten „zu denken lernen“ mĂŒssen:

Ultralinke Scholastiker denken nicht in konkreten Begriffen, sondern in leeren Abstraktionen. Sie haben auch die Idee des DefĂ€tismus in solch ein hohles Ding verwandelt. Weder den Prozeß des Krieges noch den Prozeß der Revolution können sie sich in seiner Lebendigkeit vorstellen. Sie suchen eine hermetisch abgeschlossene Formel, in die keine frische Luft eindringen kann. Aber eine derartige Formel kann der proletarischen Vorhut nicht zur Orientierung dienen.2

Außerdem weist Trotzki darauf hin, dass der „revolutionĂ€re DefĂ€tismus“ nur dann revolutionĂ€r sein kann, wenn er zu einer proletarisch-sozialistischen Revolution fĂŒhrt. Und das ist heute nicht der Fall. Heute kann es nur ein nicht-revolutionĂ€rer DefĂ€tismus sein, der sich in die kapitalistische Politik einfĂŒgt und nicht zum Aufbau einer sozialistischen Bewegung beitrĂ€gt. Es handelt sich um bĂŒrgerlichen DefĂ€tismus. Die Bourgeoisie kann aus der Niederlage ihrer Gegner einen Nutzen ziehen und sogar davon profitieren. Nicht so die Arbeiter. Zumindest nicht als proletarische Sozialisten, die nicht die Nutznießer des kapitalistischen Wettbewerbs sind, innerhalb dessen Krieg nur ein ĂŒbliches Ereignis ist. Kapitalisten verdienen immer am Krieg – egal, wer gewinnt oder verliert, die Kapitalisten als solche profitieren immer. Das Kapital findet immer eine Gelegenheit.

Es ist eine den eigenen Opportunismus rechtfertigende stalinistische Erfindung, dass Spaltungen in der herrschenden Klasse irgendwie der Arbeiterklasse zugutekommen, ungeachtet des tatsÀchlichen Stands ihres Kampfes und ihrer Bewegung.

Forderungen

Es gibt heute einfach keine proletarisch-sozialistische Bewegung. Es gibt mehr oder weniger nur einen kleinbĂŒrgerlichen Radikalismus. Das ist das, was Lenin die „Liberalen mit der Bombe“ und „Reformismus mit Waffen“ nannte – im besten Fall. Schlimmstenfalls ist es nicht einmal Liberalismus oder Reformismus, sondern lediglich reaktionĂ€re kapitalistische Pseudopolitik. TatsĂ€chlich ist es mehr oder weniger immer Verbrechen.

Schauen wir uns die aktuellen Forderungen der palĂ€stinensischen SolidaritĂ€tsbewegung in den USA an: „Waffenstillstand jetzt!“ und „Defund Israel!“.

Letzteres ist natĂŒrlich eine Wiederholung der Forderung von Black Lives Matter nach einem „Defunding“ (Beendigung der Finanzierung) der Polizei. Es handelt sich um eine Variante des Impossibilismus und damit des erklĂ€rten Nihilismus von BLM. Aber nicht im Falle der US-Hilfe fĂŒr Israel, sei es militĂ€risch oder anderweitig: Sowohl der republikanische PrĂ€sidentschaftskandidat Vivek Ramaswamy als auch der rechte Kommentator Tucker Carlson haben dazu aufgerufen, die US-Hilfe fĂŒr Israel einzustellen, die FĂ€den in der Beziehung zu kappen und sie mehr zu einem BĂŒndnis – einer Zweckehe? – und weniger zu einer AbhĂ€ngigkeit zu machen.

Was „Defund Israel!“ auch mit BDS – was ich gerne BDSM nenne, nĂ€mlich Bondage, Domination, Sadismus, Masochismus; oh Entschuldigung! Boykott, Desinvestition, Sanktion (Letzteres ist eigentlich ein Teil von Ersterem, aber wie auch immer) – zu tun hat: Letzteres ist der Versuch einer Wiederholung der Anti-Apartheid-Bewegung in SĂŒdafrika in den 1970er- und 1980er-Jahren. Die „Linke“ denkt gerne, sie habe die Apartheid zu Fall gebracht, aber nein, das war das Ergebnis des Endes des Kalten Kriegs und der Lösung der Stellvertreterkonflikte zwischen den USA und der UdSSR. Israel-PalĂ€stina hĂ€tte ein weiterer sein sollen, daher die Intifada und der Friedensprozess nach den Osloer VertrĂ€gen. Er scheiterte.

So bleibt die Geschichte scheinbar unvollendet – nein, nicht wirklich. Der „Widerstand“ gegen die „Apartheid“ oder den „Siedlerkolonialismus“ in Israel ist keine unvollendete Angelegenheit des letzten Jahrhunderts – auch wenn es so aussehen mag.

Was sowohl „Waffenstillstand jetzt!“ und „Defund Israel!“ unabhĂ€ngig von ihren VorzĂŒgen und MĂ€ngeln gemeinsam haben, ist, dass die Forderungen an den kapitalistischen Staat und seine politischen Parteien gerichtet sind – insbesondere an eine, nĂ€mlich die Demokratische Partei.

Aber die Biden-Administration hat tatsĂ€chlich einen Waffenstillstand gefordert: Sie erwartet eine andere Taktik und sogar eine andere Strategie von Israel. Vor allem will sie, dass Israel „Land fĂŒr Frieden“ gibt, die Siedlungen im Westjordanland aufgibt und vor allem den Gazastreifen nicht verwĂŒstet und die PalĂ€stinenser dort nicht vertreibt. Zumindest sagen sie das.

Warum sollte man ihnen nicht glauben?

Genozid

Und das bringt uns wieder zurĂŒck zum Vorwurf des „Genozids“. Es gibt keinen „mens rea“ und damit kein Schuldbewusstsein, anhand dessen die Israelis verurteilt werden könnten. Ein „Genozid im Zeitlupentempo“ ist ĂŒberhaupt kein Genozid – es sei denn, die Geschichte selbst ist eine Geschichte endloser „Genozide“. Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen wird viele Jahre benötigen, um eine Entscheidung ĂŒber den derzeitigen israelischen Krieg gegen die Hamas zu fĂ€llen.

Warum nennt man es nicht einfach „ethnische SĂ€uberung“ – ein schlimmes Verbrechen? Es ist nicht einmal klar, dass dies die derzeitige israelische Absicht in Gaza ist.

Was geht also zwischen Israel und PalÀstina vor? Warum ist nach dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990er-Jahren keine Zweistaatenlösung erreicht worden? Eigentlich ist es ganz einfach:

Die palĂ€stinensische „politische FĂŒhrung“ hat sich geweigert, die Existenz Israels als Staat offiziell anzuerkennen.

Nach vielen Kriegen, AufstÀnden, Terrorismus etc. haben die PalÀstinenser verloren und die Israelis gewonnen.

Die StĂ€rkeren haben gesiegt und die SchwĂ€cheren sind besiegt worden. Der Fall ist abgeschlossen. Das Urteil der Geschichte ist unbestreitbar – und unumkehrbar.

Die Israelis erwarteten von den PalÀstinensern einen Friedensvertrag, der die Kapitulation vorsah, was die PalÀstinenser ablehnten. Also hat Israel seinen Krieg gegen einen Feind fortgesetzt, der sich geweigert hat, sich zu ergeben.

Aber die PalÀstinenser wurden besiegt. Das wird sich nicht Àndern. Niemals.

Der jĂŒngste Angriff der Hamas war ein Akt der Verzweiflung im Angesicht der Niederlage. Das rechtfertigt oder entschuldigt ihn nicht – es verurteilt ihn vielmehr als sinnlos und als mutwillige, sinnlose Zerstörungswut. Die Hamas hat zugegeben, dass sie mit einer israelischen Überreaktion und der Zerstörung des Gazastreifens und der dortigen PalĂ€stinenser gerechnet hatte, was aus ihrer Sicht im besten Fall einen grĂ¶ĂŸeren regionalen Krieg auslösen und schlimmstenfalls der internationalen Gemeinschaft verunmöglichen wĂŒrde, die palĂ€stinensische Frage zu ignorieren. Die Hamas gab alles, was sie hatte, fĂŒr einen letzten Versuch aus, politisch relevant zu werden. Letztendlich ist das Ganze ein PR-Stunt. Wie grotesk!

Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass Israel in Frieden mit den PalĂ€stinensern leben wĂŒrde, wenn es die Möglichkeit dazu hĂ€tte? Jedoch wollen die „Linken“ hier keinen Frieden.

Sollten „Marxisten“ und „Sozialisten“ das Verdikt des Krieges akzeptieren – den Sieg der einen Seite ĂŒber die andere? Nicht unbedingt. Aber es wĂŒrde nicht darum gehen, die kapitalistischen VerhĂ€ltnisse – die in der Tat nur LiegestĂŒhle auf dem Deck der Titanic sind – neu zu ordnen, sondern darum, fĂŒr ihre vollstĂ€ndige Überwindung im Zuge einer sozialistischen Revolution zu kĂ€mpfen.

Gangster Rap

Aber wie tut man das? Nun, zuerst können wir anstreben, die PalĂ€stinenser, Araber, muslimischen Amerikaner oder auch irgendwen sonst in den USA und darĂŒber hinaus nicht fehl zu erziehen: Rashida Tlaib ist eine Travestie und eine Tragödie der heutigen Pseudo-„Linken“, besonders in deren unechter „PalĂ€stina-SolidaritĂ€t“. Fortschritt bedeutet: Nun hat der Kongress sein eigenes palĂ€stinensisches Maskottchen. Aber der Rest des „sozialistischen“ Squad der Demokratischen Partei im US-Kongress ist kein bisschen weniger tragisch. – Genauso Bernie Sanders. Ihre Fehlerziehung und jetzt auch willige Komplizenschaft mit den Verbrechen kapitalistischer Politik reicht tief. Das sollte nicht fortgesetzt werden. Dass Gaza in einer Sackgasse endet, beinhaltet aber auch eine Lektion.

Die Hamas ist eine kapitalistische Gruppe. Was heißt das? Sie akzeptiert den Kapitalismus und stellt keine Herausforderung des Kapitalismus dar. Sie ist eine spezifisch rechte Form des Kapitalismus. Es ist eine kriminelle Bande. Sie sind tatsĂ€chlich Terroristen. Terrorismus ist seiner eigenen Natur nach eine kapitalistische Form von Politik, keine sozialistische. Er ist ein kapitalistisches Verbrechen. – Verbrechen ist kapitalistisch, nicht sozialistisch. Verbrechen ist nicht sozialistisch, sondern der Kapitalismus der Schwachen. Doch die Schwachen besitzen nicht das Erdenreich. Und haben es nie. Sie sind hoffnungslos zugrunde gegangen – Staub.

Die Hamas sind die Kapos im Konzentrationslager, rekrutiert aus den gewöhnlichen Verbrechern, die ĂŒber den Rest herrschen, und sie hofft, durch all das Chaos zu schlĂŒpfen und am Ende zu ĂŒberleben. Sie wurden buchstĂ€blich von Israel auserkoren, ĂŒber den Gazastreifen zu herrschen. Das Spiel „militĂ€rischer Transaktionen“ (Hegel), das zwischen Israel und der Hamas gespielt wird, gleich wie gewalttĂ€tig und grausam es sein mag, ist lediglich eine Verhandlung ĂŒber Bedingungen des Kapitalismus durch extrem sensationalistische Vermarktungspropaganda – in Bildern wie Taten. Und die Druckmittel, mit denen gespielt wird, bestehen aus den Leben einfacher Menschen – als Opfer und nicht als Handelnde, als Objekte und nicht als Subjekte blutiger kapitalistischer Politik. Wie es die Arbeiter immer sind.

Historisch haben Marxisten Terrorismus als Taktik und als Strategie stets abgelehnt. Weshalb? Weil er die Arbeiterklasse in ihrer notwendigen Selbstorganisation und Aktion, den Sozialismus zu erreichen, nicht weitertreibt, sondern sie tatsĂ€chlich zurĂŒckwirft, ihr abtrĂ€glich ist, auch, aber nicht nur, durch die Provokation staatlicher Repression. Und was Marxismus mit „Terrorismus“ meinte, war keineswegs, was die Hamas am 7. Oktober beging, einen Massenmord an Zivilisten, sondern militĂ€rische Aktionen gegen den kapitalistischen Staat und seinen Repressionsapparat – „legitime“ KriegsfĂŒhrung. Die Hamas hingegen zielt mit ihren Aktionen darauf ab, die Zivilgesellschaft entlang ethnischer oder religiöser Linien zu spalten. Und das bedeutet die Spaltung der Arbeiterklasse. Die Hamas hat gewettet – und verloren – mit dem Einsatz palĂ€stinensischer Leben, wie kapitalistische Politiker es immer tun. Die FĂŒhrung der Hamas sind MilliardĂ€re, deren Reichtum mit dem von Donald Trump konkurriert. Aber was haben sie aufgebaut? Ihr Wohlstand ist abgeschöpft vom Elend anderer – wie bei allen Gangstern. Sie werden sich komfortabel zur Ruhe setzen, wĂ€hrend ihre KĂ€mpfer abgeschlachtet werden. Die Hamas ist ein kriminelles Unternehmen, wortwörtlich wie auch im ĂŒbertragenen Sinne – zumindest aus einer marxistischen Perspektive.

Die heutige „Linke“ ist der parodistische Abklatsch kapitalistischen Gangstertums, die dem Gemetzel Beifall klatscht. Sie sind die Psychotiker, die die Geschehnisse durch die Fenster der Irrenanstalt betrachten und dabei ausdrĂŒcken und ausleben, was die britische Psychoanalytikerin Juliet Mitchell die „normative Psychose der kapitalistischen sozial-politischen Welt“3 nannte – nicht weniger, sondern vielleicht noch mehr als in den TonbandkommuniquĂ©s der Symbionesischen Befreiungsarmee, in denen von „faschistischen Insekten“ die Rede ist, kommt dies zum Ausdruck, wenn die „Linke“ von der „zionistischen EntitĂ€t“ spricht. Oder sind wir Agenten wie Monicas gegen Bregna, so wie in der Serie Aeon Flux? Nur: Trevor Goodchild gewinnt immer, aber lĂ€sst Aeon nach jedem Tod in der jeweils nĂ€chsten Episode wieder auferstehen. Können wir aus dieser alptraumhaften Filmschleife der Geschichte erwachen? Wir kennen diesen Film schon, der uns als das nĂ€chste große Ding verkauft, aber schnell wieder vergessen wird im Clickbait-Strom der jeweils letzten Eilmeldungen kapitalistischer Ausbeutung. Gaza wird von den Arbeitern der Welt wieder aufgebaut werden, von palĂ€stinensischen und anderen. 

Nochmal Lenin

Das bringt uns zurĂŒck zu Lenin und seiner Ablehnung „nationaler“ kapitalistischer Staaten und des Völkerbunds von Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg. – Im Kontrast dazu steht Stalins Akzeptanz und Umarmung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg; diese waren die von den USA arrangierte Institutionalisierung der siegreichen Alliierten als Manager der Weltpolitik: Sie konstituierten die Bedingungen der Teilnahme der UdSSR (et al.) an globaler kapitalistischer Politik. Die politische Weltordnung ist das von den USA prĂ€ferierte kapitalistische System von Nationalstaaten. 

Lenin nannte den von Woodrow Wilson arrangierten Völkerbund „eine Höhle voll RĂ€uber und ihrer Opfer“; wie viel mehr ist dies heute bei der UN der Fall: dem BeschwerdebĂŒro der US-gefĂŒhrten globalen Ordnung.

Anders als die Versuche unechter Fake-„Marxisten“, Nationen – oder gar kapitalistische Nationalstaaten – als kohĂ€rente Bausteine der politischen Ökonomie zu behandeln, erkannten Marx und die ihm nachfolgenden Marxisten, dass politische Ökonomie und ihre sozialen Beziehungen – Gesellschaft – ihrer Natur und ihrem Charakter nach nicht national, sondern international und sogar kosmopolitisch waren.

Die Volksfront zur Befreiung PalĂ€stinas (PFLP), eine vorgeblich „marxistische“ sozialistische oder kommunistische Kraft in PalĂ€stina, stellt, was sie den „nationalen Befreiungskampf“ nennt, ĂŒber den Kampf fĂŒr den Sozialismus. Und damit unterstĂŒtzen sie die Hamas, die angebliche „Avantgarde“ des nationalen Kampfes der PalĂ€stinenser. Die PFLP sieht sich selbst als die „Linke“ des „nationalen“ oder „demokratischen“ Kampfes und der Bewegung – und die Hamas als die Rechte. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass nach einem angestrebten Erfolg des „nationalen Befreiungskampfes“ die politischen Unterschiede zwischen ihr und der Hamas offenkundig werden wĂŒrden. Aber vorher, so sagt die PFLP, wollen sie nicht, dass â€žideologische“ Unterschiede einer „politischen Einheit“ mit der Hamas im Weg stehen. Sie wollen ganz ausdrĂŒcklich ein „klassenĂŒbergreifendes BĂŒndnis“, in altehrwĂŒrdiger Manier der stalinistischen Volksfront der 1930er-Jahre. Das hat versagt, „Faschismus und Krieg“ zu stoppen, und tut es seitdem bis heute.

So kontraintuitiv es klingen mag, ziemlich genau so hat die Bewegung um „PalĂ€stinasolidaritĂ€t“ in den USA sich selbst betrachtet: in „politischer Einheit“ mit „progressiv-liberalen demokratisch-kapitalistischen“ Politikern, trotz aller „ideologischen Unterschiede“.

Aber sind das einfach „ideologische Unterschiede“? Aus einer sozialistischen, ganz abgesehen von einer marxistischen Perspektive, mĂŒssten diese Unterschiede als politische Unterschiede erkannt werden: Sozialisten haben in einer Reihe von Belangen eine komplett andere Absicht und ein komplett anderes Ziel als die Hamas.

Doch hier ist die gegenwĂ€rtige „Linke“ fundamental verwirrt und liegt falsch: Sozialismus ist keine Frage eines „progressiven“ Kapitalismus oder „progressiver“ Reformen des Kapitalismus. Und er ist auch keine Frage separater „Stadien“ des Kampfes, die seit den 1930ern nicht ĂŒber ihr erstes „volksdemokratisch-nationales“ Stadium hinausgegangen ist, dieses nicht einmal eingelöst hat. Diese Idee war eine Sackgasse – schon immer.

Was in PalĂ€stina oder Israel gebraucht wird, ist die politische Einheit der Arbeiterklasse, der jĂŒdischen und arabischen, der muslimischen und christlichen und anderen (zum Beispiel „Gast“-)Arbeiter im Kampf um den Sozialismus. Der steht kontrĂ€r sowohl zum arabischen Nationalismus – wie der der PFLP – als auch zum Islamismus – wie im Falle der Hamas. Er ist auch dem Zionismus entgegengesetzt. Er ist gegen alle Nationalstaaten – die nationalistische Grundlage von Politik.

Nachwirkungen

Spezifisch im Nahen Osten sehen wir die Nachwirkungen des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs vor ĂŒber hundert Jahren und das Scheitern aus diesem Zusammenbruch irgendeinen tragfĂ€higen Nationalstaat zu begrĂŒnden. Es gibt viele unterschiedliche ethnische und religiöse und sprachliche und andere kulturelle Gruppen in dieser Region – so wie ĂŒberall sonst auf der Welt auch. Auf der ganzen Welt besteht eine notwendige und nicht zufĂ€llige UnterdrĂŒckung von Minderheiten bei den Versuchen, nationale Politik durchzusetzen. Das hat „Dekolonialisierung“ fĂŒr die letzten hundert Jahre, notwendig und nicht zufĂ€llig, bedeutet: Zwangsumsiedlungen, Genozide und kontinuierliche UnterdrĂŒckung und Ausbeutung. Sozialisten sollten das nicht akzeptieren und schon gar nicht entschuldigen – und vor allem sollten sie es nicht als „Fortschritt“ betrachten. Welche Seite hĂ€tten Sozialisten im Biafra-Krieg ergreifen sollen? Oder im Hinblick auf Boko Haram heute? Die BĂŒrgerkriege im Kongo gingen nicht einfach um seltene Metalle.

Aber auch an Orten wie den USA hat die pluralistisch-liberale Demokratie versagt – nicht so spektakulĂ€r wie im Nahen Osten und andernorts, aber trotzdem: versagt. Die Spaltung der Arbeiterklasse entlang verschiedener sektiererischer und gemeinschaftlicher Linien hat die Oberhand behalten. Woher kommt diese Spaltung? Aus dem Kapitalismus selbst. Kapitalismus bringt Menschen durch Handel und Tausch zusammen, durch Kooperation innerhalb von Lohnarbeit, lokal und global, und spaltet sie in Konkurrenz zueinander, unter den Bedingungen einer industriellen Produktion, in der periodische Krisen des ökonomischen Wertes auftreten, die gemeinhin als Notwendigkeiten und Folgen der technischen Innovation betrachtet werden. Es wird keine kleinbĂŒrgerliche Restauration des Kapitalismus möglich sein, weder „national“ noch auf eine andere Weise.

So lange Kapitalismus besteht und nicht durch Sozialismus ĂŒberwunden wird, wird es global soziale und geographische Spaltungen geben, die politische Spaltungen hervorrufen, denen die Arbeiterklasse notwendig unterworfen sein wird. Es wird Krieg geben zwischen Staaten und/oder BĂŒrgerkriege, „legitime“ und andere – und immer kapitalistische Kriege.

Aber der ursprĂŒngliche historische Marxismus sagte „Klassenkampf statt Krieg!“ – und lehnte die Bedingungen kapitalistischer KriegsfĂŒhrung ab. Mir ist bewusst, dass das als „ultra-links“ und „marxistischer Purismus“ und „Dogmatismus“ betrachtet wird, aber trotzdem: Ich ziehe es vor, meinen Selbstrespekt als dogmatischer Marxist zu behalten, anstatt vor dem Spiegel als Gangster zu posen und zum Rap eines anderen Playback zu singen. „Intifada bis zum Sieg!“ wird ziemlich lange dauern. FĂŒr immer. Nie.

Aber wir können uns immer noch weigern, die kapitalistische Politik zu unterstĂŒtzen und zu empfehlen, die diese Spaltungen und KriegsfĂŒhrung fĂŒr sich nutzt: Hamas und andere dominante palĂ€stinensische politische KrĂ€fte, wie auch der Zionismus, sind klare Beispiele dieser zerstörerischen Politik, deren verheerende und antisoziale Ergebnisse wir jetzt wie im letzten Jahrhundert sehen.

Habt ihr‘s verstanden, Kinder? | P

Chris Cutrone ist GrĂŒndungsmitglied und leitender PĂ€dagoge der Platypus Affiliated Society. Der vorliegende Text ist im Februar 2024 in der englischsprachigen Platypus Review 163 erschienen. Er wurde von Stefan Hain und Florian Piffl ins Deutsche ĂŒbersetzt.


* So schrieb Horkheimer in seinem 1940 verfassten Essay „AutoritĂ€rer Staat“:

Es sei sentimental, der Erschlagenen wegen sich dauernd negativ zum Staatskapitalismus zu stellen. Die Juden seien schließlich meistens Kapitalisten gewesen, und die kleinen Nationen hĂ€tten keine Existenzberechtigung mehr. Der Staatskapitalismus sei das heute Mögliche. Solange das Proletariat seine eigene Revolution nicht mache, sei ihm und seinen Theoretikern keine Wahl gelassen, als dem Weltgeist auf dem Weg zu folgen, den er nun einmal gewĂ€hlt hat. Solche Stimmen, an denen es nicht fehlt, sind nicht die dĂŒmmsten, nicht einmal die unehrlichsten. Soviel ist wahr, daß mit dem RĂŒckfall in die alte Privatwirtschaft der ganze Schrecken wieder von vorne unter verĂ€nderter Firma beginnen wĂŒrde.

Man beachte, dass dies nicht Horkheimers eigene Meinung ist, sondern die anderer, der er jedoch nicht widersprechen kann – eine wichtige Unterscheidung. Ich denke immer noch, dass der Geist dieser Passage in der Dialektik der AufklĂ€rung zu finden ist, insbesondere im Kapitel „Elemente des Antisemitismus“, aber ich konnte dort keine entsprechende Textstelle ausfindig machen.

1. Wladimir I. Lenin: Sozialismus und Krieg, Genf 1915. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/kap1.htm.

2. Leo Trotzki: „Lernt denken. Ein freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke“, New International (Juli 1939). Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/05/denken.htm.

3. E. E. Çakmak, Juliet Mitchell und BĂŒlent Somay: „There is never a psychopathology without the social context“, Eurozine (12. April 2006). Online abrufbar unter: https://www.eurozine.com/there-is-never-a-psychopathology-without-the-social-context/.