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Die Linke als verbindende Partei in der Krise des Neoliberalismus

Platypus Review #31 | Mai/Juni 2024

Ein Interview mit Mario Candeias

von Benedikt Heudorfer und Andony Melathopoulos

Mario Candeias ist Politikwissenschaftler, seit 2012 Mitglied der Linkspartei und war von 2013 bis 2023 Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Das Interview wurde von Platypus-Mitglied Benedikt Heudorfer am 18. September 2023 geführt. Es folgt eine gekürzte und editierte Version des Gesprächs.

Benedikt Heudorfer: Kurz nach dem Gründungsmoment der Linkspartei ereignete sich die Finanzkrise, dicht gefolgt von den Platzbewegungen. In der gleichen Zeit entstand auch das Konzept der Mosaiklinken. Bei Lektüre deiner Texte aus der Zeit wird deutlich, dass du (und andere) damals entstehende Potenziale beobachtet hast.1 Dies steht entgegen der gängigen Lesart, dass diese Bewegungen gescheitert sind. Welche Möglichkeiten hast du damals gesehen?

Mario Candeias: Natürlich war es ein Scheitern, aber wie immer in der Geschichte der Linken, am meisten lernt man aus dem Scheitern – wenn man es schafft, es aufzuarbeiten und weiterzutreiben, und sich nicht zu zersplittern wie die Partito Socialista Italiano in Italien.

Ich glaube was damals in Abgrenzung zu älteren Bewegungszyklen der globalisierungskritischen Bewegung gelernt wurde, ist der Schritt von der symbolischen auf die materielle Ebene. Symbolische Akte wie Platzbesetzungen, Fridays for Future, große Demonstrationen oder früher die europäischen Sozialforen und Weltsozialforen sind sehr wichtig, auch als aktivistische Vernetzungsorte, aber die Verankerung in der Gesellschaft ist oft minimal. Nach dieser Erkenntnis ging man nach der Finanzkrise 2011 beispielsweise von den Besetzungen zu den materiellen Organisationsprozessen im Alltag der Menschen über. Gewerkschaften stehen schon immer auf diesem Standpunkt, nun erkannten aber auch soziale Bewegungen oder Parteien, dass sie sich stärker verankern müssen. Sie müssen eine Art politische Selbsthilfegruppe werden, in der Politik gemacht wird, die aber auch im Alltag der Menschen unmittelbare Verbesserungen der Bedingungen organisiert. Das kann die Mieterorganisierung, in Spanien die große Zwangsräumungsbewegung, oder mit Syriza und Solidarity for All eine breite Verankerung von Selbsthilfeinitiativen sein, die zugleich politisch waren. Die Partei stellte in diesem Fall wichtige personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Zugleich standen Partei und Bewegung viel besser im Austausch, und beide profitierten davon, auch die Partei, in Form einer glaubwürdigen Repräsentation, aber auch in Form von Ideen und Menschen, die zu ihr gestoßen sind. Diese engen Verhältnisse wurden bei Syriza durch die Memoranden der europäischen Institutionen abgebrochen bzw. gebrochen.

Wie wir wissen, hat vieles davon nicht gehalten. Aber auch in Deutschland haben wir diesen Impuls aufgenommen: neben einer Art der Repräsentation darüber hinaus auch im Alltag der Leute wieder eine andere Rolle zu spielen. Und das kann man nur, indem man auch zu den Menschen geht. Auf Parteiebene sind das etwa Haustürgespräche – und zwar nicht nur zur Wahlkampfzeit; oder die Verschränkung mit Bewegungen, die sich anders organisieren als eine Partei, beispielsweise die Mietenbewegung und in historischer Folge Deutsche Wohnen & Co enteignen; oder die Krankenhausbewegung, die über die übliche Gewerkschaftsarbeit hinaus andere Formen von Organisation und Verbindung nach außen suchte; bis hin zu den Versuchen von Fridays for Future, mit Verdi in der Tarifrunde Nahverkehr eine gemeinsame Praxis zu entwickeln, die über das Symbolische hinausgeht.

In diesen Momenten wird ein anderes Verhältnis von Selbstorganisierung und Repräsentationen versucht bzw. dieses Verhältnis immer wieder neu gedacht und austariert. Natürlich gibt es da Widersprüche und Brüche. Aber viele Bewegungslinke haben nicht mehr so eine krasse Ablehnung gegen Parteien wie in den 1990er Jahren, sondern wissen, dass es zwar unangenehm mit so einer Partei oder Gewerkschaft ist, wir aber nicht daran vorbeikommen. Wir müssen Praxen finden, das zusammenzuführen.

Wenn man diese Veränderungen anschaut, dann wird das lernende linke Mosaik – wenn man den Begriff noch Nutzen möchte – ein bisschen lebendiger. Da werden tatsächlich gemeinsame Praxen entwickelt, die auch so tief reichen, dass sie über die üblichen Verdächtigen, die Aktivist*innen, hinausgehen. Das ist wichtig, denn an der Partito della Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung) in Italien, die ja sehr gehypt wurde damals, konnte man sehen, wie schnell eine solche Partei zusammenbrechen kann. Sie hatte die starke Verankerung in den Bewegungen mit einer starken Verankerung in der Bevölkerung verwechselt, wie einer ihrer Vordenker resümierte. Man braucht beides. Das haben wir, glaube ich, gelernt, auch wenn es noch nicht klappt.

„Occupy Frankfurt“ Demonstration am 22. Oktober 2011 vor der Zentrale der Deutschen Bank

In den 2000er Jahren bildeten die Umstände eine Konvergenz verschiedener Tendenzen, die zur Gründung der Linkspartei führte. In deinem 15-Thesen-Artikel konstatierst du nun erneut eine veränderte Situation und beschwörst Konvergenz.2 Warum sind die einzelnen Strömungen denn überhaupt wieder auseinandergedriftet? Warum sollten sie ausgerechnet jetzt wieder konvergieren?

Du kennst den Spruch von Thatcher: „Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen.“ Der Neoliberalismus war gut darin, die Gesellschaft in Einzelteile zu zerlegen und diese – auch oppositionellen Einzelteile – immer wieder in ein Modernisierungsprojekt einzubinden. Sei es der Feminismus, die Ökologiebewegung, Behinderten- und Schwulengruppen etc., und natürlich ganz vorne auch die Gewerkschaften. Es ist immer wieder gelungen, diese Gruppen progressiv einzubinden, und zwar durchaus mit realen Fortschritten. Der Neoliberalismus ist ja nicht einfach nur dumpfe Ideologie, sondern es war eine die Verhältnisse organisierende Ideologie. So hat er es geschafft, die gesellschaftliche Linke zu zersplittern, indem sie zu Einzelforderungen reduziert wurden und diese Einzelforderungen in Teilen aufgenommen wurden. Aber viele Linke haben sich auch selbst auf Einzelforderungen reduziert, weil sie dachten, damit kommen sie besser durch, erhalten mehr Öffentlichkeit, mehr Durchschlagskraft. Und während Teile der Linken so – klassisch im Trasformismo3 – eingebunden wurden, wurden andere rausgehalten, marginalisiert oder bekämpft. Das führte zu einer Zersplitterung der Linken oder eben zu einem Mosaik, das überhaupt nicht mehr zusammenpasst und kein Bild ergibt. Da musste man erst große Mühe darauf verwenden, insbesondere die Teile zu reorganisieren, die nicht Teil des herrschenden Kompromisses wurden, und auch jene Enttäuschten, die entweder merkten, dass sie instrumentalisiert wurden oder die versprochenen Fortschritte nicht erfolgten oder nicht weit genug gingen, weil sie nur symbolisch oder kosmetisch waren. Dies erzeugte damals Druck zur Konvergenz und führte letztlich zur Entstehung der Linkspartei.

Auch heute gibt es wieder diese Enttäuschung, nicht zuletzt weil der Neoliberalismus selber in die Krise geraten ist. Er hat die Fähigkeit zur Einbindung verloren und sich seit 2009 entweder in jenen radikalen Austeritäts-Neoliberalismus transformiert, der ganze Gesellschaften an den Rand der Depression und darüber hinausgetrieben und sich dadurch diskreditiert, oder sich stark nach rechts entwickelt hat. Es gibt ja auch eine Konvergenz der radikalen Rechten und einem, immer noch hardcore neoliberalen Flügel, die sich einerseits in ihren ökonomischen Forderungen treffen, aber eben auch politisch in vielerlei Hinsicht regressiv sind.

Auf der anderen Seite steht die neue Hegemonie rund um einen grünen Kapitalismus, die gerade in Deutschland noch wahnsinnig umkämpft ist von jenen fossilistischen Gruppen, die das Thema mit Fragen der Lebensweise zu verbinden wissen, wie mit dem Autofahren, Fleisch essen, nicht-Gendern etc. Das sind insbesondere in den Medien starke Fraktionen. Dem neuen grünen Kapitalismus gelingt es noch nicht, eine konsensfähige gesellschaftliche Antwort zu geben, nicht zuletzt weil die soziale Frage immer noch marginal behandelt wird. Sie modernisieren auf liberaler Ebene in Geschlechterfragen, in ökologischen Fragen, aber sie spalten die soziale Frage ab, und das ist ihr Pferdefuß, zumal sie ja auch einen rechten hardcore-neoliberalen Teil in der eigenen Regierung sitzen haben. Deswegen ist das Projekt inkonsistent und stößt auf der linken Seite jetzt schon wahnsinnig viele ab. Viele sind sozial enttäuscht, die Gewerkschaften halten der SPD nach wie vor die Treue wegen der wenigen Dinge, die sie umsetzt, und weil es auch niemand anderen gibt. Aber vor allem im sozial-ökologischen Feld fühlen sich viele abgestoßen von der derzeitigen Regierung und den Grünen, suchen nach Repräsentation oder nach neuen Organisationsformen und die mittleren und geringen Einkommen gehen gar nicht mehr wählen. Da ist also eine breite Repräsentationslücke entstanden, für die eine Linke eintreten könnte, wenn sie sich anders organisiert und klar kommuniziert. Im Moment fängt sie all diese rausfallenden Gruppen nicht auf.

Wenn man noch politisch wirksam sein möchte, dann gibt es hier also den Druck zur Konvergenz und erneut die Möglichkeit einer kollektiv formulierten Position. Es ergibt sich ein Feld, auf dem vieles zusammenkommt, sich aber noch nicht verdichtet und daher auch noch keine neue Situation ausstrahlt gegenüber denen, die nicht mehr wählen, nichts mehr erwarten, die aber so wichtig sind, um dem Ganzen eine Kraft, eine Verankerung zu verleihen. Es bleibt auf einer aktivistischen Ebene. Und es ist kein Automatismus, denn wenn es keine Organisation(en) gibt, die aufeinander zugehen und so etwas wollen, dann wird es auch nicht passieren.

Kommen wir zur Linkspartei: In dieser Zeit der 2000er Jahre wurde versucht – zeitweise sehr erfolgreich – alle politischen Tendenzen links der SPD zu vereinen. Dies war eine historische Möglichkeit, linke Parteieinheit unter den Bedingungen des Neoliberalismus zu formen. War die Linkspartei damit erfolgreich? Konnte Sie die Differenzen durcharbeiten und aufheben?

Wir hatten natürlich nicht den Hype um die Linkspartei wie Syriza, Podemos, Sanders und Corbyn, oder La France Insoumise. Im Gegensatz zu diesen tollen, aber eher kurzlebigen Aufbrüchen hat die Linkspartei für eine relativ lange Zeit – über 10 Jahre, was in so einem Interregnum, wo es permanent auf und ab geht, eine lange Zeit ist – sehr stabil den Laden zusammenhalten können und dabei relativen Erfolg gehabt. Das wurde in Europa auch so wahrgenommen. Neben den Wahlergebnissen war ein großer Erfolg – der heute nicht mehr so, oder teilweise sogar kritisch aufgefasst wird –, dass in der Organisation ein Generationenwechsel gelungen ist. Insbesondere die PDS4, aber auch die WASG5 waren ja überaltert und es gab immer die Sorge, ob der Übergang gelingt. Tatsächlich sind aber mehr als die Hälfte der Mitglieder in diesen Jahren eingetreten. Die Partei hat sich komplett erneuert und ist eine völlig andere geworden, allein durch die Mitgliedschaft.

Der antineoliberale Konsens hat lange getragen, obwohl wir nach der Finanzkrise längst in eine Zeit der großen und massiven Veränderungen der Gesellschaft getreten sind. Es gab in ganz Europa eine starke Umordnung aller Parteien und des Parteiensystems, nicht zuletzt von rechts. Entlang der Finanzkrise, der Geflüchteten-Krise, Corona, der Inflation, dem Ukraine-Krieg etc. entstanden Konfliktlinien quer durch die Gesellschaft und alle Parteien. Der antineoliberale Konsens innerhalb der Linkspartei konnte das schon bald nicht mehr tragen, weil er nicht mehr den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprach. In diesem Zusammenhang gelang keine breite Erneuerung quer durch alle Strömungen. In welcher Zeit sind wir eigentlich, was sind die neuen, relevanten Widersprüche in der Gesellschaft und wie können wir die multiplen Widersprüche oder Krisen in einem gemeinsamen Konzept adressieren? Diese Fragen konnten wir nicht beantworten. Es gab gute Vorschläge, aber letztlich konnten sich die drei Parteien innerhalb der Linkspartei an diesem Punkt nicht einigen, und es trat kein neuer Konsens an die Stelle des antineoliberalen.

Es begann ein Abschiedsprozess. Der schwindende Kitt der Macht erschwerte die Neuorientierung. Nun versuchten bestimmte Gruppen Distinktion gegenüber der Partei zu gewinnen, sich abzugrenzen und dadurch Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Fliehkräfte nahmen in alle Richtungen zu. Und da gehen dann interessierte Kreise mitten rein: bürgerliche Medien beispielsweise, denn nichts ist aufregender als Parteispaltung und Streit. Das dominiert dann die Debatte, und es gelang der Partei nicht mehr, das einzufangen und von einem strategischen Zentrum aus zu kommunizieren. Im Grunde genommen ergab sich eine Kakophonie der Meinungen. Weder die Mitgliedschaft noch die Wählerinnen wussten mehr, wofür steht diese Partei eigentlich?

Du sprichst von drei Parteien innerhalb einer. Was sind diese Tendenzen in der Partei? Waren sie von Anfang an sichtbar oder haben sie sich im Laufe der Zeit entwickelt?

Ich glaube, sie waren in der ein oder anderen Form immer da. Es gibt drei Projekte, jedes für sich genommen ist zu schwach und verfügt nicht über die (Strahl-)Kraft, um bundesweit mehr als fünf Prozent zu erreichen, was aber unzureichend reflektiert wird. Jedes der drei Teilprojekte trägt in sich wiederum mehrere Strömungen.

Das erste Lager ist ein (vor allem im Westen) linkssozialdemokratisches Projekt mit einem auf die soziale Frage fokussierten linkspopulistischen Flügel sowie einer pragmatischen linksgewerkschaftlichen Strömung um die alte WASG. Letztere stellt ein wichtiges Bindeglied zu einem Teil der älteren Generationen im Westen dar, die zahlenmäßig und generationell eine wichtige Gruppe vertreten und auch lange Zeit sehr aktiv waren, mittlerweile aber zunehmend im Ruhestand sind. Darunter hat die Verankerung in den Gewerkschaften gelitten. Zu diesem Lager gehörte vor ihrem Ausscheiden auch der linkskonservative Kreis um Sahra Wagenknecht.

Das zweite Lager ist die Bewegungslinke und ging aus dem früher postautonomen Flügel hervor, der sich jedoch komplett erneuert hat, weil er damals wie heute einen großen Teil der Parteineueintritte anzieht. Es ist deshalb zahlenmäßig so groß, bildet den jüngeren, aktivistischeren Teil der Partei und hat wiederum zwei Flügel: einen radikal-oppositionellen sowie einen pragmatisch linksradikalen Flügel, der sich neben verbindender Klassenpolitik auch für ein ‚rebellisches Regieren‘ einsetzt. Dieses Lager ist auch stark im Parteivorstand repräsentiert.

Und der dritte Teil ist das sogenannte Reformerlager, vor allem im Osten, mit drei Flügeln, einem sozial-konservativen Flügel (vor allem in der Fraktion), einem offen sozialliberalen Flügel sowie einer pragmatischen Regierungslinken.

In allen drei Großströmungen gibt es jeweils einen pragmatischen Teil. Wenn es gelänge, diese pragmatischen Kerne rund um ein strategisches Zentrum zu reorganisieren, dann hätte die Partei durchaus eine Zukunft. Dieses Zentrum müsste sowohl die Partei- als auch die Fraktions- und die Landesführung einschließen. Man müsste das stärker organisieren und sich gleichzeitig neu orientieren. Wenn das nicht gelingt, streben die anderen, jeweils für sich radikaleren Teile, auseinander. Und das ist dann schwer zusammenzuhalten.

Du hast die Reformer dem dritten Flügel zugeordnet. Würdest du für den sozial orientierten, gewerkschaftlichen Flügel das Adjektiv „Reformer“ nicht verwenden?

Wenn man einen positiven Reformbegriff hat, sind das alles Reformer, selbst die oft deutlich radikaleren, innerhalb der Bewegungslinken, die durch ihren Linksradikalismus nochmals eine andere Sprache sprechen. Aber alle Flügel verstehen sich mehr oder weniger auch als sozialistisch. Dabei gibt es auch einige, die einfach unter den bestehenden Rahmenbedingungen das Beste herausholen wollen und den Sozialismus heranziehen als Sonntagsrede und Perspektive, die die Gemüter anregt und zusammenhält – überspitzt ausgedrückt.

Generell würde ich sagen, der erste Flügel ist stark sozialdemokratisch geprägt und verfolgt teilweise eine gute linkssozialdemokratische Ausrichtung, seltener mit einer sozialistischen Perspektive. Vor allem geht es um Transformationsperspektiven unterschiedlicher Art, beginnend bei der klassisch sozialdemokratischen Strategie, über den Staat und die Gewerkschaften eine starke Verankerung der Arbeiterklasse in den Institutionen zu erreichen und darüber die Gesellschaft zu verändern. Aus der alten PDS heraus wurde unter der Überschrift „moderner Sozialismus“ – eine Debatte, die noch aus der SED kam – versucht, ein anderes Verständnis des Sozialismus zu erreichen, das eher evolutionär aber durchaus durch Brüche hindurch Einstiegsprojekte für sozialistische Politik sucht. Dieter Klein und Michael Brie stehen vor allem für solche Ansätze.

Das trifft sich mit einer linken Tradition, die auf die Transformation kapitalistischer Gesellschaften abzielt und schaut, wie dort Brüche eingeschrieben werden können, die einerseits reformistische Projekte – durchaus auch Einstiegsprojekte, um die Sprache mal zu verbinden – nutzen können, um weitergehende sozialistische Forderungen und Perspektiven sozusagen im Nachgang einzubringen. Deutsche Wohnen & Co enteignen ist eine klassische transformationsgeleitete sozialistische Strategie, die über Organisierung eine sozialistische Forderung reinzieht, die in erster Linie reformistisch ist – nichts anderes wäre die Verstaatlichung dieser Wohnungen in großer Zahl. Wir stellen sie unter eine öffentliche Verwaltung, die wir versuchen stärker zu vergesellschaften bzw. zu demokratisieren, um darüber wiederum nächste Schritte anzuregen. Damit soll die Vergesellschaftungsperspektive überhaupt erst wieder artikulierbar werden. In der Auffassung soll die Forderung dann am Ende an den Eigentums- und Machtverhältnissen anstoßen, sodass dann doch wieder über den Bruch – meistens wird Bruch gesagt, statt Revolution – nachgedacht werden könne.

Demonstration von Deutsche Wohnen & Co enteignen am 11. September 2021 in Berlin6

Das ist auch in der Klimafrage besonders deutlich, nur weiß es noch niemand so richtig zu formulieren. Diejenigen, die es tun, z.B. im Rahmen des Degrowth-Kommunismus – ich würde mich auch selbst als Ökosozialist bezeichnen – fordern das teils mehr, teils weniger plakativ. Auch da gibt es keine Revolutionsstrategie. Insofern treffen sich die sozialistische Transformationsstrategie und die Revolutionsstrategie an diesem Punkt, weil die eine die Vorbedingung wäre, um noch einen Schritt weiterzugehen. Auch wenn wir davon meilenweit entfernt sind, ist es keineswegs ausgeschlossen, weil wir aus einem Interregnum in eine Zeit der grün-kapitalistischen Hegemonie eintreten, die von viel stärkeren Krisen und Katastrophen geprägt sein wird. Die Revolutionsfrage könnte sich aufdrängen (mit anderen Begriffen sicherlich), weil es fraglich ist, ob dem Kapitalismus noch eine stabile Regulation gelingt. Zehn Jahre wird er’s schon noch machen, keine Sorge! Aber auf eine längere Periode hin ist das fraglich. Und bedeutet das dann gesellschaftliche Organisationsfragen nochmal von Grund auf zu stellen? Vielleicht mit einem Degrowth-Kommunismus oder wie immer wir es dann nennen? Es wird einer Art des Sozialismus bedürfen, die im Rahmen der ökologischen Frage die grundlegenden sozialen Aspekte zu lösen vermag.

Im zweiten Teil deiner 15 Thesen machst du Vorschläge, die bereits Teil der bestehenden Strategien der Partei sind. Obwohl du eine veränderte Situation konstatierst, pochst du auf die Bewahrung und Refokussierung der bisherigen politischen Organisation, Strategie und Ausrichtung. Ist das nicht widersprüchlich? Wäre es nicht plausibel, dass sich die Strategie parallel zur veränderten Situation ändern sollte?

Es gibt zwei Wege der Erneuerung. Entweder man bricht mit der alten Organisation und gründet eine neue, oder man versucht aus der alten heraus eine Neugründung zu bewirken. Beide Wege sind nicht leicht. Der Weg des Bruches und der Gründung einer neuen Organisation ist zu gewagt. In einer Zeit, in der es noch keine Bewegungsdynamik gibt, gefährdet man, was immerhin noch existiert. Es gibt ja eine funktionierende Basis von Aktivisten, Ortsgruppen etc., das sind zehntausende Leute, die aufzugeben ein großes Risiko wäre. So weit sind wir noch nicht, möglicherweise aber 2025. 2024 stehen diverse Wahlen an, es gibt eine Partei, die sich erneuern, Klarheit schaffen kann und dann sollte man diesen Weg versuchen. Das heißt aber, es bedarf eines Bruches mit dem Bestreben, immer so weiterzumachen, immer alles zusammenzuhalten bei der Vielstimmigkeit der Meinungen. Man muss jetzt auf die neuen Fragen abzielen. Die rein sozialpolitische Antwort reicht offenbar nicht, weil die Krisen und Konfliktlinien der Gesellschaft zu vielfältig sind. Also muss man etwas versuchen, um die verschiedenen Konfliktlinien zu verbinden und damit auch die gesellschaftlichen Gruppen, die dahinterstehen. Das wurde vorher schon versucht, ist aber nicht gelungen, weil viele den Weg nicht mitgegangen sind. Wenn wir die Debatten rund um die Grenzregime anschauen, dann sagen die einen, es gehe so nicht weiter, es seien zu viele Geflüchtete, und die anderen fordern offene Grenzen für alle. Das ist das Gegenteil des Versuches, sich innerhalb der Realität und ihres Widerspruchs zu bewegen, sondern da kippt man innerhalb des Widerspruches auf die eine oder auf die andere Seite. Das funktioniert nicht. Das kann man in vielen Fragen so sehen: in der Friedensfrage, in der Corona-Krise etc.

Überhaupt das Nachdenken fehlt in dieser Partei. Es ist nicht positiv besetzt, sondern wird mit Verratsvorwürfen belegt. Es wäre aber notwendig, damit sich überhaupt wieder eine neue linke, klassenorientierte Perspektive herausschälen kann. Und das heißt eine verbindende Politik, dabei bleibe ich, aber klassenpolitisch zugespitzt. In jeder Frage, in der wir arbeiten, gilt es immer den klassenpolitischen Standpunkt nach vorne zu stellen. Im Feminismus, in der Ökologie, in Geflüchteten-Fragen und natürlich in sozialen und ökonomischen Fragen, die in der Debatte der Partei kaum eine Rolle spielen. Und es braucht eine ganz andere Reaktionsgeschwindigkeit von links, mit wenigen Punkten zu all diesen Fragen, die man immer wieder kommuniziert, immer wieder. Wir sind eine Partei, die immer alles beantworten will. Nein, wir brauchen zehn Punkte, mit denen wir immer wieder kommunizieren können, was der Unterschied zwischen der Linkspartei und all den anderen ist, und die dann auch bei den Wähler*innen und Sympathisant*innen ankommen.

Die Linkspartei ist also eine Partei auf dem Boden des Neoliberalismus und sucht das Verbindende in einer Sammelbewegung zu finden. Auch du bleibst bei dem verbindenden Ansatz. Aber was ist diese zusammenhaltende Basis der Parteieinheit?

Wir haben zwei große Kerne: Das eine sind die mittleren und geringen Einkommen, die immer als erste leiden. Soziale Frage, Inflation, stagnierende Löhne, ökologische Folgen und ökologische Modernisierung, völlig klar: Es trifft sie immer am stärksten. Immer den Klassenstandpunkt deutlich zu machen, kann einen sehr großen, breiten Konsens bilden, der mit Blick auf die vielfältiger gewordenen Transformationen und Krisen eine neue Grundlage bilden kann – und ich sage nicht Sammelbewegung! –, diese unterschiedlichen Felder von den Ökos bis zu den Gewerkschaftern zusammenzubringen.

Dieser Grundkonsens ist herstellbar. Wir sollten um all diejenigen kämpfen, die zwar durchaus Differenzen haben, aber die gemeinsame Grundlage der klassenpolitischen Orientierung teilen. Auch wenn es oft eine rhetorische Formel ist, findet man es auch stark bei Sahra Wagenknecht. Das wäre ernst und als Basis der Gemeinsamkeiten zu nehmen und zu prüfen, was an realen Differenzen übrigbleibt. In der Partei wird nicht permanent übers Gendern geredet, das sind doch lächerliche Mythen – zu 90 Prozent bearbeitet die Partei die soziale Frage. Sie hat auch die Friedensfrage nicht vergessen und ist nach wie vor die einzige Partei, die gegen Waffenlieferungen und die Blockkonfrontation, und für Verhandlungen und Diplomatie ist. Aber die Differenzen im Einzelnen muss man austragen. Wie könnte etwa eine neue Friedensorientierung aussehen? Man wird nicht alles lösen können, aber die gemeinsame Grundlage ist so breit, dass sie dreimal reichen würde.

Und dennoch strebt die Partei auseinander. Ist es charakteristisch für die gesellschaftliche Linke, dass sie eben nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein oder Standpunkt findet, sondern sich immer weiter spaltet? Woran liegt es, dass die Linkspartei nicht zu dem, in deinen Worten, Verbindenden findet?

Ich sehe das nicht so. Es gibt große Lerneffekte im Vergleich zur Zeit vor zehn Jahren: Es ist mittlerweile Konsens, die soziale und ökologische Frage nicht gegeneinander auszuspielen, sondern die ökologische Frage systematisch mit einer klassenorientierten Haltung zu verbinden. Die Position, dass nur die Arbeiterklasse das lösen kann, schießt darüber hinaus und ist auch überwunden. Stattdessen braucht es natürlich Klassenbündnisse, Mitte-Unten-Bündnisse wie Michael Brie es immer nannte. Auch in der Eigentums- oder Vergesellschaftungsfrage lernen die unterschiedlichen Bewegungsteile voneinander. In der Mietenbewegung, aber eben auch in der Ökobewegung rund um die Energie- und Wärmewendefrage wird die Eigentumsfrage jetzt nach vorne gestellt. Auch in der Krankenhausbewegung geht man jetzt mehr in die privaten Krankenhäuser und stellt diese Frage explizit, nicht nur bezüglich der Personalbemessung oder der besseren Anerkennung in der Lohnstruktur, sondern die Eigentumsfrage. Da finden wechselseitige Bezüge und Lerneffekte statt. Auf der großen Vergesellschaftungskonferenz im Jahr 2022 wurden all diese Gruppierungen zusammengebracht. 2024 folgt eine Vergesellschaftungskonferenz, die sich ökologischen Fragen widmet. Es wird das Verbindende in den Vordergrund gestellt. Es ist positiv, dass die Jüngeren, auch in ihrer Diskussionskultur, hier lernen aus der Erfahrung von uns Älteren, die wir uns so gerne die Differenzen um die Ohren gehauen haben: Darauf haben die Jüngeren einfach keinen Bock mehr.

Und wir haben Gewerkschaften, die mittlerweile anders kämpfen, weil sie anders kämpfen müssen, um die Reallohnverluste in der Corona-Pandemie und der Inflation zu kompensieren. Nach 30, 40 Jahren Neoliberalismus mit sinkenden Reallöhnen sind sie gezwungen, konfliktorientierter aufzutreten. Verdi hat so 140.000 neue Mitglieder gewonnen.

Das alles lässt wieder hoffen, dass etwas konvergieren und sich verdichten kann. Die Krisen werden nicht aufhören. Sie sind Momente, in denen eine Dynamik einsetzen kann, die wir jetzt noch nicht haben, und deshalb noch nicht erkennen können. Wir konnten weder den „Heißen Herbst“ noch „Genug ist Genug!“ auf eine große Basis stellen. Das wurde in Deutschland auch durch den sogenannten Doppelwumms abgefedert. Er war nicht zielgerichtet, aber umfangreich genug, um dem sozialen Protest die Spitze abzubrechen. Und jetzt trudeln nach und nach die Rechnungen ein und die Leute merken, es reicht hinten und vorne nicht. Noch ist es vereinzelt. Es bringt noch keinen neuen Bewegungszyklus. Aber es rumort.

Werfen wir den Blick zurück. Inwiefern denkst du über die Geschichte der Einheit und der Brüche in den sozialistischen und kommunistischen Parteien Deutschlands nach? Ist diese Geschichte aufschlussreich für die aktuelle Situation der Partei? Oder sollte man diese Geschichte am besten vergessen?

Man kann die Geschichte nicht vergessen, wie soll das gehen? Aber oft werden Bruchstücke herausgenommen und instrumentalisiert. Nicht zuletzt wird die hübsche Verratsgeschichte von 1914 immer weitergetragen, es werden immer wieder neue Verräter gesucht. Das ist ein unproduktiver Umgang mit Geschichte, auch wenn er emotional nachvollziehbar ist, denkt man an die SPD, die Grünen, Syriza, oder die aktuelle Linkspartei mit ihren Verwerfungen. Der Verratsvorwurf mit Blick auf das Schisma zwischen Sozialdemokratie und radikaler Linker hilft aber nicht weiter. Stattdessen würde es helfen zu lernen, dass das Schisma der Linken immer zur Niederlage führt. Immer. Und es würde helfen zu lernen, nicht mehr auf die Einheits- und Massenorganisationen zu setzen. Das kommt aus einer anderen Gesellschaftsepoche und ist nun vielfältiger geworden. Nicht weil die Gesellschaft im besonderen Maße vielfältiger wurde, sie war es auch damals. Sie darf jetzt noch etwas vielfältiger sein, weil unterschiedliche Lebensweisen zugelassen werden. Aber auch damals gab es das Problem, dass viele Differenzen innerhalb der großen Massenorganisationen einfach hinten runterfielen, nicht artikuliert werden konnten oder gar zunichtegemacht wurden. Insofern sind eigenständige Organisierungen für die jeweiligen Themen notwendig. Ich gebe ein Beispiel im Kontext der Mosaik-Linken: Wir alle vertreten, dass die Behindertenrechte irgendwie wichtig sein müssten. Aber wir tun nichts dafür. Warum? Weil die Behindertenbewegung nicht stark genug ist, uns dazu zu zwingen. Deswegen organisieren sich zum Beispiel Queers, stärken ihre Position, überziehen auch Forderungen, um überhaupt ein Problem zu verdeutlichen. Das Überziehen, die Herstellung der Differenz ist notwendig, damit die anderen, insbesondere die großen, mit Macht ausgestatteten Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien erkennen, dass da ein Problem ist, auf das sie eingehen müssen. In diesem Moment besteht die Chance, etwas Verbindendes zu schaffen, solche Gruppierungen in einem Konvergenzprozess aufzunehmen. Das haben wir jetzt gehabt und in vielen Fällen wird noch darum gekämpft, etwa bei den Queers oder feministischen Gruppen, aber besonders auch bei den Jüngeren. Wir Älteren haben verdammt noch mal die Aufgabe, das auszuhalten und dafür zu sorgen, dass wir unser Verhalten verändern und zugleich Erfahrungen weitervermitteln.

Das kannst du eigentlich bei allen Fragen durchdeklinieren, und ich halte es für wichtiger als die alten Debatten über das Schisma von Reform und Revolution. Im Moment stellt sich die Frage von Zersplitterung und Verbindung, das ist das Schisma der Gegenwart. Aus der Geschichte ist zu lernen, dass Klarheit manchmal vor Einheit zu stellen ist, um eine Differenz herzustellen. Aber nicht bis zum Tode bitte, sondern nur bis dahin, wo dann die Verbindung wieder sinnvoll angegangen werden kann! Und wenn sie nicht sinnvoll ist, ja, dann macht es Sinn, sich zu trennen.

Du hast betont, dass die sozialökologische Frage für alle zukünftigen Ansätze zentral ist. Da scheint die Geschichte der 1980er Jahre durch, als sich die Umweltbewegung zunächst außerhalb der Linken formiert hat. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen, dass die Grünen die Institutionalisierung der Desintegration der Neuen Linken sind. Im weiteren Gefolge sind diese zum Establishment geworden. Wie könnte man verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt?

Also die Grünen sind Establishment, da muss man gar nicht drum herumreden, auch ihre Basis ist Establishment. Nicht die FDP ist die Partei der Bestverdienenden, sondern die Grünen sind es faktisch. Das ist soziologisch einfach so. Sie sind integriert.

Aber die Gründung der Grünen damals war konsequent und richtig, weil SPD und Gewerkschaften – mit wenigen Ausnahmen – nicht in der Lage waren, die ökologische Frage ernst zu nehmen. Insofern musste diese Differenz hergestellt werden. Und sie hat auch nicht die Linke zersplittert, sondern sie hat vielmehr viele zersplitterte, sektiererische Gruppen der Linken zusammengeführt. Viele Linksradikale und nicht zuletzt die meisten K-Gruppen sind in den Grünen aufgegangen. Das war eine Neuorganisierung von links mit der ökologischen Frage im Gepäck. Und schon damals sprachen wir übrigens von sozial-ökologischer Transformation. Ich war noch ganz jung, das war Mitte der 1980er Jahre.

Jetzt haben sich die Grünen von links mehr oder weniger überlebt. Sie sind im kapitalistischen Framing völlig aufgegangen, haben die soziale Frage und damit ihren linken Flügel marginalisiert. Da ist nicht mehr viel übrig, außer ein paar vereinzelten Leuten und der Grünen Jugend vielleicht. Damit ist sowohl die ökologische wie auch die radikal-antikapitalistische Frage ortlos geworden, wenn man sie nicht in der Linkspartei verorten kann.

Den Grünen und der Klimabewegung ist gelungen, dass niemand mehr an der ökologischen Frage vorbeigehen kann, es sei denn, man ist hardcore rechts. Und man würde gnadenlos verlieren. Wenn du keine Antwort auf diese Menschheitsfrage, die größte soziale und damit auch ökonomische Frage des 21. Jahrhunderts hast, dann bist du irrelevant. Und das haben die Grünen nicht. Sie erkennen die ökologische Frage zwar durchaus als eine ökonomische und versuchen den grünen Kapitalismus wieder zu dynamisieren, Investitionsfelder, Akkumulationsfelder zu eröffnen etc., aber nicht in Verbindung mit der sozialen Frage, sondern oft gegen sie.

Die Ökologiebewegung radikalisiert sich heute jenseits der Grünen. Fridays for Future und die Letzte Generation, aber auch ältere Organisationen merken, dass die Grünen nicht mehr ihr Vehikel, ihr Repräsentant sind. Jetzt können diese Gruppen sich rein auf die Bewegung fokussieren oder sie orientieren sich um. Während die Letzte Generation sich nur in der Protestform radikalisiert, radikalisieren andere sich auch in den Forderungen, indem sie Eigentums-, Vergesellschaftungs- und Kapitalismusfragen stellen. Das ist gut so.

Das bietet die Chance, aus den Grünen die Kräfte herauszubrechen, die nach wie vor das Ursprungsprogramm, die sozial-ökologische Transformation, die lange ein viel zu theoretischer Diskurs war, konkret machen wollen, und diese dann entweder in einer Neuorganisation oder einer neu organisierten Linkspartei aufzufangen. Es braucht also ein neues Schisma, das diesmal nicht die Linke wie in den 1980er Jahren trifft, sondern die Grünen und Teile der SPD, wobei man fragen kann, wer da eigentlich noch ist. Bei denen ist die Unterstützungsstruktur noch groß. Teile der Sozialverbände und der Gewerkschaften orientieren sich nach wie vor auf die SPD, weil sie in der Regierung sitzt. Aber die Skepsis gegenüber der SPD ist groß. Die Skepsis ist allerdings auch gegenüber der Linkspartei groß.

Was wäre die Konsequenz, wenn die Linkspartei sich auflöst?

Erstmal: Die Partei löst sich ja nicht auf, wenn sie es nicht in den Bundestag schafft. Wir müssten schauen, wo es noch die Inseln des Überlebens gibt, z.B. Stadtstaaten wie Berlin, Bremen oder Hamburg, vielleicht sogar Thüringen. Es gilt, sich dort zu stabilisieren, wo die Linkspartei nach wie vor stark ist und es andere linke Gruppierungen und Überzeugungen in der Bevölkerung gibt, und von dort aus Gespräche und Sondierungen zur Reorganisation zu führen: ob auf bundesweiter Ebene etwas wie eine neue ökosozialistische Partei mit einer klaren Klassenorientierung möglich ist; ob Ökosozialismus das falsche Label ist, weil Sozialismus immer noch schwer artikulierbar und damit einschränkend ist; ob es auch eine sozial-ökologische Partei mit klarer Klassenorientierung – ohne Sozialismus – täte, weiß ich nicht. Diese Gespräche wären zu führen mit Leuten, die wissen, dass Bewegung die grundlegende Dynamik ausmacht, aber Bewegungen eben volatil sind und einer stabilen Struktur bedürfen, um wichtige Ressourcen zu organisieren und ein Interregnum überdauern zu können. Das wäre dann tatsächlich das Gespräch über eine neue Organisation, in die existierende Teile der Linkspartei sich integrieren könnten. Aber das ist wirklich Zukunftsmusik.

Lass mich die Frage umformulieren. Was wäre verloren, wenn die Linkspartei sich auflöst?

Wir treten in eine Zeit der starken Polarisierung zwischen einem schlecht organisierten grün-kapitalistischen Hegemonie-Projekt auf der einen und einem regressiven, konservativen und radikal rechten Projekt – die Konvergenz von AfD und CDU wird auf jeden Fall kommen, erste gemeinsame Arbeit sehen wir schon – auf der anderen Seite. Da sehe ich die Linke ohnehin für zehn Jahre in der Defensive. Ohne Linkspartei wird es eine Defensive ohne starke Organisation sein, die sich in viele mehr oder weniger starke Organisationen aufteilt. Eine Gewerkschaftslinke wird es, genauso wie eine Klimabewegung und eine Mietenbewegung, in irgendeiner Form weiterhin geben. Aber es gäbe dann keinen übergreifenden Akteur mit den Ressourcen der parlamentarischen Demokratie. Das wäre eine deutliche Schwächung in einer langen Phase der Defensive, bis die Krisen und Brüche so groß werden, dass vielleicht wieder etwas Neues entsteht. Damit sind wir dann auf einen Katastrophismus zurückgeworfen. Und natürlich ist der schöne alte Begriff der Barbarei mehr als wahrscheinlich. |P


1. Mario Candeias und Eva Völpel: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland. Hamburg 2014.

2. Mario Candeias: „Wir leben in keiner offenen Situation mehr“, LuXemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis (August 2023). Online abrufbar unter: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/.

3. Strategie der Regierung zur Neutralisierung politischer Differenzen durch Einbeziehung entgegengesetzter Strömungen.

4. Partei des Demokratischen Sozialismus, gegründet 1989, ging 2007 in der Linkspartei auf.

5. Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, gegründet 2005, ging 2007 in der Linkspartei auf.

6. © Shushugah (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:DWE_march_with_Berlin_background.jpg), „DWE march with Berlin background“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.