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Die SPĂ– und die Linke

Platypus Review Ausgabe #29 | Januar/Februar 2024

Von Herbert Auinger, David Gartner und Sonja Grusch

Am 21.04.2023 veranstaltete die Platypus Affiliated Society in Wien eine Podiumsdiskussion mit Herbert Auinger (Gegenstandpunkt/Kein Kommentar), David Gartner (sozialistischer Aktivist, SPĂ–-Mitglied) und Sonja Grusch (Internationale Sozialistische Alternative).

Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die unter https://www.youtube.com/watch?v=iYUOvuA-hkw vollständig angesehen werden kann.

BESCHREIBUNG

Die aktuellen Debatten um die Führung der SPÖ – angeheizt durch die Kandidatur von Andreas Babler, der Hoffnungen von linken AktivistInnen auch außerhalb der SPÖ weckt – führten in den letzten Wochen zu tausenden neuen Parteieintritten und rufen Erinnerungen an prägende Momente der Millennial Linken wach. In den Sinn kommen die erste Kandidatur von Bernie Sanders in den USA oder die Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der britischen Labour Party 2015. Corbyn, Sanders, Babler? Während sich nun nach den Millennials eine neue Generation auf der Linken zu politisieren beginnt, möchte die Platypus Affiliated Society folgende Fragen diskutieren: Welche Chance würde ein Wahlsieg Bablers für die Linke eröffnen? Inwiefern wäre eine Kandidatur Bablers vergleichbar mit sich selbst als sozialistisch verortenden Politikern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn in den letzten Jahren? Was haben wir von ihnen gelernt? Welche Rolle spielt die SPÖ für den nächsten notwendigen Schritt im Kampf um den Sozialismus?

EINGANGSSTATEMENTS

David Gartner: Die Veranstaltung heißt „Die SPÖ und die Linke“, zwei Dinge, die hier vermeintlich getrennt werden. Ich werde über die Linke sprechen, dann über die SPÖ und schließlich beides zusammenführen. Man kann nur über die SPÖ sprechen, wenn man sich die Linke generell ansieht.

Zur sogenannten „Linken“: Ich glaube, es ist keine gewagte These, dass eine Linke, die diesen Namen noch verdient hat, gesamtgesellschaftlich sowie in Österreich seit Jahrzehnten an Schlagkraft verloren hat und immer mehr in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Diese Linke ist vor allem eines: zerstritten, zersplittert, auseinanderdividiert, unwichtig und einflusslos. Auf realpolitischer Ebene sind emanzipatorische, groß angelegte Projekte weitgehend gescheitert. Während die Grünen immer schon eine bürgerliche Partei waren, ruht sich die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten auf ihren Errungenschaften aus, an die sich heute fast keiner mehr erinnert. Es ist so weit gekommen, dass die Sozialdemokratie nicht einmal mehr Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen versucht, sondern es sich im kapitalistischen System voll und ganz bequem gemacht hat. Aber auch bei außerparlamentarischen Projekten sieht es nicht besser aus. Ob kleiner Lenin-Lesekreis an der Universität oder postautonome Kleinkriege gegen die Polizei auf der Straße, sie alle können die Verhältnisse offensichtlich nicht erschüttern. Gleichzeitig dominiert neoliberale Politik, die gesamtgesellschaftlich auch noch als „links“ und „progressiv“ wahrgenommen wird, die Debatten. Studien bestätigen, dass sich politische Bewegungen und Parteiprogramme verschiedenster Parteien dem „progressiven Neoliberalismus“ immer mehr angleichen.

Woher rührt das? Um dem Ganzen auf den Grund zu gehen, muss verstanden werden, unter welchen Verhältnissen die Linke überhaupt agiert. Die bürgerliche Gesellschaft erfährt durch die zunehmende Neoliberalisierung in vielen Bereichen eine Reorganisierung und Zuspitzung ihrer Verhältnisse. Der Widerspruch zwischen den bürgerlichen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Autonomie einerseits sowie der Nichterfüllung derselben in der kapitalistischen Produktionsweise andererseits nimmt im Neoliberalismus noch größere Dimensionen an. Differenz und Wettbewerb unter den ArbeiterInnen werden immer intensiver, für sie gibt es weder Gewissheiten noch Sicherheiten. Den Individuen wird erklärt, sie wären an ihren prekären Lebenslagen, an Armut und Unsicherheiten selbst schuld. Als einzige Handlungsmöglichkeit verbleibt die Selbstoptimierung, das härtere Arbeiten an einem selbst. Die Subjekte sollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, während ihnen alle staatlichen und sozialen Mittel für dieses gekürzt und genommen werden. Auch Begriffe der „Ich-AG“ oder der „ArbeitskraftunternehmerIn“ zeigen, wie die Subjektivierung des Individuums unter neoliberalen Verhältnissen voranschreitet. UnternehmerInnen unseres Selbst zu werden, ermöglicht KapitalistInnen, noch mehr Kompetenzen aus dem Privatbereich des Individuums zu nutzen, die Trennung zwischen Privatsphäre und Arbeitsplatz weiter zu untergraben. In der taylorisierten Fließbandarbeit wurde der subjektive Anteil der LohnarbeiterInnen aus dem Arbeitsprozess ausgegrenzt, im Neoliberalismus hingegen wird versucht, gerade jenen in Betrieb zu nehmen. Die Einzelnen werden dazu veranlasst, in ein neues wettbewerbsorientiertes Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen zu treten. Das neoliberale Credo: „Hilfe zur Selbsthilfe“ schlägt schnell um in den autoritären Appell: „Wenn du dir nicht selbst hilfst, hilft dir keiner.“ Der Versuch des neoliberalen Kapitalismus, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, kann nur scheitern. Alex Demirović spricht deshalb auch von der „Krise des Subjekts“, das sich im neoliberalen Kapitalismus nur krisenhaft reproduzieren kann. Ein riesiger psychomedizinischer Apparat soll das Subjekt schließlich mit den herrschenden Verhältnissen versöhnen, an denen es doch eigentlich zugrunde geht.

Es ist offensichtlich, dass sich diese Verhältnisse in der sogenannten „Linken“ widerspiegeln. In einer „Linken“, die von ökonomischen Fragen weitestgehend abgelassen hat und in ihrer neoliberalen Form identitätspolitische Kategorien in den Vordergrund stellt. Die postmoderne Identitätspolitik fungiert als ideologischer Blitzableiter. Sie ist die links-woke Version vom neoliberalen „harten Arbeiten an sich selbst“ als vermeintliche Form der Befreiung. Anstatt gemeinsam Klassenkampf zu organisieren, sieht sich die Linke im Wettbewerb untereinander. Im Wahn der ständigen Selbstoptimierung wird die postmoderne Identitätspolitik zum Emanzipationsversprechen für Linke, die sich ganz im Sinne des Kapitals in Vereinzelung, Zerstreuung und Spaltung statt in der Organisierung der Arbeiterklasse üben sollen. Die Kategorie der Klasse fällt hinter partikulären Ausgrenzungskategorien zurück, es tritt das ein, wovor so viele gewarnt haben: Die Linke setzt sich vor allem aus der sogenannten „Professional Managerial Class“ (PMC) zusammen und macht nur noch Politik für diese neue urbane Mittelklasse. Von der Kritik der politischen Ökonomie will sie nichts wissen oder ist nicht in der Lage, konsequente Schlüsse aus dieser zu ziehen – womit wir bei der SPÖ gelandet wären.

Die Sozialdemokratie hat in Österreich einen höheren Stellenwert als in vielen anderen Ländern, ich nenne etwa den Austromarxismus, die Errungenschaften des Roten Wiens oder den Kampf gegen den Austrofaschismus. Die SPÖ hatte einmal eine große Massenbasis und besitzt noch immer eine gewisse Verankerung in der Bevölkerung. Es ist daher widersprüchlich, wenn viele Linke sagen, die SPÖ sei total bedeutungslos, um sich dann darüber zu ärgern, was diese Partei gerade macht. Dass Linke in Österreich überhaupt enttäuscht von der SPÖ sind, zeigt, wie tief sie eigentlich verankert ist. Wir können das bei den Vorfeldorganisationen, den Kinderfreunden, den Naturfreunden, den Roten Falken, der Sozialistischen Jugend (SJ) oder den Freiheitskämpfern beobachten, da ist für jeden etwas dabei. Die Verankerung reicht in die Gewerkschaft, in Medien wie Kontrast und Momentum, die selbst wiederum als Thinktanks für die Partei fungieren. Außerdem ist sie, und das unterscheidet sie stark von linken Kleinstparteien, nicht nur eine urbane Partei. In jeder noch so kleinen Gemeinde in Österreich wird man neben Burschenschaften und Bauernbünden auch die SPÖ finden, meist auch eine SJ-Gruppe.

Die SPÖ steckt jedoch schon lange in einer Hegemoniekrise. Rendi-Wagner1 ist die Kandidatin des Stillstands, der Postenschacher und des liberalen Bürgertums. Sie vertritt die Anliegen der PMC, steht für eine generelle Entpolitisierung und orientiert sich an der SPD, mit der sie sich auch dieselbe Werbeagentur teilt. Sprachlich repräsentiert sie Manager, versucht als Technokratin überhaupt nicht mehr, die ArbeiterInnenklasse anzusprechen und erscheint inhaltlich völlig leer. Doskozil2 hingegen versucht, diese ArbeiterInnenklasse anzusprechen und den Fokus auf Forderungen im Arbeitsbereich zu legen, greift dabei aber immer wieder rechtspopulistische Themen auf. Wenngleich genau diese Strategie von Beratern in der SPÖ schon lange empfohlen wird, um endlich wieder Stimmen zu bekommen, haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass die SPÖ auch auf diese Weise nur bedeutungsloser wird.

In der Hegemoniekrise dieser beiden Richtungen hat sich eine Lücke aufgetan, die Andreas Babler für eine linke Kandidatur genutzt hat, die auch für das Partei-Establishment überraschend war. Das war eine der erfolgreichsten linken Kampagnen der letzten Jahre in Österreich, in dem Sinne, dass sie auch über Wien hinausging. Andreas Babler kommt aus Traiskirchen in Niederösterreich und unterscheidet sich daher von der urbanen Linken, die wir kennen, die bei irgendwelchen Woken auf Twitter auf Aufmerksamkeit stößt, aber nicht über diese hinausgeht. Babler spricht tatsächlich die Arbeiterklasse an. Er kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie und hat es geschafft, das glaubwürdig zu verkörpern. Vor allem ist er nicht idealistisch, indem er von irgendwelchen linken Ideen redet und diese dann versucht zu verkaufen, sondern Dinge fordert, die er in Traiskirchen bereits selbst politisch umgesetzt hat.

Man könnte sich nun fragen: Warum macht man jetzt noch Politik in dieser SPÖ? Es gibt ja zum Beispiel LINKS und viele andere Kleinparteien, die in der Stadt ein paar Leute anziehen. Ich denke, die Idee eines „neuen linken Narrativs“, auf der Parteien wie LINKS oder die neue Formierung der KPÖ fußen, ist eine postmoderne Idee, die ich kritisieren möchte. Klassenverhältnisse sind keine Erzählungen, Klassenkampf ist kein Narrativ, sondern etwas, das es real zu führen gilt, und Andi Babler hat mit seiner Politik in Traiskirchen Klassenkampf real geführt. Wenn man daher realpolitisch etwas umsetzen will, dann wird der Weg an der SPÖ mit ihrer geschichtlichen Rolle in Österreich nicht vorbeiführen. Gerade die Enttäuschung der breiten Masse von Rechten wie Linken über die SPÖ zeigt, wie sehr sie immer noch in der Gesellschaft verankert ist, auch aufgrund ihrer großen Reformen und Innovationen des 20. Jahrhunderts. Das sieht man auch daran, dass innerhalb von wenigen Tagen nach der Ankündigung von Bablers Kandidatur zehntausend Menschen der SPÖ beigetreten sind. Das sind mehr Menschen als irgendeine andere linke Gruppe, ja selbst mehr als die Grünen überhaupt als Mitglieder haben. Das heißt, dass da noch ein Potenzial ist, welches man nutzen kann.

Sonja Grusch: Für SozialistInnen ist es immer wichtig, die objektiven Rahmenbedingungen mitzubedenken. Wir sind in einer Periode von multiplen Krisen und steuern auf die nächste große Wirtschaftskrise zu. Wir befinden uns in einer Periode eines neuen Kalten Krieges, der in manchen Regionen der Welt gar nicht mehr so kalt ist. In Österreich gibt es die Bedrohung durch die FPÖ, die laut aktuellen Umfragen die stimmenstärkste Partei ist. Somit ist eine schwarz-blaue Regierungskoalition3 nach der nächsten Nationalratswahl4 wieder eine reale Perspektive und Gefahr. Das ist das große Damoklesschwert, das über uns hängt. Andererseits gibt es in den letzten Jahren zunehmend Protest und Widerstand, zum Beispiel große Jugendbewegungen gegen den Klimawandel oder die feministische Protestwelle, die ausgehend von Lateinamerika auch in vielen anderen Ländern Frauen- und queere Themen aufgreift. Außerdem sehen wir seit der Corona-Krise die Rückkehr der ArbeiterInnenklasse, und zwar nicht nur als Klasse an sich, sondern auch als Klasse für sich. Die ArbeiterInnen sehen sich nicht nur als Beteiligte, sondern entwickeln ein – wenn auch verwirrtes – Verständnis davon, dass „wir da unten“ mit „denen da oben“ nichts zu tun haben, dass es sich um unterschiedliche Interessen handelt und „wir“ etwas tun müssen, um von „denen da oben“ etwas zu bekommen.

Ich stimme Davids Analyse der Postmoderne zu, aber ich denke, dass sich seit geraumer Zeit das Bewusstsein vieler AktivistInnen verändert hat; weg von individuellen Lösungen und wieder hin zu einem Verständnis davon, dass es internationale Lösungen braucht, wie etwa in der Frage des Klimas. Dem gegenüber haben wir de facto eine fehlende Organisierung der ArbeiterInnenklasse. In Österreich haben wir Gewerkschaften, die nicht kämpferisch sind, und eine Sozialdemokratie, die weitestgehend oder vollständig verbürgerlicht ist, was nicht heißt, dass sie keine Mitglieder mehr hat. Mitglieder aber haben auch andere Parteien. Die ÖVP hat wahrscheinlich mehr Mitglieder als die SPÖ und teilweise sogar mehr proletarische. Wesentlich ist, dass sich die Bewegungen, die Kämpfe und die Stimmung innerhalb der ArbeiterInnenklasse schon seit den 1980er-Jahren nicht mehr durch die Sozialdemokratie ausdrücken, was in den 1960er- und 1970er-Jahren noch der Fall war.

Das sind die Rahmenbedingungen für Andreas Babler. Er entspricht dem völlig berechtigten Wunsch, nicht mehr Bittsteller sein zu wollen und sich dauernd dafür rechtfertigen zu müssen, dass man ein ohnehin nur kleines Stück vom Kuchen haben möchte. Das ist sehr gut und spricht vielen aus der Seele. Daher kommt auch die Begeisterung, die sich ganz eindeutig innerhalb eines gewissen Teils der SPÖ ausdrückt. Es wäre spannend zu wissen, wie alt die vielen tausend Menschen sind, die zurzeit gerade der SPÖ beitreten. Sind das Leute, die noch nie etwas mit der Sozialdemokratie zu tun hatten? Sind das eher Leute, die bereits im Umfeld der SPÖ oder schon einmal Mitglied waren und nun wieder zurückkommen?

Ob und wie stark die Begeisterung anhält, wird davon abhängen, ob Andreas Babler die interne Wahl zum Parteivorsitzenden gewinnt und wie sein Wahlkampf für die nächste Nationalratswahl aussehen wird. Für die Linke wäre Andreas Babler das optimale Ergebnis der internen Wahl, wenn er bei seinem jetzigen Programm bleibt und damit möglichst schnell in den Nationalratswahlkampf geht.

Auch Sanders und Corbyn, die bereits angesprochen wurden, sind Linke, die ähnlich wie Andreas Babler tatsächlich eine Massenbegeisterung ausgelöst haben. Wenn Sanders statt Clinton kandidiert hätte, hätte er die Möglichkeit gehabt, Trump in die Schranken zu weisen, auch weil er versuchte, in manchen Bereichen ein ähnliches WählerInnenklientel anzusprechen. Sowohl Sanders als auch Corbyn sind allerdings massiv gescheitert. Welche Lehren können wir daraus ziehen?

Beide haben nicht mit dem Apparat gebrochen, der auf der anderen Seite der Klassenlinie steht. Das gilt für den SPÖ-Apparat genauso wie für die Labour Party und die Demokratische Partei. Letztere war sowieso immer eine bürgerliche Partei. Dieser Apparat ist kein Instrument, mit dem die ArbeiterInnenklasse, die Linke oder sonst jemand irgendetwas erreichen könnte. Wenn man es ernst meint, dann müsste man die Partei vollständig neu aufbauen. Es reicht nicht, den Vorsitzenden oder auch nur den Vorstand der Partei auszutauschen, sondern man müsste die gesamte Partei von unten herauf vollständig neu aufbauen und vollständig mit ihr brechen. Man müsste an den Ausspruch Kreiskys5 „Ein Stück des Weges gemeinsam gehen“ anknüpfen, nur ohne sich dabei auf Teile des Kapitals zu beziehen, wie Kreisky das gemacht hat. Große Teile der Linken stehen aktuell abseits von sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen, bei Babler ist das momentan auch noch der Fall. Daher wäre es gut und wichtig, wenn er zum Beispiel die aktuellen Proteste im Bildungs- und Sozialbereich, die Kollektivvertragsverhandlungen oder auch die Opposition in den Gewerkschaften – die Kolleginnen sind ja zu Recht mit den Abschlüssen, die weitgehend unter der Inflation sind, nicht zufrieden – aufgreifen würde. Es reicht nicht, den Kämpfenden auf die Schulter zu klopfen, sondern es geht darum, Teil dieser Kämpfe zu sein. Die Sozialdemokratie nur durch die bestehenden Parteistrukturen zurückzugewinnen, ist unmöglich. Alle, die in den letzten 75 Jahren versucht haben, die Partei durch ihre Strukturen nach links zu rücken, sind restlos gescheitert. Es gibt in der Geschichte tatsächlich kein einziges Beispiel dafür, dass ohne einen vollständigen Bruch die Sozialdemokratie wieder nach links zurückgerückt worden wäre. Es geht also darum, die Grenzen der Partei zu überschreiten und dort zu sein, wo sich die Kämpfe auch tatsächlich abspielen. Das ist nicht innerhalb der SPÖ. Dort, wo die ArbeiterInnenklasse für ihre Interessen eintreten will und kämpft, muss sie das in der Regel gegen die Sozialdemokratie machen, wie zum Beispiel auf Gemeindeebene in Wien gegen die Kürzungspolitik der SPÖ Wien, durch die der Sozialbereich ausgeblutet wird, die Spitäler völlig unterfinanziert werden und die Mieten und Energiekosten in die Höhe getrieben werden. Das heißt, die Klasse muss sich in ihren völlig legitimen Kämpfen eigentlich gegen die Sozialdemokratie stellen. Insofern ist ein Austausch der Führung zu wenig.

Die Grenzen der Partei zu überschreiten ist also das eine, die Grenzen des Systems zu überschreiten das andere. Gerade in einer Periode von starken kapitalistischen Krisen wird der Spielraum für Reformen und reformistische Politik immer kleiner. Wenn der Kuchen insgesamt schrumpft, ist es schwierig, dieselbe Größe des Kuchenstückes zu erhalten. Alle linken Projekte, die versucht haben, im Rahmen der kapitalistischen Logik zu agieren, wie zum Beispiel Syriza, Podemos und andere, sind gescheitert. Sie sind gescheitert, weil sie eben die Grenzen des kapitalistischen Systems nicht überschritten haben.

Zu meiner Schlussfolgerung: Ob, wie und in welcher Form SozialistInnen, die im Moment nicht Teil der Sozialdemokratie sind, Andreas Babler unterstützen werden, ist offen. Das hängt davon ab, wie sich die Situation sowie die Positionierung Bablers und die der SPÖ weiterentwickeln werden. Ich glaube aber, dass wir nicht den Fehler begehen dürfen, auf die Nationalratswahlen zu warten, um dann wieder in die alte Stellvertreterpolitik zu verfallen, die wir in Österreich immer hatten: Wir wählen irgendjemand, der das dann für uns macht. Stattdessen geht es jetzt darum, sich in den Kämpfen, den Bewegungen, den Protesten, die eben in der Regel leider sehr oft gegen die Sozialdemokratie, auch gegen die Grünen – und gegen alle restlichen Parteien sowieso – geführt werden, aktiv zu engagieren. Wir müssen jetzt aktiv werden und uns organisieren. Es wird weder Sozialismus in einer Stadt noch in einem Land geben, sondern es braucht eine internationale sozialistische Alternative!

Herbert Auinger: Der Gegenstandpunkt Verlag ist eine Denkfabrik, ein marxistischer „Thinktank“. Ich vertrete die Argumente, die mir einleuchten und sonst nichts. Ob diese vom Gegenstandpunkt kommen oder nicht, macht sie nicht besser oder schlechter. Ich selbst betreibe den Podcast Kein Kommentar auf cba.fro.at, das Archiv für freie Radiosendungen. Ich habe vor zwei Jahren damit angefangen, mit einer Serie, die den Titel Die Familie: Ort des Glücks, Ort der unbezahlten Arbeit, Ort des Psychoterrors, Ort des Amoklaufs trägt. Anschließend habe ich ein paar Beiträge zu Rassismus und Antirassismus gemacht und seit über einem Jahr geht es hauptsächlich um Krieg und Kriegshetze.

Bernie Sanders und Corbyn waren, so wie ich es der Einladung der Platypus Affiliated Society zu dieser Diskussion entnehme, für Millennials offenbar eine Sensation, aber als alter weißer Knacker kommt es mir eher wie ein Déjà-vu vor. Wie oft ist schon jemand mit linken Sprüchen populär geworden und hat dann wieder einen Abgang gemacht? Was haben wir von Bernie Sanders und Corbyn gelernt? Ich habe von den beiden überhaupt nichts gelernt. Mir ist auch nicht bekannt, dass sie irgendwelche Einsichten verbreitet hätten, aus denen man hätte lernen können. Gelernt habe ich höchstens, dass beide mit linken Phrasen populärer wurden, wie man es gewohnt ist, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Ich möchte mich dem Thema durch eine Abgrenzung von der Linken, dem Marxismus als auch der Rechten annähern. Das Rationale am Marxismus ist die Kritik der politischen Ökonomie. Das ist die Erklärung des Kapitalismus und nur deswegen lohnt es sich überhaupt, Marx zu studieren, weil man dabei etwas über das Hier und Heute lernen kann, nämlich über die ökonomischen Gegenstände von Ware und Geld, über Kapital, Lohn bis hin zum fiktiven Kapital. Das sind die Dinge, die uns heute gegenüberstehen und insofern handelt es sich um wertvolles Wissen. Es bringt nichts, sich in eine Tradition zu stellen. Der Marxismus und auch die radikale Linke sind trostlos und werden durch ihre Bezugnahme auf Tradition auch nicht besser. Das taugt nichts.

Die Quintessenz des Ganzen ist sodann, dass der Reichtum und die Produktion im Kapitalismus nicht zum Zweck da sind, Dinge zu schaffen, die dann konsumiert werden können. Linke glauben immer, dass sie eine merkwürdige Ungerechtigkeit daran beklagen müssten, dass ausgerechnet die, die arbeiten, schlecht aussteigen und die, die Arbeit kommandieren, viel besser aussteigen. Tatsächlich hat das schon seinen Sinn. Der Zweck der Produktion ist nicht Reichtum, der verteilt werden kann, sondern dass die Reichen reicher werden. Das Buch heißt schließlich Das Kapital. Das ist implizit schon ein Seitenhieb meinerseits gegen den gewerkschaftlichen Kampf, da dieser notgedrungen eine Art Lebenslüge reproduziert. Der gewerkschaftliche Kampf tut so – und er muss so tun –, als würde durch das Zusammenwirken von Arbeit und Kapital ein Produkt entstehen, das für alle ausreicht, aber „leider“ unfair verteilt werde. Das „leider“ ist allerdings fehl am Platz, denn dieses Resultat ist so vorgesehen. Kapitalismus bedeutet, dass die Reichen reicher werden müssen, wofür es auch einen völlig unverfänglichen, technokratischen Ausdruck gibt: Wachstum. Wir brauchen Wachstum und Wachstum muss sein. Wir sollten uns aber die Frage stellen, was denn eigentlich wachsen muss? Die Löhne sind es nicht unbedingt. Die Wirtschaft muss wachsen und das ist der Reichtum der Reichen. Das ist der Sinn des Ganzen und das klappt vorzüglich, denn bei jeder Reichtumsstatistik stellt sich heraus, dass die Reichen wieder einmal reicher geworden sind. Das gilt sowieso für Konjunkturperioden, aber auch für Krisen, und die Armen haben Glück, wenn sie so arm bleiben, wie sie sind, vielleicht werden sie sonst noch ärmer. Das ist es, was wir gerade vor uns haben und worüber sich meine Vorredner ausgekotzt haben. Das ist der Sinn der Sache. Marx war seinerzeit, als er eine kämpfende Arbeiterbewegung vorgefunden hatte, optimistisch und vertrat die Meinung, dass wenn die Proletarier schon kämpfen müssen, sie zumindest für das Richtige kämpfen sollten. Das heißt, sie sollen den Laden kippen, eine radikale Absage an Geld und Eigentum formulieren und eine Produktion im Interesse der Produzenten einführen. Marx hat aber die Sozialdemokratie – oder von mir aus die Linke – unterschätzt. Hierzu gibt es übrigens ein gutes Buch vom Gegenstandpunkt Verlag mit dem Titel Das Proletariat. Die Ausgangslage wird dort wie folgt referiert: Das Kapital ruiniert seine Quelle. Das ist nach wie vor aktuell. Danach wird die Logik des gewerkschaftlichen und des politischen Kampfs nachgezeichnet mit dem Resultat: Die Arbeiterklasse erkämpft sich Artenschutz. Das ist der Erfolg der Sozialdemokratie. Der Pferdefuß besteht darin, dass es sich dabei um eine „Never Ending Story“ handelt, die schon deshalb nie aufhört, da das Kapital innovativ ist und sich die Innovationskraft regelmäßig und notwendig zu Ungunsten des Proletariats auswirkt. Engels hat ja seinerzeit mit der Wohnungsfrage begonnen, die Wohnungsnot gibt es noch immer. Das Familien- und Bildungswesen braucht Subventionen oder wird gleich staatlich organisiert. Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Rente, all das überfordert den Lohn. Ein Lohn reicht nicht für das Leben des Proletariats. Der Sozialstaat zwingt die Proletarier dazu, es trotzdem zu schaffen, indem ein Teil des Lohns zwangskollektiviert und dann in der Regel von den Beschäftigten zu den Unbeschäftigten umverteilt wird. Klar ist, dass die meisten buchstäblich von der Hand in den Mund leben. Wenn das Einkommen einmal etwa durch Arbeitslosigkeit oder Lockdown ausfällt, sind vielleicht noch ein paar Ersparnisse da, aber angesichts dessen, dass möglicherweise Kreditraten zu zahlen sind, ist die Grenze des Möglichen bald erreicht. Wenn man krank wird, verdient man nichts und die Operationen und Kuren kann man selbst sowieso nicht finanzieren. Für die endgültig Verbrauchten ist das erst recht der Fall. Das ist die Leistung der Sozialdemokratie, das ist die Leistung der Linken und die Notwendigkeit, die nie aufhört.

Links und rechts sind politische Strömungen und Positionen, die auf den bürgerlichen Staat bezogen sind. Rechts steht für Recht und Ordnung, Eigentum, Leistung, Geldwirtschaft. Links ist eine notwendige Ergänzung. Linke weisen darauf hin, dass das Programm der Rechten ständig das Proletariat beschädigt, aber es braucht die Proletarier, da irgendjemand arbeiten muss. In diesem Kontext steht die Linke für staatliches Betreuungswesen. Die Linken sagen völlig zu Recht, dass es umfangreiche Instandsetzungs- und Instandhaltungsarbeiten braucht, damit das Proletariat weiterarbeiten kann. Dafür haben sich die Linken stark gemacht. Diese Instandhaltungsarbeiten sind, wie man weiß, konjunkturabhängig, da das staatliche Budget nicht überfordert werden darf. Der Lohn darf auch nicht zu sehr steigen, denn wenn er zu hoch ist, machen die Arbeitgeber nicht mehr mit und dann ist gar keiner mehr da. Insofern muss man froh sein, wenn man einen Lohn hat und davon leben kann. Das ist links.

Ich habe versucht, „rechts“, „links“ und „marxistisch“ in aller vertretbaren Kürze darzustellen und hoffe, es gibt Bedürfnisse nach Erläuterungen.

Eine süffisante Bemerkung über meinen Vorvorredner David Gartner möchte ich mir nicht verkneifen: Du machst dir sicher keine Illusionen darüber, dass sich die SPÖ bekanntlich Jugendorganisationen leistet, die – wie man es im Fachjargon nennt – „links blinken“ dürfen. Das heißt, sie dürfen jungen, unzufriedenen Leuten weismachen, dass die SPÖ für ihre Anliegen möglicherweise doch etwas übrighaben könnte. Vielleicht setzen auch manche ihre Hoffnungen auf Andreas Babler. Meine Vorrednerin Sonja Grusch hofft dann, die Enttäuschten einzusammeln. Das vergiftete Angebot der SPÖ besteht darin, dass jeder Unzufriedene, jeder Marxist sowieso und auch jeder Linke, der es ernst meint, einsieht, dass er politisch ohnmächtig und in einer trostlosen Position ist. Die SPÖ andererseits ist Teilhaberin an der Macht, sie ist im Parlament, in verschiedenen Landtagen, stellt Landeshauptleute, ist Sozialpartner. Sie ist mächtig. Wäre das nicht was für die Ohnmächtigen? Das ist das verführerische Geschenk der SPÖ. Der Pferdefuß, und das weißt du genauso gut wie ich, besteht allerdings darin, dass die Macht, an der die SPÖ für gewöhnlich beteiligt ist, für genau die Verhältnisse verantwortlich zeichnet, über die du dich ausgekotzt hast. Die SPÖ hält all das am Laufen und ist kein frei verfügbares oder frei zirkulierendes Mittel!

ANTWORTRUNDE

DG: Sonja, du hast auf jeden Fall viele richtige Dinge gesagt, vor allem aber ist deine Aussage spannend, dass Babler nicht mit dem Parteiapparat gebrochen habe. Man sieht jetzt gerade, dass die SPÖ versucht, alles an diesem Parteiapparat so umzuformen, damit die Kandidatur Bablers verhindert wird. Unmittelbar nachdem Babler seine Kandidatur angekündigt hat, ist Christian Deutsch6 vor die Presse getreten und hat verkündet, diese Umfrage7 sei doch nur ein Stimmungsbild und zähle eigentlich nicht. Auch die vierte Kategorie bei der Mitgliederumfrage „Ich stimme für keinen der Kandidaten“, und dass Andreas Bablers Funktion als „Bürgermeister aus Traiskirchen“ auf dem Stimmzettel unterschlagen wurde, deuten darauf hin. Andi Babler ist als linker Kandidat in der SPÖ nicht vom Himmel gefallen, sondern Produkt einer Arbeit, die in den frühen 2000er-Jahren begonnen hat und in der die Sozialistische Jugend einen Linksruck organisierte. Dass es diese riesige Kampagne mit Andreas Babler nach jahrzehntelangen Versuchen etwas zu erreichen gibt, würde ich als Erfolg bezeichnen. Egal, was am Ende tatsächlich herauskommt: Derzeit verbreitet diese Kampagne linke Inhalte mit vollem Erfolg in ganz Österreich und viele Menschen aller Altersklassen, die vorher nichts mit der Partei zu tun hatten, treten der SPÖ bei. Der Vergleich mit Corbyn und Bernie Sanders ist schwierig, da sich ein Wahlkampf in den USA in größeren Dimensionen bewegt als in Österreich. Außerdem handelt es sich bei der Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden nur um einen Mitgliederentscheid.

Es ist ein generelles Problem der Linken, dass sie sich davon abwandte, Dinge materiell zu analysieren, stattdessen nur noch nach Vergleichen sucht und dafĂĽr unangemessene Schablonen anlegt.

Als jemand, der die Kritik der politischen Ökonomie ernst nimmt, sehe ich das wie Herbert Auinger, dass etwa Moral keine politische Kategorie ist. Der Linken geht es momentan nicht darum, Ausbeutung abzuschaffen, sondern sie nach Identitätskategorien gerecht zu verteilen. Das ist ein großes Problem mit dieser Linken und mit dieser Form des Antikapitalismus, aber nichts, was man nur der SPÖ zuschulden kommen lassen kann, sondern der gesamten Linken. Die SPÖ ist ein Teil von dieser, repräsentiert aber nicht die gesamte Linke. Die Dinge, die an der SPÖ zu kritisieren sind, sind oftmals Dinge, die an der ganzen Linken zu kritisieren wären.

SG: Positiv ist, dass es Andi Babler ermöglicht hat, wieder über verschiedene Klassenthemen, wie etwa die 32-Stunden-Woche oder eine ordentliche Bezahlung zu sprechen. Das ist sehr gut und sehr wichtig. Wir müssen diese Themen weiterentwickeln. Angesichts der massiv hohen Inflation ist zum Beispiel die Forderung nach inflationsindexierten Löhnen, die es etwa in Belgien gibt, absolut notwendig. Sie verhindert das inflationsbedingte Abrutschen in die Armut und hebelt zudem die Gewerkschaft nicht aus, da diese über Reallohnerhöhungen verhandeln und diese erkämpfen kann.

Der zweite Punkt ist die drastische Klima- und Energiekrise: Die Leute können sich das Heizen nicht mehr leisten. Glücklicherweise war es diesen Winter nicht so kalt, dennoch waren das Heizen und andere Formen der Energienutzung ein massives Kostenproblem. In der Klimakrise ist die Frage der Verstaatlichung und Vergesellschaftung des gesamten Energiesektors zentral, wobei die Wiener SPÖ vorbildhaft voranschreiten könnte, wenn sie es wollte.

Ich habe nicht gesagt, dass Andi Babler nicht mit dem Apparat gebrochen hat, sondern dass wir noch nicht an diesem Punkt sind. Er müsste es machen, um überhaupt etwas von dem umsetzen zu können, was er fordert – das ist eine Lehre aus Corbyn. Ohne hier eine „Schablone“ anzulegen, lässt sich – und das sollten Sozialistinnen und Sozialisten machen – aus der Geschichte lernen, denn man muss nicht jeden Fehler wiederholen. Corbyns Fehler war, dass er den Apparat weitgehend unangetastet gelassen hat. Dass er versucht hat, Parallelstrukturen aufzubauen, so wie Chavez versucht hat, eine Parallelwirtschaft aufzubauen, anstatt den Kapitalismus anzugreifen. Das funktioniert nicht. Diese Lehre muss Andi Babler ziehen und muss mit diesem Parteiapparat vollständig brechen, wenn er es ernst meint. Wir werden sehen, ob er dies macht. Sollte er das nicht tun, besteht die Gefahr der Enttäuschung und des Frustes darüber, dass wieder ein linkes Projekt gescheitert ist. Wenn jemand Klassenthemen aufgreift, grässlich scheitert und ein großes Loch hinterlässt, ist das die beste Basis für das Anwachsen der extremen Rechten. Daher gibt es hier eine große Verantwortung, keine Halbheiten zu machen, sondern den ganzen Weg zu gehen. Meine eigene Aufgabe ist es nicht, Enttäuschte aufzusammeln, ich bin kein Rattenfänger. Es geht mir um den gemeinsamen Kampf mit den Kolleginnen und Kollegen, die heute draußen stehen, die morgen draußen stehen, um sich gegen jene Politik, die durch das Establishment, den Kapitalismus und auch durch die Sozialdemokratie verbrochen wird, zu wehren. Ich befürchte, dass manche, die jetzt Hoffnung haben, enttäuscht werden; mit jenen ist der Kampf für eine echte Organisierung der ArbeiterInnenklasse zu führen.

HA: Die Frage, wer sich wie zum Apparat stellt, die geht mich wirklich nichts an. Ich orte hier jedoch wieder einen Versuch, zwischen einer guten linken Absicht und einem realpolitischen Scheitern so zu unterscheiden, dass es heißt: „Das war gut gemeint, aber der Apparat hat es verhindert.“ Die Forderungen, die Babler stellt, muss er notgedrungen stellen, aber man weiß, dass das ohnehin alles realpolitisch bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschliffen werden wird, worüber ich mich hier aber nicht groß verbreiten möchte.

Dass Traiskirchen ein Hotspot des Klassenkampfes sei, ist mir neu. Wenn der Kandidat Babler sagt, er möge die Menschen, ist das ok. Wenn er sagt, er sei einer von uns, ist das insofern komisch, weil er das ausgerechnet sagt, um uns verlassen zu können, nämlich nach oben. Er will ja in den Kreis der Machthaber aufsteigen und das Einer-wie-wir-Sein hinter sich lassen. Aber wer weiß, vielleicht schafft er es. Doch die Geschichte ist wesentlich trivialer. Der Frau Rendi-Wagner wirft man vor, dass sie keine Wahlen gewonnen hat. Das ist ihr einziges Manko. Das hat mit Programmatik, Sozialpolitik oder Forderungen nichts zu tun. Der Herr Doskozil ist der Meinung, er könne es besser und sagt, er habe es im Burgenland bewiesen. Man nimmt ihm aber übel, dass er dies gegen die Parteispitze und nicht zu ihrer Unterstützung vorgebracht hat. Babler dagegen ist nun der unbelastete Dritte. Das ist alles.

Wenn Babler sagt, wir sind keine Bittsteller, wendet er sich gegen ein Resultat der Sozialdemokratie, ein Resultat des Sozialstaates. Das trostlose Ergebnis der Sozialdemokratie – und ich möchte mich über die Klassenkampfphrasen wirklich nicht groß auslassen – hat bereits Jörg Haider ausgeschlachtet. Das Ergebnis ist, dass der kleine Mann oder die kleine Frau, mit einem Wort, die kleinen Leute diejenigen sind, die alles ausbaden müssen, was ihnen die großen Leute aus Politik und Wirtschaft auferlegen. Das sind die, die von sich wissen, dass sie nichts in der Hand haben, dass sie auf die großen Leute angewiesen sind, die ein Herz für die Armen haben und dann etwas für sie tun. Es ist die radikale Absage an jeden Klassenkampf. Ein Proletarier hat vielleicht einmal gewusst, dass er sich in einem Gegensatz zum Unternehmertum befindet und es einen Kampf gibt, der auszutragen ist. Der kleine Mann hingegen ist sich seiner Hilflosigkeit bewusst, deshalb geht er wählen und hofft darauf, dass sich die, die er wählt, doch nicht als Lumpen entpuppen.

FRAGERUNDE

Was mir bei diesem Podium abgeht, ist die Beschäftigung mit und die materielle Analyse der Gesellschaft, in der wir jetzt gerade leben. Kapital-Lesekreise sind gut, aber wenn die Erkenntnisse nicht über das 19. Jahrhundert hinauskommen, ist das ein bisschen lieblos. Es steht schön in der Tradition der Neuen Linken, dass man glaubt, man müsse nur die Leute überzeugen, damit der Sozialismus komme, doch Einsichten oder Ideen allein werden nicht reichen. Vielleicht kommen wir ja als MarxistInnen zurück zu einer materialistischen Kritik der Verhältnisse und überlegen uns, warum wir in einer Situation sind, wo sich so viele Leute vom politischen System abwenden und der Kapitalismus in einer Profitabilitätskrise ist, in der klar wird, dass das Geld, das von den Zentralbanken in das kapitalistische System gepumpt wird, nicht mehr ausreicht, um die Krise aufzuschieben. Ein erstes Anzeichen dafür ist die Inflation, in der man versucht, die Löhne verdeckt zu drücken. Auch die auf dem Podium genannte Rede von den „multiplen Krisen“ ist eine bürgerliche Antwort auf die manifest werdende kapitalistische Krise; diese versucht, das Kapitalverhältnis zu naturalisieren. Gerade in der Klimabewegung und Klimakrise, in der zum Verzicht aufgerufen wird, um den Leuten noch mehr wegzunehmen, wird die Naturalisierung des Kapitalverhältnisses offensichtlich.

In welcher Situation sind wir also, in der es selbst der SPÖ, die eine beschissene Partei ist, möglich wird, die Frage zu stellen: Könnte es sein, dass wir vielleicht ein wenig systemkritischer werden sollen? Zur Frage, warum Corbyn und Sanders gescheitert sind, möchte ich Folgendes anmerken: Sanders war im ersten Wahlkampf 2016 im Rust Belt sehr stark, 2020 überhaupt nicht mehr. Das hängt damit zusammen, dass die „Squad“, diese Lifestyle-Sozialisten um Alexandria Ocasio-Cortez, ihn unterstützte und sehr viele Stimmen der Arbeiter kostete; dafür hat ihn die ganze Mittelklasse gewählt. Bei Corbyn verhielt es sich ähnlich.

DG: Wie bei Corbyn und Sanders ist es entscheidend, von wem sie unterstützt werden und was es die ArbeiterInnenklasse kostet. Das ist auch eine Frage, die sich bei Andi Bablers Wahlkampf in den nächsten Wochen noch stellen wird. Die Tatsache, dass Babler einen Arbeiterhintergrund hat, aus Niederösterreich kommt und am meisten auf Social Media und in der Twitter-Blase, einer Akademiker-Bubble der woken Linken, die ich bereits kritisierte, gefeiert wird, ist ein reales Problem. Man muss sich fragen, ob Babler die Unterstützung durch diese Bubble wirklich hilft oder er dadurch nicht vielmehr in ein links-wokes Eck gedrängt wird, wie das zum Beispiel der Falter8 versucht. Durch letzteres werden tatsächliche Arbeiter und Arbeiterinnen jedenfalls zu Recht denken, dass er sie nicht vertritt.

Natürlich kann man es als Illusion betrachten, als Linker in der SPÖ politisch aktiv sein zu wollen. Meine Gegenfrage wäre dann aber: Ist es nicht eine Illusion, außerhalb der SPÖ, in kleinen Organisationen oder Kleinparteien etwas zu tun? Wo gibt es denn tatsächlich mehr Schlagkraft? Wir sehen auch in der ganzen außerparlamentarischen Linken keine erzielten Erfolge. Jetzt gerade ist es ein realer Erfolg, dass sich irgendwo in Innsbruck, Bregenz oder Gmünd 500 Leute einen tatsächlichen Linken ansehen. Es ist ein großes Problem der Linken, dass sie es nicht schaffen, aus dem urbanen Kontext auszubrechen. Daher finde ich es spannend, was gerade passiert und sehe es als Potenzial, das lange nicht mehr da war. Wir dürfen gespannt sein, wie es ausgeht.

Meine erste Frage geht an David und Sonja: Ihr seid der Meinung, dass der politische Moment, der vor ca. acht Jahren begonnen hat – eine Art von Aufschwungphase mit Jeremy Corbyn und Bernie Sanders, mit Momentum und der DSA – dass also dieser Moment relativ klar gescheitert ist. Sonja, du hast gesagt, weder Sanders noch Corbyn haben mit der Partei gebrochen, und David, du hast in deinem Eingangsstatement klar gesagt, dass die realpolitischen emanzipatorischen Versuche der letzten Jahre alle gescheitert seien. Meine Frage an euch wäre: Was waren denn die Erfolge, die man in den letzten acht Jahren im Zusammenhang mit diesen Bewegungen verbuchen konnte? Gab es überhaupt Erfolge? Oder ist der einzige Erfolg der, dass man wieder das Wort „Sozialismus“ in den Medien gehört hat?

Und an Herrn Auinger: Sie haben gemeint, dass Sie als abgebrühter Veteran in der Linken von Anfang an wussten, dass die Millennials mit diesen Buzzwords an der Nase herumgeführt würden. Was bedeutet es, dass es – wie Sie gemeint haben – einmal ein Proletariat gegeben hat, das etwas anderes war als der kleine Mann oder die kleine Frau oder die kleinen Leute? Was bedeutet es für Sie, dass das Proletariat heute nicht mehr existiert und Marxisten relativ wenig machen können? Inwiefern hilft uns der Marxismus, dessen einziger Sinn und Zweck nach Ihren Worten in der Kritik der politischen Ökonomie bestehe, zu verstehen, wie wir von der Vergangenheit, die scheinbar mehr Potenzial aufwies, zur Gegenwart gekommen sind?

HA: Ich möchte meine etwas längere Antwort mit einer Kritik an der Platypus Affiliated Society verbinden. Das Kapital ist ein aktuelles Buch, weil die Gegenstände heute wie damals vorhanden sind. Über Ware, Geld, Lohn, Kapital, Kredit, fiktives Kapital, Zins kann man etwas lernen, dessen Quintessenz ist: Wenn das Proletariat die Verhältnisse nicht kippt, dann kommt es nie aus der Scheiße raus. Ich denke, das ist allgemein bekannt. Ich möchte noch einmal das Buch vom Gegenstandpunkt Verlag mit dem Titel Das Proletariat als Geschichte der Arbeiterbewegung empfehlen, denn wenn man sich als Marxist oder radikaler Linker positioniert, steht man in einer Tradition, ob man sich dazu bekennt oder nicht. Und zwar deshalb, weil es die zwei großen Anläufe der Arbeiterbewegung gegeben hat: zum einen die Sozialdemokratie, zum anderen den realen Sozialismus. Beide haben sich meines Erachtens zu Unrecht auf Marx berufen. Wenn man nun das, was im Kapital steht, für richtig befindet und eine radikale Absage an die Verhältnisse für notwendig hält, dann muss man klären, was im realen Sozialismus und in der Sozialdemokratie passiert ist. Das will sich die Platypus Affiliated Society, wenn ich sie richtig verstanden habe, auch vornehmen. Man muss doch schlüssig darlegen, was im realen Sozialismus passiert ist, damit man den Scheiß nicht noch einmal macht oder wie sozialdemokratischer Kampf geht, damit man nicht auf ihn hineinfällt. Man muss sich die immanenten Prinzipien der Planwirtschaft klarmachen, um zu erkennen, warum der reale Sozialismus gescheitert ist. Darüber muss man notwendigerweise Bescheid wissen. Aber wenn man sich durch linke Literatur durchwühlen will, wenn man Lenin, Trotzki, Luxemburg bis zu Adorno durchgeht, kann man nicht lernen, was im realen Sozialismus passiert ist, und von Adorno kann man auch nichts über Sozialdemokratie lernen. Die gute Nachricht ist: Das hat der Gegenstandpunkt Verlag im Großen und Ganzen erledigt. Der Sozialdemokratie widmet sich das Buch Das Proletariat und über die Staatsräson, die politische Ökonomie des realen Sozialismus, hat der Gegenstandpunkt Verlag auch Auskünfte gegeben, die weder der bürgerlichen Argumentation, die nach der Erfahrung des gescheiterten Sozialismus behauptet, dass dieser ohnehin nicht möglich war, noch jenen Argumenten folgen, nach denen es im realen Sozialismus zu wenig Marktwirtschaft und zu wenig Demokratie gegeben hätte.

Ich hatte gehofft, dass sich die Platypus Affiliated Society so etwas vornimmt, aber ich nehme zur Kenntnis, dass sie das offenbar nicht tut. Wollt ihr also eure Zeit wirklich damit verschwenden, euch als Ideengeschichtler und Archivare des linken Schrifttums von irgendwo bis irgendwo zu betätigen? Das hat mich sehr an akademische Unsitten erinnert, deren Wesen im Pluralismus besteht. Dort gibt es viele Theorien, manche Übereinstimmungen, manche Gegensätze, deren Quintessenz darin besteht, dass die einen es so sehen und die anderen eben anders. Wenn man Politologie studiert, dann weiß man, dass es viele Ansätze gibt, und wenn man das hinter sich hat, dann kennt man sich in der Politikwissenschaft aus, aber von Demokratie hat man keine Ahnung. Der Meinungen gibt es viele, aber die Wahrheit ist eine, sagt der Instinkt der Vernunft. Das sagt Hegel und das kann man glauben oder nicht glauben. Aber es ist notwendig, sich mit der Sozialdemokratie und dem realen Sozialismus zu befassen, die sich beide auf Marx berufen und beide Selbstmord begangen haben, wenn man etwas Vernünftiges dagegen aufstellen will.

SG: Gab es Erfolge? Jede Erfahrung ist wichtig, doch kommt es auf den objektiven Rahmen an, in dem sie gemacht wird. Es gab nämlich seit den 1990er-Jahren einen massiven politischen und ideologischen Backlash, aus dem sich die Linke, die ArbeiterInnenklasse, die ArbeiterInnenbewegung erst mühsam wieder herausbewegen muss. Das darf man nicht vergessen.

Zur vorangehenden Frage: Ich bin schon ein paar Jährchen politisch aktiv und es ist wichtig, mit der Theorie vertraut zu sein. Es ist aber auch wichtig, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich politisieren. Die einen politisieren sich über das Klima, die anderen über ihre Situation am Arbeitsplatz, die Dritten über Frauenthemen oder andere Themen. Die Aufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten ist, zu zeigen, dass all das in der Frage des Kapitalismus und der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse wurzelt. Wenn ich mich mit der Frage von Gewalt gegen Frauen beschäftige, hat das nichts mit „woker“ Politik zu tun, aber die Lösungen, die uns im Regelfall angeboten werden, sind „woke“. Es ist aber zum Beispiel kein kleinbürgerliches Getue, wenn sich Leute in Myanmar für demokratische Rechte und nicht nur für bessere Löhne erschießen lassen. Zu glauben, dass es zwischen ökonomischen und politischen Kämpfen keine Verbindung gäbe, ist ein vollständig unmarxistischer Zugang.

In Bezug auf die Frage, was sich hier getan hat, glaube ich, dass wir eine Entwicklung beobachten können. Während am Beginn der Klimabewegung schwachsinnige individualistische Lösungen, wie etwa, dass man in kein Flugzeug mehr steigen dürfe, standen, sehen wir nun ein Verständnis für die internationale Dimension des Problems und die Notwendigkeit kollektiver Lösungen. Das sind noch keine sozialistischen Ansätze, das ist noch kein tiefgehender Klassenstandpunkt, aber es gibt eine Entwicklung von Bewusstsein und dort müssen wir als Aktivistinnen und Aktivisten ansetzen. Wie ich in der Einleitung bereits sagte, gibt es ein Zurückkommen der ArbeiterInnenklasse, nicht nur als Klasse an sich, sondern auch als Klasse für sich. Dass die Gesundheitsbeschäftigten in den Demokratieprotesten in Myanmar ganz vorne waren, dass sich in Belarus die ArbeiterInnenklasse gegen die Diktatur organisiert hat, die Streikwelle in Britannien, die Massenstreiks gegen die sogenannte Pensionsreform in Frankreich, der organisierte „Striketober“ in den USA – das alles sind Zeichen dafür, dass die ArbeiterInnenklasse beginnt, aus der Lethargie und dem Unverständnis über die eigene Macht und die eigenen Möglichkeiten herauszukommen.

Woran sind Corbyn und Sanders gescheitert? Wie ich in der Einleitung sagte, erstens, weil sie nicht mit den Parteien und ihrem engen Rahmen gebrochen haben; zweitens, weil sie nicht mit dem System und dem engen Rahmen kapitalistischer Logik gebrochen haben. Das sind die Hauptgründe, warum Reformisten und Linksreformisten in diesem System scheitern müssen. Mein letzter wesentlicher Punkt betrifft Marx: Marx war nicht nur ein Theoretiker, Marx war ein Praktiker, Marx war ein Kämpfer. Wenn man Marx auf die Theorie reduziert, dann hat man ihn tatsächlich nicht verstanden.

DG: Bezugnehmend auf die Frage nach realpolitischen Erfolgen in den letzten acht Jahren: In Österreich kann man – gerade in der jetzigen Situation – überlegen, ob ein solcher Erfolg darin besteht, dass ein Bürgermeister in Traiskirchen sich deutlich gegen die Versuche, ihn in das Partei-Establishment zu integrieren, zur Wehr gesetzt hat, klare Kante gezeigt und dort tatsächlich linke Sozialpolitik umgesetzt hat. Dieser Bürgermeister hat dann einen Vorzugsstimmenwahlkampf in Niederösterreich geführt, bei dem er auf dem Listenplatz 35, dem letzten, ebenso viele Vorzugsstimmen erlangt hat wie der Spitzenkandidat und schließlich dieses Moment genutzt hat, um eine Bewegung zu starten, von der wir noch sehen werden, wie viel Potenzial sie hat. Wie bereits gesagt: Egal, wie diese Bewegung ausgeht, verschiebt sie – ich will nicht den Begriff „Diskurse“ verwenden, den ich ebenso wie die Postmoderne hasse – die Debatten in eine gewisse Richtung. Es geht darum, dass viele zu Recht zu lange nichts mehr mit Parteipolitik oder Politik an sich zu tun haben wollten und jetzt das Gefühl haben, dass sich da etwas tut, dass da etwas passiert. Dass jemand bei Ö249 im Fernsehen ist, der von Sozialismus spricht, verschiebt die Rahmenbedingungen, unabhängig davon, wie seine Kampagne ausgehen wird. Langfristig kann das nur funktionieren, wenn es so weitergeht wie in den letzten Wochen und diejenigen, die jetzt der SPÖ beigetreten sind, nicht ins Partei-Establishment eingegliedert werden. Aber wie es genau weitergehen wird, kann niemand wissen.

Meine erste Frage richtet sich an Herbert: Es ist ja schön, dass man beim Gegenstandpunkt Verlag alle Argumente bekommt, die man braucht, um die Revolution zu machen. Sieht man sich aber die reale Geschichte der Marxistischen Gruppe (MG) und des Gegenstandpunkt Verlags an, ist auch diese nicht besonders von Erfolg geprägt. Der Höhepunkt der Mitgliederzahl der Marxistischen Gruppe lag wohl irgendwann in den 1970er-Jahren bei ein paar Tausend. Seitdem ist es ziemlich bergab gegangen, woran nicht nur der Verfassungsschutz und die Berufsverbote schuld waren. Was spricht also dafür, an eurer doch ziemlich erfolglosen Strategie, das Proletariat zu agitieren und mit Argumenten zu versorgen, festzuhalten?

Meine zweite Frage richtet sich an David: Du bist dem Vergleich von Andreas Babler mit Corbyn und Sanders ausgewichen, indem du gesagt hast, es handle sich um unterschiedliche Dimensionen. Es stimmt zwar, dass die USA, wie wir wissen, größer als Österreich sind. Der Beamtenapparat der SPÖ in Österreich aber ist in Relation zur Bevölkerungszahl größer und fester im Sattel als jener der Demokratischen Partei oder der Labour Party. Der bürokratische Apparat der SPÖ, den Andreas Babler bekämpfen und abbauen muss, wird sich mit Klauen und Zähnen dagegen wehren. Wieso glaubst du, dass dieser stinkende Leichnam der Sozialdemokratie sich doch noch in ein Vehikel für die Arbeiterbewegung verwandeln lässt? Was ist das rationale Motiv, jetzt dort reinzugehen und das zu versuchen? Wie soll Babler das schaffen und will er das überhaupt?

HA: Dass Marx auch im Rahmen der Internationale tätig war, ist bekannt und trivial. Er hat nicht nur das Buch Das Kapital geschrieben, sondern war auch der Meinung, man müsse versuchen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse durchzusetzen. Was die Marxistische Gruppe und den Gegenstandpunkt betrifft, tut es hier nichts zur Sache, warum sich die MG aufgelöst hat.

Warum es aufs Proletariat ankommt, ist eine ganz schlichte Erkenntnis. Auch das kann man bei Marx lesen. Das Proletariat produziert das Kapital als seine feindliche Macht, die ihm gegenübersteht, und darum kann es das auch lassen. Das ist alles. Das ist nicht spektakulär. Mehr ist es nicht. Ob und wie man erfolgreich ist, ist eine andere Frage. Wenn man sich schon mit dem ganzen Scheiß beschäftigt, was einem ja nicht erspart bleibt, wenn man Zeitung liest und Nachrichten anschaut, dann haben die, die den Gegenstandpunkt machen, die Entscheidung gefällt und beibehalten: Wenn, dann machen wir es ordentlich. Sich aufgrund einer diffusen Unzufriedenheit über alle möglichen Probleme zu beklagen, ist Quatsch. Die, die man anklagt, machen ihre Sache nämlich richtig, nur ist ihre Sache eben feindlich. Wenn man das einmal verstanden hat, wird man diese Einsicht nicht mehr los. Hier und heute kann man versuchen – und das macht auch die Gegenstandpunkt-Redaktion – gegen das, was geschieht, anzustänkern.

Es tobt zum Beispiel ein Kulturkampf um familiäre Werte. Die Rechten wollen die Familie als Keimzelle des Staates, als natürliche Einrichtung, als natürliche Gemeinschaft, als naturgesetzlich propagieren. Bei der FPÖ steht, dass „Vater“ und „Mutter“ keine Rollen, die man einnehmen oder verweigern kann, sondern biologisch determiniert seien. Das nimmt solche Auswüchse an, dass Rechte sogar einen Giz10 darüber bekommen, wenn eine Drag Queen Kindern etwas vorlesen möchte – was mir persönlich übrigens völlig egal ist – und sie tatsächlich daran hindern wollen. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, weshalb in Kindergeschichten eine Prinzessin vorkommen muss, auch wenn sie genderkritisch und emanzipatorisch nicht gerettet wird, sondern selbst jemand anderen rettet. Aber gut, das ist meine Borniertheit.

DG: Weshalb ich an diesem stinkenden Leichnam der SPĂ– festhalte, ist eine sehr berechtigte Frage. Man stellt sie sich, wenn man in der SPĂ– aktiv ist, immer wieder auch selbst. Auch wenn man ĂĽberhaupt politisch aktiv ist und linke Politik oder den Sozialismus generell will, denkt man sich, dass die Gesellschaft immer weiter in die andere Richtung rĂĽckt und dass, egal, was wir machen, es nicht viel bringt.

Ich sehe die SPÖ nicht als unentbehrliches Mittel, sondern als noch bestehende Möglichkeit, etwas zu erreichen. Vor allem in den letzten Wochen, in denen 9.000 Leute, davon wahrscheinlich fast alle für einen linken Kandidaten, Babler oder Kowall11, in die SPÖ eingetreten sind, ist der eigentliche Beweis gegeben worden, weshalb diese Partei noch Mobilisierungspotential hat und eine Möglichkeit für viele Leute darstellt. Wenn man in drei Tagen mehr Leute in ganz Österreich mobilisieren kann als jegliche andere Linke, stelle ich die Gegenfrage: Was wäre eine gewinnbringendere Alternative als die SPÖ, einer Partei, die in jeder Gemeinde als Alternative zum Bauernbund der ÖVP und den Burschenschaften besteht? Es gibt dort eben keine drei verschiedenen coolen, hippen, linken Organisationen, zwischen denen man wählen kann. Weder die KPÖ noch LINKS wird es innerhalb der nächsten 10, 20 oder 30 Jahre schaffen, auch nicht in der Frage von Vereinsstrukturen, eine Alternative aufzubauen, zu der auch der Opa aus dem Burgenland stoßen kann, wenn er politisch aktiv werden möchte. Diese Strukturen gibt es nur in der SPÖ und wurden über Jahrzehnte hinweg aufgebaut.

Es geht nicht darum, die perfekte Option zu haben. Wir leben im Kapitalismus und die Optionen, die wir haben, sind scheiße. Dennoch muss man sich überlegen, wo das größte Mobilisierungspotential liegt. Und das sage ich als jemand, der das Gefühl hat, die Linke schon durchgespielt zu haben, von komischen autonomen Protesten über irgendwelche K-Gruppen bis zu NGO-Aktivismus. Das hatten wir alles schon, das wurde alles schon durchgespielt und jetzt sitze ich hier und könnte, wenn ich mir die Gesellschaft so anschaue, feststellen, dass das alles anscheinend nichts bringt, da wir nicht in eine richtige Richtung unterwegs sind. Ich sitze aber hier und muss feststellen, dass das, was in den letzten Wochen bei der SPÖ passiert ist, zumindest ein gewisses Potenzial hervorbringt, das schon länger nicht mehr gegeben war und wofür es sich doch noch zu kämpfen lohnt. Wir leben in beschissenen Zeiten und es wäre gut, wenn etwas dabei herauskommt. Wir dürfen aber auch nicht die Illusion haben, dass übermorgen etwas Großes passieren wird, aber das Potenzial dafür ist trotzdem da.

Als es vorhin um Klassenkampf und Traiskirchen ging, ist ein wenig Gelächter im Saal aufgekommen. Ich wollte dazu bemerken, dass diese Verbindung historisch gar nicht unspannend ist. Traiskirchen war mit seinem Semperit-Werk eine sehr industriell geprägte Stadt und es gab durchaus auch wilde Streikbewegungen. Diese Bewegungen haben zwar im Endeffekt verloren und es hat eine Deindustrialisierung stattgefunden, aber das Bemerkenswerte ist, dass es der SPÖ trotzdem gelang, nicht nur mit dem Vorgänger von Andreas Babler, der als Bürgermeister der SPÖ12 durch rassistische Aussagen auffiel und nicht gerade am linken Flügel der Partei stand, sondern auch mit Babler als linkem Kandidaten die Mehrheit zu halten.

Eine der grundlegenden Problematiken des Babler-Projekts ist, dass wir in einem Zeitalter eines neuen Zensuswahlrechts leben. Ca. zwei Drittel der Menschen, die in Österreich in der Gebäudereinigung und mehr als die Hälfte der Leute, die auf Baustellen arbeiten, sind nicht wahlberechtigt. Es stellt sich also die Frage, wie man dieses Problem über eine Wahlbewegung adressieren möchte. Andi Babler hat in seinem ZIB-2-Interview13 den Slogan „Kein Mensch ist illegal“ angesprochen, nach einigem Herumlavieren aber gesagt, das sei kein Widerspruch dazu, Menschen abzuschieben. Mit seinem Traiskirchner Hintergrund müsste er wissen, wie kafkaesk das österreichische Justizsystem, insbesondere das Asylwesen, ist. Es hat mich schon gewundert, dass bereits an diesem Punkt das Projekt Babler auf mehreren Ebenen zu bröckeln beginnt.

DG: Wir können natürlich über Traiskirchen und Klassenkampf lachen, lieber sollte man aber das Phänomen betrachten, dass eine dezidiert linke SPÖ mit einer klaren Politik dort 70 % der Stimmen bekommt. Das basiert auf realpolitischen Aktionen wie zum Beispiel dem Sozialmarkt in Traiskirchen, „der gute laden“, für den Traiskirchen als Stadt die Produkte und Lebensmittel über die REWE-Konzerne hinweg ankauft und dort sozial gestaffelt den Leuten zur Verfügung stellt. Solche Aktionen bringen die Menschen vor Ort real über die Teuerungswelle. Das ist nur eines von vielen umgesetzten Beispielen und zeigt, dass ein linker Kurs in der Flüchtlingsfrage nicht bedeutet, dass man darüber die „eigenen“ Leute vergisst, sondern beide Themen Hand in Hand gehen. Die Formulierung in der ZIB war wohl nicht ganz glücklich gewählt, aber ich kenne Andi Babler und danach zu urteilen, was er mit dem Geflüchteten-Heim leistet, zu dem er nicht einmal eine Zutrittsberechtigung bekommt, um sich ein Bild zu verschaffen, mit dessen Geflüchteten er aber demonstriert und zu denen er sich zu 100 Prozent solidarisch bekennt, ist er kein Kandidat, der vor dieser Forderung zurückweicht. Jeden Samstag wird im „Garten der Begegnung“ Essen an die Geflüchteten ausgeschenkt und es kommen Vereine, die mit den Kindern malen. Andi Babler ist dort jedes Mal in seiner Freizeit mit dabei. Wenn wir also von einem Politiker „Kein Mensch ist illegal“ in der ZIB hören, etwas, was sich leider schon lange niemand mehr in der SPÖ getraut hat, so deutlich zu sagen, zeigt das schon, dass Babler keine Angst davor hat, anzuecken.

SG: Ich war damals bei den Protesten gegen die Schließung von Semperit dabei und einer unserer Genossen – Joe Higgins – damals Abgeordneter unserer Schwesterorganisation im irischen Parlament, war auch hier, um die Proteste zu unterstützen. Dass du das Wort „wilder Streik“ verwendet hast, weist schon darauf hin, dass sich die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse nicht durch die Strukturen der Sozialdemokratie oder durch die von ihr dominierten Gewerkschaften ausdrückten, da diese die Hackler14 im Stich gelassen haben. Die KollegInnen mussten sich selbst organisieren und auf die Füße stellen. Das ist ein Zeichen für die Verbürgerlichung der SPÖ.

Andreas Babler persönlich ist gewiss kein Rassist und es tut ihm in der Seele weh, was sich in Traiskirchen abspielt. Er versucht zu unterstützen und zu helfen, das ist eindeutig. Er muss aber einen Schritt weiter gehen. Es geht nicht darum, die bessere Sozialarbeit oder einen Alternativmarkt zu machen, zu versuchen, wie in den Anfängen der ArbeiterInnenbewegung, Konsumgesellschaften oder Genossenschaften aufzubauen, sondern darum, auch migrantische Kolleginnen und Kollegen als Teil der ArbeiterInnenklasse und damit als KampfgenossInnen zu sehen. Das hieße auch, nicht nur für, sondern mit Menschen zu kämpfen, was ich momentan noch in seinen Reden vermisse. Da höre ich oft „Ich bin einer von euch“, aber auch „Ich mache das dann“. Diese Stellvertreterpolitik, die nicht die Leute selbst zum Kämpfen animiert, hat eine lange, grausliche und schädliche Tradition in der österreichischen ArbeiterInnenbewegung.

Als Gegenbeispiel dazu steht für mich Kshama Sawant aus der Schwesterorganisation meiner Organisation in Seattle in den USA, die im dortigen System sozusagen amtsführende Stadträtin ist und als einzige gegen die Demokraten – Republikaner gibt es im Stadtrat ohnehin keine – steht. Sie hat dort „Kleinigkeiten“ wie einen Mindestlohn von 15 Dollar, eine Besteuerung einer unwesentlichen Firma namens Amazon und anderer Giganten durchgesetzt. Sie hat Seattle zu einem sicheren Hafen für Menschen, die eine Abtreibung brauchen, gemacht. Und das nicht, weil sie so genial ist, sondern indem sie Leute über die Grenzen der Partei und Organisation hinaus organisierte, den Kampf mit Bewegungen „on the ground“ gemeinsam führte; indem sie die Logik des Kapitalismus, dass man Amazon doch nicht besteuern könne, da die sonst einfach woanders hingehen würden, nicht akzeptierte und die Kampagnen zentral an der Frage orientiert, was notwendig ist, und nicht, was im Rahmen des Kapitalismus angeblich möglich wäre. Das sind zentrale Lehren in Bezug darauf, wie man etwas erreichen kann: nicht mit Stellvertreterpolitik, sondern mit Mobilisierung und Aktivierung der Betroffenen selbst.

Was wir nie vergessen dürfen, ist, dass im Kapitalismus keine Reform sicher ist. In Österreich wurde die Fristenlösung 1975 eingeführt, aber blicken wir in die USA: Nach fast 50 Jahren wurde Roe v. Wade und damit das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aufgehoben. So etwas wie ein halbwegs gleichberechtigtes Gesundheitswesen gibt es in Österreich schon lange nicht mehr, wir haben eine Zwei-, Drei-, Vier-Klassen-Medizin; auch freien Bildungszugang gibt es längst nicht mehr. All die Sachen, die mühsam von der ArbeiterInnenklasse – und nicht der Sozialdemokratie – erkämpft wurden, wurden abgeschossen oder stehen zum Abschuss bereit. Daher darf man die Frage der Überwindung des Kapitalismus nicht aus den Augen verlieren, sonst werden diese Reformen, wenn es aus Sicht des Kapitals notwendig wird, in einem bürgerlichen Staat als erstes geopfert.

David, warum kann Babler nicht das Asylheim in der Stadt betreten, deren BĂĽrgermeister er ist? Hat das kompetenzrechtliche GrĂĽnde?

DG: Die Kompetenz liegt beim Innenministerium, es ist eine Bundesangelegenheit und er darf tatsächlich nicht hinein. Und weil er nicht hineindarf, gibt es die Organisation „Garten der Begegnung“, die es ermöglicht, außerhalb des Geflüchtetenheims Spenden zu sammeln und ihnen Essen zu bringen. Diese Situation ist kein Zufall, sondern wird bewusst von der Bundesregierung inszeniert. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass während Wahlkämpfen in Niederösterreich die angebliche Zahl der Geflüchteten in Traiskirchen in die Höhe schießt und eine Woche danach wieder absinkt. Das ist ein politisches Spiel, bei dem man versucht, die Asylfrage auf eine kleine rote Gemeinde in Niederösterreich zu zentrieren, um sagen zu können, diese linke Art mit Geflüchteten umzugehen, führe zu Überfremdung etc.

SG: Die Kompetenzfrage ist zentral. Wenn man als Sozialistin oder Sozialist anfängt, sich von den engen Spielregeln des bürgerlichen Staates beschränken zu lassen, hat man schon verloren. In den 1980er-Jahren, in denen die Labour Party noch einen marxistischen Flügel hatte, besaß dieser in Liverpool, einer der ärmsten Städte, eine Mehrheit im Stadtrat. Thatcher, die Speerspitze des Neoliberalismus, hat damals die Gemeindebudgets völlig ausgeblutet und ausgehungert, bis die Gemeinden kein Geld mehr hatten. Der sozialistische Stadtrat wurde gewählt und begann umzusetzen, was er versprochen hatte: Es wurden Wohnungen und Parks gebaut und die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst verkürzt. Es wurden Maßnahmen umgesetzt, die für die ArbeiterInnenklasse dringend notwendig sind. Das war hochgradig illegal, weil das Budget dadurch gesprengt wurde, doch es ging um den Grundsatz: „Better to break the law than to break the poor.“ Durchgesetzt wurde das, indem eine Massenbewegung, Streiks und Demos in Liverpool organisiert wurden, um somit Druck auf die Bundesregierung von Margaret Thatcher auszuüben, sodass diese die Kohle rausrücken musste. Das ist ein Beispiel dafür, dass man sich nicht an die engen Spielregeln, die uns der bürgerliche Staat gibt, halten darf. Er gibt uns diese, damit wir nichts machen, was die Profitinteressen des Kapitals gefährden könnte. Wenn sich die ArbeiterInnenbewegung an diese Regeln gehalten hätte, dann hätte es auch keine Revolution gegeben. Die ist schließlich verboten. Alles, was die ArbeiterInnenbewegung erreichte, ist zum überwiegenden Teil durch das Brechen von Gesetzen gelungen. Scheiß auf Kompetenzen! Es ist eine Machtfrage, hinter sich eine politische Kraft und Stärke gemeinsam aufzubauen, sodass alle diese Gesetze das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.

Meine Frage lässt sich vermutlich gut mit einem Abschlussstatement beantworten, denn ich möchte zur Grundfrage zurückkommen und euch um eine konkrete Einschätzung bitten: Was hat die SPÖ mit der Linken zu tun? Was hat die Linke mit der SPÖ zu tun? Sind sie das Gleiche oder nicht?

Will Andi Babler, will die SPĂ– ĂĽberhaupt noch so etwas wie Sozialismus? Weshalb stellen wir uns die Frage von Reform oder Revolution?

An Herbert Auinger: Wenn es rund um Corbyn und Sanders Leute gab, die dachten, dass wir mit ihnen tatsächlich einen Schritt weiter zum Sozialismus kommen, wieso sollten wir uns dann nicht anschauen, was daraus entstanden ist? Natürlich ist es einfach, im Nachhinein zu sagen, dass das keine Sozialisten waren oder dass sie gescheitert sind und wir lieber wieder Das Kapital aus dem Bücherregal holen sollten. Weshalb ist das der richtige Weg und weshalb sollte man nicht genauer untersuchen, was real gewollt wurde; auch was Andi Babler will und was die Menschen, die ihn unterstützen, wollen?

HA: Ich glaube, wir sollten eine Resolution beschließen, ein kämpferisches „Babler rein! Balber rein!“. Nicht gut? Der konstruktive, wünschenswerte Vorschlag wäre, dass meine Kollegen am Podium, die Hoffnungen auf den Babler oder die jetzige Aufbruchsstimmung setzen, dies in einer Art und Weise festhalten, sodass die Platypus Affiliated Society in einem Jahr wieder so eine Veranstaltung machen und man Bilanz ziehen kann. Dazu müsste man aber die Slogans von „Es tut sich was! Wir sind dabei! Man muss etwas tun!“ in eine vernünftige Form bringen. Ich glaube zwar nicht, dass das geht, insofern war das als konstruktiver Vorschlag ein wenig ironisch, aber ich würde mir wünschen, dass man endlich sagt, was man sich erwartet, um dann feststellen zu können, ob sich diese Erwartungen erfüllt haben oder nicht, beziehungsweise wenn nicht, warum nicht.

Was die SPÖ betrifft: Nein, die hat mit Sozialismus nichts zu tun. Sie gehört zum Kapitalismus, der Sozialstaat ist ihre Errungenschaft. Das war’s. Eine plakative Erinnerung: Der SPÖ ist die Macht im Staat nach dem Ersten Weltkrieg in gewisser Weise in den Schoß gefallen. Der alte Staat wurde aber nicht durch einen Aufstand von unten, sondern durch einen Krieg von außen entmachtet. Nun war die SPÖ gefordert und sie hat die Republik gegründet. Wenn man am Ring vorbei geht, sieht man drei Gestalten,15 das sind die Gründer der Republik Österreich, das sind Sozialdemokraten. Als es damals eine historische Alternative gab, als in der Sowjetunion die Revolution siegte, haben sie die Richtungsentscheidung getroffen, einen kapitalistischen Staat zu gründen. Das war deren Werk, deren Leistung, dabei ist es geblieben und damit ist alles Diesbezügliche gesagt.

Zur anderen Frage: Vielleicht bin ich missverstanden worden. Natürlich muss man sich Rechenschaft darüber ablegen, was diejenigen, die sich auf den Marxismus berufen haben, geleistet oder verpfuscht haben. Mein Einwand bezog sich darauf, dass sich die Schriften von Lenin, Trotzki und Luxemburg auf ganz andere historische Situationen beziehen. Aus ihnen kann man für hier und heute nichts lernen. Wenn ihr es nicht glaubt, dann gehen wir einmal gemeinsam die klassischen Schriften durch. Provokant gefragt: Was wollt ihr denn über hier und heute wissen? Sagt es mir und ich sage euch, ob ich mich da auskenne oder nicht, beziehungsweise ob in einer Ausgabe des Gegenstandpunkts etwas darüber geschrieben wurde. Ich war ja der Meinung, dass die Platypus Affiliated Society sich mit Theorie beschäftigen will, um das Vernünftige vom Mist zu unterscheiden, und nicht, um Ideengeschichte um ihrer selbst willen zu produzieren.

Zum Stichwort Kulturkampf, Familie und Abtreibung in den USA: Im aktuellen Gegenstandpunkt gibt es eine Rezension der Autobiografie von Giorgia Meloni. Das ist ein Dokument des rechten Kulturkampfes. Wenn man dagegen anstänkern16 will, dann muss man sich damit befassen und es ist nicht damit getan, dass man die Rechten für komisch hält, wenn sie verhindern wollen, dass eine Drag Queen etwas vorliest.

SG: Vielleicht tue ich dir, Herbert, Unrecht, aber ich teile deinen Pessimismus nicht.

HA: Das ist kein Pessimismus, das ist Erfahrung.

SG: Du bist zwar ein paar Jahre älter als ich, aber ich bin jetzt auch schon über 50 Jahre alt, ein wenig Erfahrung kann also auch ich mitbringen, und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es möglich ist, die Welt vor dem Kapitalismus zu retten, um eine echte Zukunft für uns, unsere Kinder und unsere Enkelkinder zu ermöglichen. Dafür ist es notwendig, aus der Geschichte zu lernen. Ich würde dir auch nicht zustimmen, dass wir aus den Klassikern nichts lernen können. Zum Beispiel die Frage der Analyse des Imperialismus, die nationale Frage, der Kampf gegen den Faschismus – das sind alles Themen, mit denen sich Lenin, Trotzki und Luxemburg beschäftigt und die sie analysiert haben. Um das gleich klarzustellen: In der nationalen Frage bin ich nicht bei Luxemburg. Glauben muss man es sowieso nicht, weil der Marxismus keine Religion ist, man soll auch nicht am Buchstaben kleben, sondern wenn, dann kann man sich überzeugen lassen. Man muss die Mechanismen verstehen. Es handelt sich beim Marxismus auch nicht um ein Dogma, sondern um ein Instrument zur Analyse von Entwicklungen. Letzteres ist mir wichtig, denn was wir brauchen, um die Welt zu verändern, ist eine Kampfpartei. Bei den Schmetterlingen17 heißt es in der Proletenpassion im Lied vom Hausbau über die Russische Revolution: „Gibt es keine Kampfpartei / müssen wir sie gründen.“ Was die Arbeiterklasse braucht, ist eine Organisation, die die Kämpfe und die Individuen, die kämpfen wollen, zusammenfasst, wie die Finger einer Faust, um gemeinsam ordentlich zuschlagen zu können und dem Gegner eine in die Pappn18 zu hauen, sodass er nicht mehr aufsteht. Das ist die Aufgabe einer Kampfpartei als Instrument. Eine Partei ist immer nur ein Instrument, um genau das zu erreichen. Bei jedem Instrument muss man sich ansehen, ob es noch passt oder nicht. Ich muss mir die Frage stellen, ob ich es schärfen, verändern oder mir ein neues Instrument zulegen muss, weil manche Instrumente nicht mehr zeitgemäß sind oder sich verändert haben.

Es ist wichtig, den Verrat der Sozialdemokratie in ihrer über 100-jährigen Geschichte immer wieder zu verstehen. Sie hat uns indirekt den Faschismus eingebrockt, indem sie den Kapitalismus 1918 am Leben erhalten hat. Aber es ist auch notwendig zu sehen, wie sich Parteien verändern und diese nicht nur als statisch zu betrachten. Es ist nicht sinnvoll, die heutige SPÖ mit der SPÖ von vor 50 Jahren gleichzusetzen. Es hat ein Verbürgerlichungsprozess stattgefunden und wir werden sehen, welche Entwicklung die SPÖ in den nächsten Monaten nehmen wird. Nach 70 Jahren von Versuchen, die SPÖ nach links zu treiben, von denen kein einziger erfolgreich war, glaube ich nicht, dass es Andi Babler gelingen wird – wenn er sich an die Spielregeln und an die Strukturen der Partei hält – die Partei wieder zu einem Kampfinstrument der ArbeiterInnenklasse zu machen. Das ist nur mit einem Bruch möglich, entweder, indem er den gesamten Apparat hinauswirft, was nur durch eine Mobilisierung der Basis und das Reinholen von den Leuten, die heute aktiv sind, möglich wäre; oder wenn er die Wahl und den Kampf gegen die Bürokratie verliert, mit der Partei bricht und eine echte ArbeiterInnenpartei außerhalb aufbaut. Dass Sanders in diesen Scheiß-Demokraten geblieben ist, anstatt das „Momentum“ zu nutzen, um eine ArbeiterInnenpartei in den USA aufzubauen, ist zum Beispiel einer seiner großen Fehler gewesen. Sollte auch Andreas Babler diesen Fehler machen und scheitern, dann ist das eine Steilvorlage für die FPÖ und die Möglichkeit einer weiteren rechten Regierung. Das Letzte, was wir machen dürfen, ist darauf zu warten, dass Andreas Babler gewinnt, damit wir bei den Nationalratswahlen ein Kreuzerl bei ihm machen und uns erwarten, dass er das dann für uns löst. Stattdessen müssen wir selbst etwas tun. Insofern richtet sich mein Appell an alle, die hier sitzen: Es ist super, sich eine Veranstaltung anzuhören, es ist auch super, schlaue Bücher zu lesen – man muss und sollte sich theoretisch bilden. Es geht dann aber darum rauszugehen, zum Beispiel am 12. Mai, dem internationalen Tag der Pflege, gegen die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen aktiv zu sein, am 15. Juni, dem österreichweiten Bildungsaktionstag, die Proteste, die in der Elementarpädagogik, beim Unterbau und den anderen Ebenen des Bildungssystems stattfinden, zu unterstützen und Teil davon zu sein. Wenn wir darauf warten, dass das andere für uns machen, werden wir nicht gewinnen. Wir müssen das Schicksal schon selbst in die Hand nehmen.

DG: Ich bin kein Vertreter einer instrumentalistischen Staatskritik. Ich sehe Parteien auch nicht nur als reine Instrumente, bei denen man einen Hebel umschalten kann und dann ist das unser Instrument. Aber das ist wohl eine andere Diskussion für eine Diskussionsrunde zum Thema Staat, die man auch führen müsste. Zur Ausgangsfrage: Will die SPÖ den Sozialismus? Das ist die falsche Frage. Es geht nämlich nicht darum, eine abstrakte Idee einzufordern. Sich aufzustellen und zu sagen, wir wollen diesen Sozialismus, der über uns schwebt, wäre ein idealistischer Trugschluss und absolut nicht marxistisch. Ideen bestimmen nicht die Welt. Die materialistische Herangehensweise und richtige Frage wäre: Wer kann am ehesten Politik für die arbeitende Klasse machen? Wer hat das meiste Mobilisierungspotenzial? Fordert die SPÖ eine Arbeitszeitverkürzung oder eine Vermögenssteuer? In diesem Kontext ist es wichtig zu sehen, dass die SPÖ vor 20 Jahren keine Vermögenssteuer gefordert hat und es heute nur noch darum geht, zu diskutieren, wie hoch diese Steuer sein soll. Auch wenn man natürlich mehr fordern muss, als gefordert wird, bewegt sich da etwas in eine gewisse Richtung.

Es ist auch spannend, darüber nachzudenken, was es über die Realität, in der wir leben, aussagt, wenn Andi Babler für eine seiner Hauptforderungen, eine warme Mahlzeit pro Tag für jedes Kind zu garantieren, von den Medien als linker bis linksradikaler Kandidat abgestempelt wird. Insofern müssen wir also zurück auf den Boden der Realität kommen und bedenken, in was für einer Zeit wir überhaupt über diese Politik reden. So wie es nicht darum geht, die Welt nur verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern, geht es vermutlich auch nicht darum, die SPÖ nur verschieden zu interpretieren, sondern tatsächlich darum, sie zu verändern. Das ist per se keine schöne Beschäftigung, bei der man sich schon auf den nächsten Parteiausschuss freut. Im Gegenteil, man kann diese Arbeit in der SPÖ durchaus hassen, aber woanders ist momentan kein größeres Potenzial zu sehen, ganz nüchtern und pragmatisch formuliert. |P


1 Bis zum 3. Juni 2023 Bundesvorsitzende der SPĂ–.

2 SPĂ–-Politiker und Landeshauptmann des Burgenlandes; hat ebenfalls fĂĽr die ParteifĂĽhrung kandidiert.

3 Eine Koalition aus FPĂ– und Ă–VP.

4 Gemeint ist die Nationalratswahl im Herbst 2024.

5 Bruno Kreisky, von 1970 bis 1983 österreichischer Bundeskanzler (SPÖ).

6 Bis zum 31. Mai 2023 Bundesgeschäftsführer der SPÖ.

7 Gemeint ist die parteiinterne Mitgliederbefragung ĂĽber den Parteivorsitz, die zwischen dem 24. April und dem 10. Mai 2023 stattfand.

8 Eine Wiener Wochenzeitung.

9 Fernsehsender der Boulevard-Tageszeitung Ă–sterreich des Herausgebers Wolfgang Fellner.

10 Ugs. für „Wut“, „Zorn“, von ital. gizzarre: „zappeln“, „zucken“.

11 Niki Kowall ist SPĂ–-Mitglied und kandidierte ebenfalls fĂĽr den Parteivorsitz im Rahmen der parteiinternen Mitgliederbefragung, zog seine Kandidatur aber wieder zurĂĽck.

12 Friedrich Knotzer (*1944 in Traiskirchen), 1985–2014 Bürgermeister von Traiskirchen.

13 Zeit im Bild: Nachrichtensendung des Ă–sterreichischen Rundfunks.

14 Ugs. für „Arbeiter“, von „mit dem Beil hacken“.

15 Gemeint ist das Republikdenkmal an der Wiener RingstraĂźe mit den BĂĽsten von Jakob Reumann, Viktor Adler und Ferdinand Hanusch.

16 Ugs. für „über etwas schimpfen“, „nörgeln“.

17 Ă–sterreichische Folk-Politrock-Band aus den 1970er-Jahren.

18 Ugs. für „Mund“.