RSS FeedRSS FeedYouTubeYouTubeTwitterTwitterFacebook GroupFacebook Group
You are here: The Platypus Affiliated Society/Gehrcke: „Der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft muss verteidigt werden“

Gehrcke: „Der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft muss verteidigt werden“

Ein Interview von Stefan Hain.

Wolfgang Gehrcke ist Mitglied des Bundestags und seit 2007 Mitglied des Parteivorstands der Partei DIE LINKE. 1961 trat er in die damals verbotene KPD ein und war 1968 Gründungsmitglied der DKP, aus der er 1990 austrat. Im selben Jahr trat er der PDS bei, war von 1993–1998 deren stellvertretender Bundesvorsitzender und von 1998–2002 stellvertretender Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion.

Die Platypus Review Ausgabe #6 | August 2017


Stefan Hain: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, Herr Gehrcke. Was würden Sie als den Moment Ihrer Politisierung bezeichnen?

Wolfgang Gehrcke: Das geht ganz weit zurück in die Geschichte der alten Bundesrepublik. Als 14-Jähriger wurde ich nach einem Rock’n’Roll-Konzert furchtbar von der Polizei verprügelt, woraufhin wir eine Demonstration gegen sie organisiert haben. Dies war meine erste gravierende Entscheidung: zu sagen, ich lasse mir so etwas nicht gefallen und protestiere dagegen. Rock’n’Roll-Musik war damals übrigens ein Akt der Befreiung für uns: sie kam aus den USA und stand somit für eine ganz andere Kultur und Lebensweise.

Können Sie grob umreißen, wie Sie von diesem Punkt aus den Weg über die Falken zur damals illegalen KPD genommen haben?

Politik kann wie eine Droge sein: Wenn mal einmal anfängt, darüber nachzudenken, wieso die Dinge so sind wie sie sind, wie alles miteinander zusammenhängt und was man tun muss, um mehr Freiräume zu erobern, dann kommt man schnell darauf, dass die Kolonialisierung anderer Länder nicht hingenommen werden darf. Der Kongo hatte sich von der belgischen Vorherrschaft – der Gewalt der blutigen Diamanten – befreit. Der Revolutionsführer im Kongo war Patrice Lumumba, später dann der gewählte Präsident, der von gekauften Söldnerbanditen ermordet wurde. Ich sehe das Bild noch vor mir, wie er sitzend gefesselt auf einem Pick-Up-Anhänger durch die johlende Menge gefahren und erschlagen wurde. Da habe ich mir wieder gedacht: Das lasse ich mir nicht gefallen! Die zweite Demo, die ich organisiert habe, war dementsprechend schon wesentlich politischer. Diese Bilder verfolgen mich bis heute: Die Brutalität, mit der man andere Völker und andere Kulturen unterdrückt und zerstört hat – das war in Afrika immens und ist heute immer noch so.

Was hat sich seit dieser initialen Politisierung Ihrer Meinung nach verändert? Was sind die entscheidenden Punkte, auf die Sie heute vielleicht noch einmal hinweisen wollen?

Es hat sich vieles verändert, sowohl im Positiven wie auch im Negativen. Einerseits ist es natürlich ein gewaltiger Fortschritt, dass man sich heute über das Internet und die moderne Technik alle Fakten, die man haben will, sofort besorgen kann. Gleichzeitig ist es ein gewaltiger Rückschritt: Damals musste man sich hinsetzen und lesen, musste mit anderen reden und diskutieren. Ich war früher bei den Falken und wir haben tagelang zusammengesessen, miteinander geredet, Texte gelesen und intensiv diskutiert. Das ging bis in die 68er-Bewegung hinein: Wenn man da nicht belesen war, war man out. Über Schröder haben wir immer gespottet, dass er sowieso nur die Klappentexte las. Die Großen der 68er waren Leute, die unwahrscheinlich viel gelesen hatten – und das war ein Anreiz. Wir haben einen Kult entwickelt, bei dem man ein schlechtes Gewissen bekam, wenn man irgendetwas nicht gelesen hatte; das hatte etwas Anziehendes. Die 68er waren eine Bildungsgeneration, und das hat sich heute zum Negativen verändert. Auch wenn es natürlich positiv ist, dass es heutzutage viel leichter ist, an Dokumente zu gelangen und Fakten aufzunehmen.

Ich würde gerne zu einem aktuellen Thema übergehen: In der Präambel des Programms der LINKEN bezeichnet sich die Partei als eine sozialistische Partei, die mittels linker Reformprojekte den „demokratischen Sozialismus“ erreichen will. Welche Geschichte und welche Bedeutung hat der Begriff des demokratischen Sozialismus heute und wogegen wendet er sich?

Die Partei DIE LINKE war zunächst einmal ein Reflex auf die PDS, ein Reflex auf den Zusammenbruch des realen Sozialismus. Vielen ist schon mehr oder weniger klargeworden, dass es so, wie es in der DDR oder in der Sowjetunion war, nicht weitergeht. Ohne die sogenannte friedliche Revolution und die daraus entstehenden politischen Formationen hätte es die PDS nie gegeben und schon gar nicht DIE LINKE. Es gab damals eine Verabredung, dass sich die SPD für reformorientierte Mitglieder der SED öffnet – die SED hatte damals 2,7 Millionen Mitglieder, das muss man sich einmal vorstellen!
Die SPD hatte im Osten nicht viel Zuspruch und kaum Mitglieder. Natürlich haben auch viele SED-Mitglieder gehofft, dass sich die SPD öffnet und man über die SPD in der Politik bleibt, aber weißgewaschen ist. Viele wollten damals mit dem Kommunismus nichts mehr zu tun haben – vielleicht haben sie ja auch nie wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt. Es gab also diese Verabredung zwischen Henning Voscherau, dem damaligen Hamburger Bürgermeister, und Wolfgang Berghofer, dem damaligen Leipziger Oberbürgermeister, dass Berghofer – er war auch Vizevorsitzender der PDS – aus der PDS austritt und mit 150.000 Mitgliedern in die SPD eintritt. Hans-Jochen Vogel, der SPD-Vorsitzende, und eine kleine Clique haben sehr energisch dagegen protestiert, da sie mit den alten Kommunisten nichts zu tun haben wollten und sich geweigert haben, sie aufzunehmen. Sie haben genau gewusst, dass sie nichts mehr zu sagen hätten, wenn 150.000 ehemalige SED-Mitglieder in die SPD einträten. Dies war zwar nicht die Geburtsstunde der PDS, aber wenn es anders gelaufen wäre, hätte es die PDS vermutlich nie gegeben (höchstens in Gestalt einer kommunistischen Plattform o. Ä.).

Um noch einmal zurück zu meiner letzten Frage zu kommen: Wenn wir diesen demokratischen Sozialismus nun als ein politisches Projekt im Jahr 2017 begreifen wollen, worin besteht dann die Perspektive? Wie genau sieht dieser demokratische Sozialismus aus und wie sieht DIE LINKE ihre eigene Rolle in der Herstellung einer solchen neuen Form von Gesellschaft?

Der demokratische Sozialismus war ein großer Gedanke, der bereits in Marx‘ Frühschriften vorkommt. Dort heißt es, das Ziel sei, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“(1). Der Grundgedanke linker Politik ist Befreiung, und ich habe den Marxismus immer als Theorie der Befreiung – nicht als Theologie der Befreiung! – gelesen und empfunden. Nach den Erfahrungen des Stalinismus, in dem auch Kommunisten drangsaliert und gemordet haben, war für mich vollkommen klar, dass wir eine sozialistische Idee brauchen, die Gewalt ausschließt – also eine Revolution mit dem Grundgesetz anstatt gegen das Grundgesetz. Das Grundgesetz ist sehr offen, was gesellschaftliche Entwicklungen angeht.
Ich weiß zwar nicht, ob ich es heute noch so formulieren würde – dazu ist es mir zu sehr mit der Sozialdemokratie verbunden, mit deren Positionen ich nun wirklich nichts zu tun habe. Aber wir sind dennoch gefordert, eine Befreiungsüberlegung anzustellen, die politische Freiheiten garantiert, die soziale Freiheiten herstellt und die weltweit gültig ist. Gerade an dem letzteren Punkt zeigt sich ein Streit, den Stalin leider für sich entschieden hat, nämlich ob der Sozialismus in einem Lande möglich oder nicht möglich ist. Stalin hat darauf gesetzt und sich durchgesetzt, was mit riesigen Opfern verbunden war. Ich glaube hingegen, dass wirklicher Sozialismus heute eine weltweite Dimension haben muss – oder er wird nicht stattfinden. Befreiung bedeutet dementsprechend nicht nur die Befreiung der eigenen Klasse, sondern eine weltweite Befreiung.

In einem Interview, das die ZEIT im September 2016 geführt hat (2), wird gesagt, dass Sie der einzige Kommunist im Deutschen Bundestag seien. Daher würde ich von Ihnen gerne wissen, worin für Sie der Unterschied von Kommunismus und Sozialismus besteht. Gibt es einen politischen Unterschied im Jahre 2017? Und falls ja: Wo liegt dieser für Sie?

Ich glaube, der politische Unterschied liegt in der Bereitschaft zur Umwälzung, zum Umbruch; ich möchte, dass dies im Rahmen der Verfassung geschieht. Ohne eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse wird es keinen Kommunismus, keinen Sozialismus geben. Das bedeutet, dass man bereit sein muss, die Eigentumsverhältnisse zu verändern – sowohl was den Eigentumstitel als auch die Verfügung über Eigentum angeht, was nicht identisch ist. Viele Sozialisten haben sich immer darauf zurückgezogen zu sagen: Wir ändern die Verfügung über Eigentum. Ohne dass wir den Eigentumstitel – wem gehört was – verändern und eine Überführung dieses Eigentums in gesellschaftliches Eigentum durchsetzen, wird es weder Sozialismus noch Kommunismus geben.
Ich glaube, dass ich aus der klassischen kommunistischen Richtung als Bundestagsabgeordneter wahrscheinlich der einzige bin, der sich heute noch dazu bekennt: Nachdem mich so viele aus anderen Parteien immer als Kommunist bezeichnet haben, habe ich mich dazu entschieden, das einfach anzunehmen. Ich wollte damit deutlich machen, dass der Kommunismus nicht verschwunden ist und dass kein Ende der Geschichte eingetreten ist. Nachdem die 1848er-Bewegung – die bürgerlich-demokratische Revolution – niedergeschlagen war, gab es das Signal: Sie können uns jetzt niederschlagen, doch wir werden wiederkommen. Davon bin ich heute nach wie vor überzeugt.

Um noch ein bisschen aktueller zu werden und auf das Jahr 2017 zu kommen: In den letzten Monaten wird innerhalb wie außerhalb der Partei DIE LINKE eine Regierungsbeteiligung im Bund ernsthaft diskutiert. Inwiefern wäre eine Regierungsbeteiligung ein Mittel zum Zweck und inwiefern wäre sie umgekehrt ein Hindernis zum Erreichen des demokratischen Sozialismus?

Wir Kommunisten haben viel zu viel über Machteroberung und viel zu wenig über Machtabgabe nachgedacht; wir haben Regierungsbeteiligung mit politischer Macht verwechselt. Aber ist es nicht viel interessanter, darüber nachzudenken, wie man Macht in die Hände des Souveräns – also der Wählerinnen und Wähler, der Bürgerinnen und Bürger – abgibt? Darüber nachzudenken, wieso diese sich nicht selbst verwalten können? Warum muss es andere geben, die die Verwaltung für sie in ihre Hände nehmen? Unser Problem war immer, dass wir eine falsche Staatsauffassung hatten: Wir waren der Meinung, dass die herrschende Klasse über den gesamten Staatsapparat verfügt und man ihnen diesen Apparat entreißen müsste. Heute vertrete ich vielmehr die Auffassung, dass wir einen starken sozialen Staat brauchen, wenn man die Eigentumsverhältnisse verändern will, sonst wird nichts passieren.
Kommunisten oder Sozialisten sind keine besseren Menschen, nur weil sie links sind. Gesellschaftliche Systeme haben eine innere Funktionsweise, und die innerste Funktionsweise des Kapitalismus ist es, nach Profit zu streben und auch so zu wirtschaften. Das Streben nach Profit verbindet sich immer mit Macht und Besitzansprüchen – entweder man geht unter oder man siegt. Wenn man das nicht will, muss man eine ganz andere Art und Weise des Wirtschaftens, des Produzierens, des Konsumierens und der Verteilung an den Tag legen. Vielleicht entscheidet das auch irgendwann, ob die Menschheit als Gattungswesen überhaupt überlebt. Die Aufgabe der Linken heute wäre es, Modelle einer anderen Wirtschaftsweise zu entwickeln – dies geht nur partiell über die Regierungsbeteiligung. Ich bin sogar davon überzeugt, dass am Ende einer Regierungsbeteiligung die völlige Auflösung linker Strukturen stehen kann. Die Medien werden eine linke Regierung gnadenlos wegschreiben, weshalb man sich nicht allzu viele Fehler erlauben kann. Ich halte es für DIE LINKE für viel zu früh, zur jetzigen Zeit in Deutschland an der Regierung zu sein.

Könnten Sie vielleicht noch einmal ausführen, welche Unterschiede für Sie für eine linke Partei zwischen der Arbeit im Parlament und der Beteiligung an einer Regierung bestehen?

Ich verteidige auch in der eigenen Partei immer den Parlamentarismus gegen andere Politikformen. Man kriegt viel Beifall auf Parteitagen, wenn man sagt, man möchte außerparlamentarisch arbeiten – ich finde das zwar partiell richtig, aber nicht bedingungslos. Das Parlament bringt den Vorteil mit sich, dass man sich bewähren muss: Man muss mit den Kontrahenten im Parlament kämpfen, wer die besseren Argumente hat, auch wenn sie sich nicht immer durchsetzen. Der Parlamentarismus hat auch eine Kontrollfunktion in der Gesellschaft, die mir sehr wichtig ist. Ich habe zu oft erlebt, dass dieser ganze Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft von Linken missachtet worden ist.
Ich verteidige hier den Parlamentarismus, nicht den Lobbyismus. Ich bin dafür, dass – ironisch gesprochen – irgendwann einmal in die Geschäftsordnung des Bundestages aufgenommen wird, dass jeder Bundestagsabgeordnete auf seinem Kragen den Namen der Firma trägt, von der er finanziert wird. Dieser Parlamentarismus ist leider so sehr auf den Hund gekommen, dass man ihn grundlegend erneuern muss. Diesen Anspruch muss eine linke Partei haben. Wenn man so stark in einem Parlament vertreten ist, dass sich andere Konzeptionen an den eigenen brechen müssen und besser, demokratischer, sozialer und friedfertiger rüberkommen, wäre das zwar noch kein Sozialismus, aber ein großer Fortschritt.

DIE LINKE versteht sich als eine anti-neoliberale Partei und ist gleichzeitig von der Krise des Neoliberalismus geprägt. Diese Krise hat in Griechenland SYRIZA an die Regierung und in England Jeremy Corbyn in eine führende Position seiner Partei gebracht. Bernie Sanders, der sich selbst als Sozialist bezeichnet hat, wäre in den USA beinahe Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei geworden. Aber spätestens nach dem Brexit-Votum und den Präsidentschaftswahlen in den USA scheint es, dass die politische Führung dieser Krise durch Politiker wie Donald Trump und Theresa May übernommen wurde. Was bedeutet es, dass der Status Quo von der Linken nicht adäquat adressiert und verändert werden konnte?

Für mich heißt das in erster Linie, dass linke Politiker und Bewegungen auch gesellschaftlich versagt haben. Ich fand es furchtbar, wie mit Griechenland seitens der stärkeren, mit ihm konkurrierenden imperialen Mächte umgegangen wurde – und Deutschland trägt hier eine große Verantwortung. Tsipras, mit dem ich lange Zeit sehr eng befreundet war, hatte große Sympathien in seinem Land und war ein Vorbild für viele Linke in Europa. In so einer Situation zu einer Volksabstimmung aufzurufen und im Anschluss zu sagen, dass sie nicht gilt, geht überhaupt nicht. Eine Linke darf nichts versprechen, was sie nicht einhalten will (ob sie es kann, ist eine ganz andere Frage). Wenn man zu stark auf die Regierungsbeteiligung fokussiert ist, wird man Programme immer danach schreiben, was der potenzielle Partner mittragen kann, weil man alleine nicht stark genug sei. Dann ist man nie originär und hat keine Idee, die die Menschen mitreißen kann; leider ist Griechenland in diese Richtung abgedriftet.
Griechenland hätte ein Modell für die Linke sein können; Großbritannien dagegen wird in einer starken konservativen Partei münden. Der Brexit war kein Befreiungsakt: Wir hatten in der LINKEN näher diskutiert, ob es das Recht gibt, aus der Europäischen Union auszutreten. Die Verträge sagen Ja – ob es sinnvoll ist oder nicht, ist aber eine andere Frage. Ich war nie der Überzeugung, dass die EU bei einem Austritt vielleicht demokratischer, sozialer, vernünftiger werden würde. Der Brexit hat den Rechten in Europa sehr viele neue Chancen gegeben und ich selbst gehörte komischerweise zu den Leuten, die davon überzeugt waren, dass Trump in den USA gewinnt. Ich habe mir die Frage gestellt: Was strahlt Hillary Clinton außer Verkommenheit eigentlich aus? Trump hat natürlich auch Verkommenheit ausgestrahlt, aber da war ein Stück Durchsetzungsvermögen drin. Für die Linke sind die Fälle Großbritannien und USA sehr schlecht gelaufen. Wir müssen immer wieder ein Gesellschaftsmodell propagieren und vertreten, in dem nicht der Profit das entscheidende ist, sondern das friedvolle und demokratische Zusammenleben der Menschen. Ich glaube, dass das möglich ist und wir das erreichen könnten.

Was bedeutet das, was Sie grade ausgeführt haben – also die allgemeine Krise des Neoliberalismus aber gerade auch die Europas –, für die Politik der Partei DIE LINKE? Was steht jetzt als entscheidender Punkt für die Partei an, um diese Krise zu adressieren?

Wie jede Partei ist auch DIE LINKE eine Partei mit zahlreichen Widersprüchen. Viele in meiner Partei sagen: Mehr Europa ist die Lösung; Europa ist jung, modern, schick etc. Über welches Europa wird dort geredet? Was ist mit den nichteuropäischen Ländern, in denen wir unendlich Schuld auf uns geladen haben? Europa hat große Teile der indigenen Ureinwohnerschaft Lateinamerikas umgebracht. Hat man nicht eine Schuld abzutragen? Was ist mit unserer Schuld gegenüber Afrika oder den Ländern Europas, die Opfer des deutschen Faschismus geworden sind? Solche Fragen werden völlig ausgeblendet, und das wird sich rächen. Lenin hat einmal sehr schön gesagt, die Vereinigten Staaten von Europa wären entweder eine Illusion oder ein imperialer Block, also eine vergrößerte Machtposition. Und ich glaube, dass er Recht gehabt hat. Die EU ist als Block entstanden, der mit anderen Blocks wie den USA konkurriert. Ich möchte die EU unbedingt demokratischer, sozialer, friedfertiger gestalten – sonst fällt sie irgendwann auseinander und es wird für alle schlechter werden. Ich sage also nicht, dass man die EU auflösen soll, doch wer die EU bewahren will, der muss sie grundlegend verändern wollen.
Meine Partei redet für meinen Geschmack zu viel über das schicke Europa und denkt zu wenig darüber nach, wie man die EU verändern kann, was dringend notwendig ist. Gregor Gysi z.B. sagte, der große Gewinn von Europa sei, dass es keine Kriege mehr führt. Wo lebt er denn bitte? Was stimmt ist, dass es keine Kriege mehr untereinander gegeben hat. Das hatte aber den Hintergrund, dass auf der anderen Seite der Mauer die Sowjetunion und der Warschauer Pakt standen. Angesichts dessen hat man sich verbündet und gesagt: Wir führen keine Kriege mehr untereinander. Aber bereits zu Zeiten der EU haben europäische Staaten in anderen Teilen der Welt Kriege geführt, z.B. Frankreich in Algerien und Tunesien, Belgien im Kongo, die Niederlande in Indonesien u.v.m. Ich bin natürlich froh, dass man sich nicht mehr gegenseitig umbringt, aber ein wenig mehr Bescheidenheit wäre angebracht. Es wäre ein Fehler zu fordern, die EU aufzulösen – ein Rückwärts kann es nicht geben –, aber ein „Weiter so!“ auszurufen, wäre ebenfalls falsch.

Es wirkt beinahe, als ob der Kommunismus heutzutage nur noch diese Idee wäre, die einst Marx proklamiert hat: ein ideologisches Banner, unter dem ein Kampf geführt wird. Vor 100 Jahren hat Lenin gesagt, dass die Sozialdemokratie endgültig tot sei. Aus dem politischen Einsatz der Bolschewiki 1917 wurde daraufhin die Dritte Internationale aus der Taufe gehoben. Wenn wir aber betrachten, dass heute, im Jahre 2017, im Grunde alle linken Initiativen von Sozialdemokraten geführt werden – Corbyn, Sanders, Lafontaine, Mélenchon –, was hat dann 1917 noch für eine politische Bedeutung für uns? Es scheint, als ob das, was Lenin damals als großen Bruch proklamiert hat, rückgängig gemacht wurde.

Ich glaube, ich gehöre zu den Leuten, die Lenin komplett gelesen haben. Das Geniale an Lenin war, dass er aus einer bestimmten politischen Situation eine Schlussfolgerung gezogen und ein Kräfteverhältnis hergestellt hat. Das hat zwar nicht immer, aber häufig dazu geführt, dass er sich auch durchsetzen konnte. Lenin war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg der Einzige, der keinen Pazifismus vertreten hat – das wäre immer meine Position gewesen. Stattdessen vertrat er die Position, den Weltkrieg praktisch umzudrehen und dadurch einen Sturz der bürgerlichen Ordnung herbeizuführen. Wir werden in diesem Jahr viele Debatten über die Oktoberrevolution haben – war die Zeit schon reif für die Revolution oder noch nicht? Doch so eine Frage entscheidet sich nie an einem runden Tisch, sondern im realen Leben.
In weiten Teilen der europäischen Arbeiterbewegung gab es eine Bereitschaft zur Veränderung, doch was das Neue sein konnte, war noch nicht entwickelt.
Dann kam die Zeit des Stalinismus, mit der ich mich quälend auseinandergesetzt habe: Wie bringen es Kommunisten, die doch das Beste in der Welt wollen, fertig, Menschen, weil sie eine andere Auffassung haben, oder sogar sich untereinander umzubringen? Es sind von den führenden deutschen Kommunisten mehr in Moskau als von Hitlerfaschisten umgebracht worden – entsetzlich! Das hat mich vor allem davor gewarnt, zu glauben, dass wir die besseren Menschen sind und uns so etwas nicht passieren kann. Die Begründung ist immer: Der Zweck heiligt alle Mittel. Doch daran glaube ich überhaupt nicht. Man sollte nicht auf den Ruinen eines Bordells eine Kirche bauen. Ich bin für Machtbeschränkung und -kontrolle; also dafür, dass man sich dazu zwingt, sich den gesellschaftlichen Realitäten zu stellen.
Doch auch wenn ich anerkenne, dass „wir“ große Fehler gemacht, nein: Verbrechen begangen haben – man sollte Verbrechen nicht mit dem Begriff Fehler verniedlichen –, muss ich nicht akzeptieren, dass in Syrien eine halbe Millionen Menschen im Krieg umgekommen sind, dass in Afghanistan jeden Tag Menschen sterben und Zehntausende in der Ukraine Opfer von militärischer Gewalt geworden sind; dass sich dieses gesellschaftliche System so viel Reichtum anhäuft und anderen raubt, dass Menschen in der ganzen Welt verhungern.
Es ist meine große Hoffnung, dass wir es irgendwann einmal zustande bringen, dass der Mensch nicht mehr des Menschen Feind ist. Das geht nur, wenn man die Dinge anders verteilt. Wir werden keine neue Oktoberrevolution erleben, aber neue gesellschaftliche Umwälzungen. Für mich spricht mehr dafür als dagegen, dass ich noch zu meinen Lebzeiten den Sozialismus und die Revolution erleben werde – nicht, weil die Linke schlauer geworden ist, sondern weil die gesellschaftlichen Verhältnisse so kaputt sind, dass immer mehr Menschen begreifen, dass es so nicht weitergeht. Hoffentlich geschieht dies mit guten Überlegungen, denn die Alternative ist der gemeinsame Untergang oder dass wieder ein Teil der Menschheit den anderen Teil gewaltsam umbringt.
Wie die Leute ihre Ideologie dann nennen, ist mir völlig egal, auch wenn ich natürlich am Kommunismus hänge. Entscheidend ist, wie eine solche Ideologie mit dem Menschen umgeht; mit einem anderen Namen könnte ich leben.

In Ergebnisse und Perspektiven schreibt Leo Trotzki, das 19. Jahrhundert sei nicht umsonst vergangen. Die gescheiterten Versuche der demokratischen Revolutionen hätten, seiner Auffassung nach, in der proletarischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ende geführt werden können. Was würde es heute heißen, zu sagen, dass das 20. Jahrhundert nicht umsonst vergangen ist? Mir scheint es so, als ob die Traditionslinie, die es noch von Marx zur Zweiten und Dritten Internationale gab, für uns heute nicht mehr gegeben ist.

Es gibt einen wunderbaren Roman, den der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura über den Trotzkimörder Mercader geschrieben hat (3). Mercader war einer der aufständischen Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg, in dem der trotzkistische Teil von dem anderen Teil praktisch erschossen worden ist. Man kann die Geschichte überwinden, aber man kann sie nie wegschmeißen. Ein anderes Beispiel: In diesem Tisch, an dem wir gerade sitzen, ist die ganze Geschichte der Tischler und der Plastikhersteller enthalten, weil man ihn ansonsten nicht hätte herstellen können. In der gesamten Geschichte der Menschheit ist alles, was wir jemals an Fortschritt und an Verbrechen erlebt haben, enthalten. Das wird sich irgendwann entäußern – aufheben bedeutet auch überwinden und aufbewahren – und wir werden in der einen oder anderen Weise mit dem Verfemten unserer Geschichte umgehen müssen, dazu gehört Trotzki.
Die Geschichte der Produktivkräfte zeigt, dass diese immer mehr zu Destruktivkräften, also zu Kräften der Zerstörung, geworden sind. Es war eine meiner theoretischen Grundlagen, dass irgendwann die Entwicklung – die Hülle – das Ei sprengt; dass die Produktivkräfte nicht mehr mit den vorhandenen Produktions- und Machtverhältnissen zu steuern sind. Das bedeutet auch, dass wir nicht, etwa weil wir so genial sind, automatisch eine neue Gesellschaftsordnung erhalten werden. In meiner Generation gab es noch die Vorstellung, dass Atomkraft etwas Tolles ist: Mit Hilfe der Atomkraft werden wir alles umgestalten, Flüsse umlenken, Wüsten bewässern etc. Irgendwann hatten Teile von uns die Einsicht, dass diese Produktivkraft Atom nicht so zu steuern ist, dass das Positive eintritt, sondern dass der Umschlag in eine gewaltige Zerstörung viel näherliegt.
Daher müssen wir uns auch immer die Möglichkeit offenhalten, zu einer Weiterentwicklung der Produktivkräfte „Nein“ zu sagen, weil die Gefahren größer sind als der Nutzen. Ich halte es für einen klugen Gedanken, dass im 21. Jahrhundert die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aufgehoben sind. Ob die Menschen dann erfahren und kraftvoll genug sind, dies zu erkennen und darüber zu reden, wird von den Menschen abhängig sein, aber es ist ein völlig richtiger Gedanken. Man muss sich mit Trotzki, der nie nur Antimarxist war, auseinandersetzen, und dabei ist es immer besser, das Original zu lesen als das, was andere über ihn erzählen. Trotzki war die linke Alternative zu Bucharin. Auch wenn ich eher die Positionen von Bucharin teilte, sollte man solche genialen Denker nicht aus der eigenen Vorstellung ausblenden. So könnte man an Trotzki anschließend sagen: Im 21. Jahrhundert ist die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgehoben.

Das Interview wurde von Sebastian Vogel transkribiert.


(1) Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (Bd. 1), Berlin/DDR 1976, S. 385.

(2) Wolfgang Gehrcke: „Ich war gläubig“. Interview mit der ZEIT, 13. Oktober 2016. < http://www.zeit.de/2016/41/wolfgang-gehrcke-die-linke-kommunismus-kpd-dkp-populismus>

(3) Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte. Zürich 2012.