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Die Krise des Neoliberalismus

Die Platypus Review Ausgabe 13 | Sommer 2020

Am 25. Januar 2020 organisierte Platypus Leipzig eine Podiumsdiskussion, um die Krise des Neoliberalismus aus linker Perspektive zu beleuchten

Es diskutierten:
Ingar Solty (Sozialwissenschaftler und Autor),
Jan Gerber (Politikwissenschaftler, Historiker und Autor),
Stefan Bollinger (Politikwissenschaftler und Historiker) und
Annika Klose (Politikerin der SPD)

Wie kann die Linke den historischen Ursprung der gegenwärtigen politischen Krise des CDU-SPD-Zentrums verstehen? Julius Leber, politischer Ziehvater von Willy Brandt, reflektierte eine weit verbreitete Einschätzung der SPD im Jahr 1933, als er bemerkte, dass ihre Führer keinen Mangel an marxistischer Theorie hatten, dennoch in Fragen der Tagespolitik ebenso ahnungslos wären wie Kleinkinder. Was auch immer die marxistische Theorie der SPD angeführt hat, es ist längst vorbei, und selbst wenn die SPD erneut leidenschaftslos und entfremdet von ihrer Wähler- und Sozialbasis zu sein scheint, erscheint es auch anachronistisch zu behaupten, dass das Zentrum heute tatsächlich von den organisierten Extremen des Kommunismus oder Faschismus bedroht werde.
Wie sollten wir also die Nachkriegsordnung der parlamentarischen Politik verstehen, besonders jetzt, wenn 1989 rasch hinter uns in der Vergangenheit verschwindet? In welcher Beziehung stand die gesellschaftliche Linke zur Sozialdemokratie des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit? Welche Position vertrat sie zu den Ansprüchen der Post-80er auf individuelle Freiheit, in deren Namen die mit dem Neoliberalismus verbundenen Reformen durchgeführt wurden? Inwiefern könnte die gegenwärtige Krise des Zentrums in Deutschland eine Gelegenheit für linke Politik im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus darstellen?

Es folgt ein editiertes und gekürztes Transkript der Veranstaltung, die hier vollständig angehört werden kann.


EINGANGSSTATEMENTS

Ingar Solty (*1979) ist Sozialwissenschaftler, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Autor.

Ingar Solty: Ich denke, dass die Frage nach der Krise des Neoliberalismus eine ganz zentrale ist; es ist die Frage der historischen Epoche, in der wir uns befinden. Wir wissen, dass alle bisherigen großen Krisen des Kapitalismus – gemeint sind jene vier: die Große Depression von 1873 bis 1890, die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, die Fordismus-Krise von 1967 bis 1979 und die Krise seit 2007 – historisch bedeutsam sind. Denn wir sind historische Subjekte: Wir erleben, erdulden nicht nur Geschichte, sondern wir machen sie. Und damit geht eine Verantwortung einher, wie wir mit diesem historischen Moment umgehen. Fakt ist, dass solch große Krisen immer eine Veränderung des Kapitalismus bewirkt haben. Die Frage ist, ob die Krise des Neoliberalismus bereits zu einem neuen Kapitalismus-Typ geführt hat. Manche sprechen vom „postdemokratischen Kapitalismus“ (Wolfgang Streeck), vom „autoritären Kapitalismus“ (Frank Deppe) – und manche sind davon überzeugt, dass wir uns nach wie vor in einer Übergangsperiode befinden. Ich glaube, dass sich einige Wege, die 2007/08 noch offen waren, geschlossen haben. Und trotzdem würde ich behaupten, dass es noch keinen, neuen stabilen Kapitalismus-Typ gibt. Insofern würde ich weiterhin von einer Krise des Neoliberalismus respektive des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus sprechen: Wenn von der Krise des Neoliberalismus die Rede ist, verstehen darunter viele primär eine eher angebotsorientierte, auf Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung beruhende Krise einer Ökonomie. Ich glaube jedoch, dass diese aktuelle Krise weit darüber hinausgeht. Sie hat meines Erachtens sechs Dimensionen, ich nenne sie deshalb die „6-Dimensionen-Krise“:

1) Ökonomische Dimension: z.B. 30% Überkapazitäten in der globalen Autoindustrie; der zunehmende spekulative Gang.

2) Krise des sozialen Zusammenhalts: 40 Jahre neoliberaler Politik haben nicht, wie es uns Neoliberale weiszumachen versuchten, dazu geführt, dass die Ökonomien sich angleichen – ganz im Gegenteil nehmen die weltweiten Ungleichgewichte zu, sei es im Hinblick auf den globalen Norden und Süden, oder hinsichtlich der Auseinanderentwicklung zwischen Peripherie und Zentrum innerhalb Europas sowie innerhalb der Nationalstaaten. Diese Ungleichgewichte führen zu einem Aufbrechen des sozialen Zusammenhalts – man denke hier beispielhaft an bürgerliche Eltern, deren Nachwuchs nicht mit den Kindern des Pöbels spielen soll. In diesem Zusammenhang dürfen überdies die Auswirkungen der sog. vierten industriellen Revolution nicht vergessen werden, die bis tief in die Mittelklassen reichen. Häufig wird die Debatte geführt, ob der Rechtsruck Ausdruck von Armut oder der Angst vor sozialem Abstieg sei – ich glaube, letzteres ist richtig. Die Angst vor Prekarisierung existiert selbst bei hoch ausgebildeten Fachkräften, für die nicht klar ist, ob sie in zehn Jahren noch ihren Job haben.

3) Krise der sozialen Reproduktion: Insbesondere in Anbetracht der praktizierten Austeritätspolitik und der Feminisierung der Arbeitsmärkte, die sich auf neoliberalem Wege vollzogen hat, wurde die zumeist schlecht bezahlte Care-Arbeit vermehrt Frauen aufgeladen, was mit einer zunehmenden psychischen Belastung einherging.

4) Krise der Demokratie: Wir sehen die Erosion der tradierten und sich in der Nachkriegszeit herausgebildeten Parteiensysteme, der Volksparteien. Daraus resultieren drei Pole: ein neoliberales Zentrum, dessen Hegemoniefähigkeit obsolet geworden ist, die Herausforderung vonseiten der politischen Rechten, sowie die von links.

5) Krise der Weltordnung: Mit dem relativen Aufstieg der USA und dem Chinas ist eine die Hochtechnologie betreffende Rivalität entstanden. Die Bezeichnung „Wirtschaftskrieg“ ist treffend. Die USA intendieren hierbei unter anderem, China in einer untergeordneten Stellung innerhalb der internationalen Arbeitsteilung zu halten.

6) Krise der Ökologie bzw. Klimakrise.

All die genannten Krisen haben in meinen Augen das Potenzial, in die jeweils andere Krise überzuschwappen, sich gegenseitig zu verschärfen. Darin stecken enorme Barbarisierungspotenziale, die wir uns vor Augen führen sollten, um zu verhindern, dass diese Barbarisierung tatsächlich Wirklichkeit wird. Die Reaktion der herrschenden Politik auf diese Krise offenbart eine immense Führungsunfähigkeit, was sich unter anderem darin manifestiert, dass der Neoliberalismus – als eine wesentliche Ursache der Krise – in der Folge nicht beseitigt wurde, sondern sich vielmehr weiter verschärft. Wir sehen dies an der globalen austeritätspolitischen Wende seit 2010, d.h. dass die einzelnen Nationalstaaten versuchen, sich auf Kosten der jeweils anderen gesund zu stoßen. Wir sehen das an der Zunahme von Privatisierungen insbesondere in Südeuropa im Zuge der Eurokrise, an der Zunahme von Steuersenkungen in einem globalen Steuersenkungskrieg. Von einem toten Neoliberalismus kann demnach nicht gesprochen werden. Derselbe sorgt dafür, dass die verschiedenen von mir beschriebenen Krisen weiter verschärft werden, was ein enormes Gefahrenpotenzial in sich birgt, welches wir uns vergegenwärtigen sollten, um darauf reagieren zu können.

Stefan Bollinger (*1954) ist Politikwissenschaftler und Historiker mit den Forschungsschwerpunkten DDR und Deutsche Wiedervereinigung.

Stefan Bollinger: Wir sollten uns keine Illusionen machen: Es mag sicher eine Krise des Neoliberalismus infolge der Weltwirtschaftskrise von 2007 gegeben haben, aber genauso wenig wie diese Krise ausgestanden ist, steht der Neoliberalismus vor dem Abgrund. Ich stimme zu in der Charakterisierung des Neoliberalismus als weitgehende Rücknahme sozialer Errungenschaften. Wir beobachten den Neoliberalismus spätestens seit seiner Herausbildung 1947, maßgeblich initiiert von der als Knotenpunkt neoliberaler Netzwerke dienenden Mont Pèlerin Society; seit der Regierung unter Thatcher in Großbritannien sowie unter Reagan in den USA manifestierte sich derselbe realpolitisch. Es wurde versucht, eine Antwort auf die Brüche der sechziger Jahre zu geben; es war eine Reaktion auf die Krise des Fordismus, auch in gewisser Weise auf die 68er-Bewegung. Vordergründig ging es jedoch um eine Antwort auf die in den sechziger Jahren sich vollziehende Technologierevolution. Neoliberalismus ist eigentlich nichts anderes als ein Synonym für einen anpassungsfähigen Kapitalismus, der bereits damals begriff, dass die traditionelle Konfrontation von Bourgeoisie und Proletariat im Zuge der neuen Technologien, der neuen Rolle des Rohstoffs Intelligenz, etc. ganz andere Formen angenommen hatte. Neoliberale haben am besten verstanden, dass der von den 68ern proklamierte Individualismus in einen betriebswirtschaftlichen Egoismus umgewandelt werden könnte. Der vom Westen beförderte Zusammenbruch des reformabstinenten Realsozialismus verhalf dem neoliberalen Konzept zur weltweiten Durchsetzung – die ehemalige DDR und Osteuropa waren Experimentierfelder, um Sparpolitik und Austerität durchzusetzen.

Seit 2007/08 zeigt sich aber, dass der Übergang zum Neoliberalismus nicht ohne ökonomische und soziale Konsequenzen bleibt. Allerdings müssen wir bedenken, dass der Kapitalismus bisweilen immer die Fähigkeit besessen hat, sich neu zu erfinden. Die soziale Marktwirtschaft, der vielgepriesene „Rheinische Kapitalismus“ war eine Reaktion auf den Fall des Faschismus, auf die Angst vor der Unzufriedenheit der Arbeiter und auf die zunehmende Stärke der Sowjetunion. Letzteres entfällt aufgrund des Falls des Realsozialismus spätestens seit 1989–91. ‚Geiz ist geil‘, Profitmaximierung und individualisierte ‚Arbeitskraftunternehmer‘ konnten durchgesetzt werden. In den letzten Jahren ließ sich feststellen, dass die sozialen Kürzungen, die rigorose anti-soziale Politik etwas zurückgefahren wurden. Gleichzeitig beobachten wir eine Verschiebung im herrschenden Block der politischen Akteure, der Medien und der Intellektuellen. Die einst zu Zeiten des Kalten Kriegs mehr oder minder gesicherte politische Einheit gegen den totalitären Osten ist nun unterbrochen durch diverse Frontstellungen gegen Anhänger eines alternativen Gesellschaftsmodells, einer alternativen Eigentumsordnung. Die Demokratisierung auch und vor allem innerhalb der Unternehmen ist zerfallen. Wir erleben die Rückkehr von sehr bürgerlichen, kapitalistischen Reaktionen auf die entstandenen Verunsicherungen und sozialen Brüche in Gestalt rechtskonservativer bis faschistoider Kräfte. Die CDU/CSU versucht, sich diesen Herausforderungen durch die Anwendung eines flexiblen kapitalistischen Weges zu stellen – weniger in der Ökonomie als vielmehr in den, etwas ketzerisch gesprochen, kosmetischen Bereichen im Hinblick auf die Lage der Frauen und kulturelle Belange. In dieser vermeintlichen Liberalisierung fanden sich rasch Kritiker, beispielsweise Seehofer oder Merz, die die Forderungen nach mehr Nationalismus, militärischem Führungsanspruch und den Verzicht auf soziale Maßnahmen durchzusetzen trachteten. Man muss daran denken, dass es sowohl von rechts als auch von links Gegenbewegungen gibt, die auf diese Richtungskämpfe einwirken. Die SPD hat über Jahre mit den Konservativen gemeinsame Sache gemacht und hat vor allem durch die Agenda 2010 den Neoliberalismus in einer zugespitzten, deutschen Form durchgesetzt. Ihr sozialpolitisches Renommee hat sie dabei in die Waagschale geworfen, was sich unter anderem in der Abspaltung der WASG zeigte. Auf dem rechten Flügel jenseits von CDU/CSU tummeln sich seit den 1960er Jahren in unterschiedlicher Weise und Intensität rechte Parteien – die Republikaner, DVU, AfD. Mit letzterer ist eine weit komplexere Herausforderung wirksam geworden: Ein rassistisch untermauerter Wirtschaftsnationalismus, Geschichtsrevisionismus, antidemokratische Einstellungen sind an der Tagesordnung. Das Problem besteht darin, dass die AfD sich rechtskonservativer Zielsetzungen bedient, die auch in der bürgerlichen Mitte unterschwellig immer wieder gegriffen haben – Fremdenfeindlichkeit, nationale Überheblichkeit, Führungsansprüche kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Mittelfristig ist zu erwarten, dass im Namen der Demokratie Koalitionen mit einer geschickter agierenden AfD aus dem konservativen Lager gebildet werden. Möglicherweise gibt es einflussreiche Kreise des Monopolkapitals, Teile der politischen Intellektuellen, die zu dem Schluss kommen könnten, dass jede neue Unübersichtlichkeit ein Gestaltungsraum für radikale Autoritäre sein könnte, die Lösungen diktatorisch mithilfe eines starken Staats durchsetzen. Wir erleben dies gegenwärtig bei den ‚Failed States‘ im Nahen und Mittleren Osten und ebenso in den USA und Europa. Wir haben außerdem über ein weiteres Problem nachzudenken: die Unfähigkeit der Linken, aus dieser Konstellation etwas herauszuholen. Weite Teile der Linken waren bereit, das Schlachtfeld recht schnell zu räumen und Zugeständnisse zu machen. Ohne die Fähigkeit, tatsächlich klare Kante zu zeigen, auf politische Konfrontation in den neuen Klassengesellschaften zu gehen, weiterhin als Kümmerer für die einfachen Menschen aktiv zu werden und ohne eine konsequente Sozial- und Friedenspolitik wird es ihr nicht gelingen, diese Positionen zurückzuerobern.

Annika Klose (*1992) ist Landesvorsitzende der Jusos Berlin und Mitglied der Grundwertekommission der SPD

Annika Klose: Ich werde mich im Folgenden an den mir im Vorhinein zugesandten Fragen orientieren. Die erste lautet: Auf welche Weise ist die Krise des CDU-SPD-Zentrums Teil einer allgemeinen Krise des Neoliberalismus? Ich würde ein großes Fragezeichen hinter die Feststellung einer Krise des Neoliberalismus setzen. Selbstverständlich sehe ich auch die Krise von 2007/08, allerdings weiß ich nicht, ob diese Krise tatsächlich so tiefgehend war. Wir stellen fest, dass sich seit 2009 die Akkumulation von Kapital bei denjenigen, die bereits  am meisten besitzen, nochmal verstärkt. Die großen Kapitalfraktionen haben keinen sonderlich großen Schaden in der Krise hinnehmen müssen. Dies betraf eher die Beschäftigten, die ihre Arbeitsplätze und Häuser verloren haben. Die Ideologie des Neoliberalismus ist nicht in einer Krise, sondern nach wie vor präsent. Es gibt zwar mittlerweile eine kritischere Reflexion über den Neoliberalismus und seine Auswirkungen. Nichtsdestotrotz kann ich der Annahme eines in die Krise geratenen Neoliberalismus nicht ohne Weiteres zustimmen. In der Frage war überdies die Rede von einem „CDU-SPD-Zentrum“. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, diese beiden Parteien unter ein Zentrum zu subsumieren und sie in einen Topf zu werfen. Meines Erachtens können wir vielmehr von einer Krise der Linken sprechen, vor allem von einer Krise der linken Gegenmacht, was sich seit 1989 massiv verschärft hat. Seitdem konnte sich der neoliberale Kapitalismus ohne einen ernsthaften Gegenspieler durchsetzen. Viele dieser vermeintlichen Linken entschlossen sich sogar, den Geist des Neoliberalismus mitzutragen. Man blicke nur auf die Zeit ab 1998 in der BRD, als rot-grün gemeinsam mit den Gewerkschaften neoliberale Reformen durchdrückten. Das Problem ist, dass die linke Gegenmacht gefehlt hat, ein Widerstand, der es vermocht hätte, dem neoliberalen Mainstream etwas entgegenzusetzen. Ich würde also den Standpunkt, es gebe eine Krise des „CDU-SPD-Zentrums“, nicht teilen – vielmehr würde ich von einer Krise der Sozialdemokratie sprechen, worin auch die Gewerkschaften eingeschlossen sind, die ebenfalls die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Diese Krise ist unter anderem ein Resultat neoliberaler Reformen, vor allem jedoch eines des abhandengekommenen widerständigen Potenzials.

Die zweite Frage war, inwiefern die Krise des politischen Zentrums eine Gelegenheit für die Linke in ihrem Kampf um Soziales darstellt. Die Krise der Linken offenbart, dass wir keine ausreichenden Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben. Diese wären jedoch notwendig, um den Neoliberalen etwas entgegensetzen zu können. Wir schaffen es mittlerweile, dem Neoliberalismus an der einen oder anderen Stelle Einhalt zu gebieten – beispielsweise durch Rückkauf, Kommunalisierung, eben durch Versuche, den Zahn der Zeit wieder zurückzudrehen. Eine wirkliche Gegenstrategie suchen wir derzeit jedoch vergeblich. Ist das jetzt unsere Gelegenheit, um die Linke stark zu machen? Ich glaube, dass wir stark sein können und sollten, ganz unabhängig vom Neoliberalismus! Was wir machen müssen, wäre eine Linke zu organisieren, die stark genug ist, um diese Gesellschaft prägen und übernehmen zu können – übernehmen im Sinne von demokratisch-sozialistisch ausgestalten. Was wir dringend brauchen, ist eine sozialistische Programmatik; dass wir wieder darüber sprechen, wie wir uns überhaupt einen demokratischen Sozialismus vorstellen, wie wir dieses Ziel erreichen und an welche Bewegungen wir dabei anknüpfen können. Wir, die Mosaik-Linke mit all ihren verschiedenen Teilen und Kämpfen, müssen uns zusammenraufen! Nicht indem wir wieder eine einzige große Linke werden – dahin zurück können und sollten wir auch nicht wollen –, sondern indem wir wieder Gespräche miteinander darüber führen, wo der Weg hingehen soll.

Eine Entwicklung, die wir aufgreifen sollten und es bisweilen zu wenig tun, ist die Produktivkraftentwicklung, die sich sicherlich auch im Neoliberalismus entfaltet hat. Diese Entwicklung müsste sozialistisch gewendet werden. Der Wandel der Arbeitswelt ist nicht nur geprägt von technischem Fortschritt, sondern auch durch eine Fortentwicklung in der Arbeitsteilung. D.h. dass Menschen sich in den Unternehmen zunehmend selbst organisieren und dass sich die Beschäftigten vermehrt mit ihrer Arbeit auseinandersetzen müssen und wollen. All das passiert selbstredend unter kapitalistischen Vorzeichen, die Profitorientierung ist weiterhin tonangebend. Wir Jusos sehen in diesen Entwicklungen allerdings zugleich ein emanzipatorisches Potenzial. Denn wenn Beschäftigte heute in der Lage sind, sich selbst zu organisieren, ihre Arbeit an gesellschaftlichen Zielstellungen zu orientieren, so denke ich, dass hier durchaus Möglichkeiten enthalten sind, einen von unten funktionierenden Sozialismus zu organisieren, der aus meiner Sicht kein zentralstaatlich geplanter sein darf, sondern in dem basisdemokratisch in den Betrieben Entscheidungen getroffen werden. Dies ist ein Aspekt, über den wir viel häufiger reden sollten! Er greift die Individualisierung insofern auf, als diese so gewendet wird, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, die eigenen Tätigkeiten und Zielstellungen mit der Gesellschaft in Verbindung zu setzen. Das können und müssen wir nutzen!

Jan Gerber (*1976) ist Politikwissenschaftler sowie Historiker und lehrt und forscht am Dubnow-Institut an der Universität Gießen.

Jan Gerber: „Ist die Krise des CDU-SPD-Zentrums Teil einer allgemeinen Krise des Neoliberalismus?“, heißt es sinngemäß im Ankündigungstext dieser Veranstaltung. Diese Frage kann ich mit einem klaren „Nein“ beantworten. Meines Erachtens bedürfte es, um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, der Einführung einer längeren Perspektive. Die zurzeit tatsächlich in die Krise geratenen, westlichen Parteiensysteme sind weder Produkte des Liberalismus noch des Neoliberalismus. Auch wenn ihre Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, sind sie vor allem Kinder des Kalten Krieges. Sie hatten zwei zentrale Voraussetzungen: erstens eine weltanschauliche Polarisierung, zweitens die Dominanz industrieller Arbeit. Der Kalte Krieg, als sich SPD und CDU in Volksparteien verwandelten, war in erster Linie ein Krieg der Werte – Freiheit gegen Gleichheit, Kapitalismus gegen Sozialismus. Er durchzog die Welt nicht nur horizontal entlang der Landesgrenzen, sondern auch vertikal durch die Gesellschaften hindurch. Wer zum Prinzip der Gleichheit tendierte, verstand sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges eher als links; wer es stärker mit der Freiheit hielt, galt als rechts. Das ist heute in der Zeit, in der die politischen Kategorien verfallen, kaum noch vorstellbar. Am deutlichsten bildete sich der Wertekonflikt in Italien ab, wo die politische Kultur über Jahrzehnte von den beiden Parteien geprägt wurde, für die der ebenso aufgeklärte wie schlagkräftige Priester und der kommunistische Bürgermeister standen, die wenige Jahre zuvor als Partisanen gegen Mussolini und Hitler gekämpft hatten. Die am westlichen Bündnissystem sich orientierenden Christdemokraten und die Kommunistische Partei versammelten zusammen zeitweise fast dreiviertel der Wählerschaft hinter sich. Dazwischen gab es nur wenig. Dieser Kampf der Werte hatte einen Zeitkern, seine Integrationskraft schwand schon seit der Entspannungspolitik der 70er-Jahre. Mit dem Ende des Kalten Krieges  kriselte auch das auf ihn bezogene Parteiensystem. Der Kampf der Werte, der Kampf zwischen links und rechts, Freiheit und Gleichheit, der bis dahin prägend war, fand in den gesellschaftlichen Realitäten kaum noch Entsprechung. Auch seine weltpolitischen Rahmenbedingungen waren mit dem Untergang des Ostblocks gewissermaßen über Nacht verschwunden. Besonders hart traf es jene Parteiensysteme, die von der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Gleichheit am meisten geprägt wurden. Auch hier war Italien Vorreiter. Die Kommunistische Partei benannte sich schon 1991 um und distanzierte sich vom Kommunismus – das kam einer Auflösungserklärung gleich. Offiziell fiel sie einer Reihe von Korruptionsskandalen zum Opfer, aber vor allem hatte sie mit dem Ende des Kalten Krieges ihre weltanschauliche Orientierung verloren. Mit dem Niedergang der Partei der Gleichheit geriet auch die Partei der Freiheit in eine Sinnkrise. In der Bundesrepublik war es etwas komplizierter. Aufgrund der deutschen Teilung hatte sich der Antagonismus von Freiheit und Gleichheit in ihrem Parteiensystem weniger stark niedergeschlagen. Er hatte sich stattdessen territorialisiert. Mittelfristig erreichte die Krise des Parteiensystems jedoch auch Deutschland. Zum Ende des Konflikts der Werte gesellte sich die Krise der industriellen Arbeit. Denn die Massenorganisationen, die unser Bild politischer Parteien immer noch prägen, waren Produkte der Industriegesellschaft – mit großen Betrieben, einem gewissen Maß an Uniformität und halbwegs homogenen Milieus. Ähnlich kollektiv wie in die Fabriken strömten die Menschen in die Parteien. Gemeinsam gemachte und vor allem als kollektiv empfundene Erfahrungen verlangten einen kollektiven Ausdruck. Die Struktur der Industriegesellschaft spiegelte sich in der Form der Parteien wider. Der schwerfällige Apparat, die langwierigen Entscheidungsprozesse und die klaren Hierarchien entsprachen den Erfahrungen des Arbeitsalltags. Das Jahr 1973 steht symbolisch für den Beginn des Verlusts dieser Erfahrungen. Durch die erste Ölkrise wurde erstens der Glaube an die immerwährende Konjunktur infrage gestellt; zweitens begann mit dem Zusammenbruch des Welthandelssystems von Bretton Woods die Deregulierung der Finanzmärkte –  vor allem der Abschied von den bisherigen Kapitalverkehrskontrollen und die Möglichkeit, die Produktion in Niedriglohnländer auszulagern. Dies war aus mehreren Gründen notwendig geworden, behaupteten zumindest die Unternehmer. Im Zuge dieser Entwicklung verwandelten sich die traditionellen westlichen Industriegesellschaften in Dienstleistungsgesellschaften, deren dritte oder vierte Form wir derzeit erleben. Der Anteil des Dritten Sektors an der Gesamtbeschäftigung betrug in der Bundesrepublik der 70er-Jahre erstmals mehr als 50 Prozent, inzwischen sind wir bei mehr als 70 Prozent. Im gleichen Maße sank die Bedeutung industrieller Arbeit: Sie war nicht länger das zentrale gesellschaftliche Prinzip, sondern erschien infolge der Massenentlassungen der 70er- und frühen 80er-Jahre wie das Relikt einer vergangenen Epoche. Der Betrieb, die Werkbank oder das Fließband entsprachen nicht mehr der Lebensrealität der Mehrheit. Damit erodierten auch die sozioökonomischen Grundlagen des bisherigen Parteiensystems. In den schwerfälligen und hierarchischen Parteien kamen die alltäglichen Erfahrungen der Menschen immer seltener zum Ausdruck. Die industriellen Rangordnungen, standardisierten Abläufe und langfristigen Planungsprozesse traten in der durch flache Hierarchien, Flexibilität und schnelle Entscheidungen sich auszeichnenden Dienstleistungsgesellschaft in den Hintergrund. Auch die Erfahrung von Aufstieg und, weitaus häufiger, von Abstieg wurden nach der Ablösung der Werkbank durch den Computerarbeitsplatz, den Handy-Shop oder die Frittenbude nur selten als Kollektiv empfunden. Diese Entwicklung wurde erst vollends greifbar, als mit dem Ende des Kalten Krieges auch die politischen Voraussetzungen des Parteiensystems verschwanden. Schon in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre wurde von einer Parteienverdrossenheit gesprochen: Seit dieser Zeit ging die Wahlbeteiligung zurück und die Parteibasis schwand. Die SPD verlor seit 1976 kontinuierliche Mitglieder, ab 1990 verstärkte sich dieser Prozess. Der CDU ging es kaum anders. Die Ereignisse der letzten Jahre, die nicht ganz korrekt als die „Krise des Neoliberalismus“ bezeichnet werden, beschleunigten diesen Prozess vielleicht. Sie waren jedoch nicht die Ursachen, sondern die Katalysatoren bei der Herausbildung eines neuen Parteiensystems. Seine Vorboten sind längst da – es sind die populistischen Parteien, die im Nachgang von Silvio Berlusconis Forza Italia seit Mitte der 90er-Jahre überall in Europa entstanden, mit all ihren regionaltypischen Unterschieden und national besonderen Verzögerungen. Zumindest spricht einiges dafür, dass diese Parteien die Prototypen der politischen Organisation der Zukunft sind. Sie sind in einem nicht-leninistischen Sinne Parteien neuen Typs. Ihre flachen Hierarchien, ihre Anti-Establishment-Haltung und ihre auf Affekt, Beschleunigung und Improvisation anstatt auf Reflexion, Institutionalisierung und Verlangsamung setzende Kampagnen-Politik entsprechen der Lebensrealität der meisten Menschen leider wesentlich stärker als die schwerfälligen traditionellen Parteien. Das Gleiche gilt für die politische Verortung: Die Parteien lassen sich nur noch bedingt in den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit, rechts und links einordnen, der den Kalten Krieg prägte. Ist die italienische Fünf-Sterne-Bewegung mit ihrem Appell zur Legalisierung von Cannabis eher rechts oder links? Gehört der frühere Front National mit seiner Forderung, die Banken und zentrale Industriezweige zu verstaatlichen, zur Partei der Freiheit oder eher zur Partei der Gleichheit? Es lässt sich nicht sagen, weil er quer dazu liegt. Die traditionellen Parteien, die CDU, die SPD und ihre internationalen Schwesterparteien, werden die Veränderung der Gegenwart jedenfalls nicht überleben – zumindest nicht in ihrer jetzigen Gestalt. Aus dieser Entwicklung kann man Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft ziehen, wenn man es fantasievoll mag – gegen Fantasie spricht nichts. Wer hier jedoch auf die politische Linke setzt, handelt nicht fantasievoll, sondern grob fahrlässig. Denn die Linke hat die Verhältnisse in den letzten vierzig Jahren nur selten besser, sondern regelmäßig schlechter gemacht. Sie ist, um zum Schluss zu kommen, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Antworten

Solty: Das von Annika angesprochene widerständige Potenzial ist meines Erachtens ein gutes Stichwort. Der Neoliberalismus war ein Klassenprojekt mit dem Zweck, kapitalistische Klassenmacht zu restituieren und die Lohnabhängigen zu disziplinieren. Nötig wurde dies aufgrund der Profitklemmenkrise, in die das Kapital ab den 1960er Jahren schlitterte – unter anderem ausgelöst durch die keynesianische Vollbeschäftigungspolitik, die faktisch bedeutete, dass sich die Beschäftigten nicht von den Arbeitgebern zwingen lassen mussten, härter oder schneller zu arbeiten, da man relativ schnell einen neuen Job finden konnte. Gleichzeitig war es auch eine Wiederherstellung von Klassenmacht auf globaler Perspektive. Eingrenzen lässt sich der Neoliberalismus wie folgt: Er ist entstanden aus der Krise des Fordismus in den 70er-Jahren; der entscheidende Auslöser war der Volcker-Schock von 1979, d.h. die kurzfristige Erhöhung des Leitzinses in den USA, die, da die Geschäftsbanken die erhöhten Zinsen an die Industrie weitergaben, zur Folge hatte, dass zahlreiche hoch verschuldete Betriebe in die Pleite getrieben wurden – es war der Beginn der Massenarbeitslosigkeit. Zur gleichen Zeit stiegen die Schulden der Länder im globalen Süden. Zwei von drei Säulen der Linken wurden im Zuge dessen das Rückgrat gebrochen: Einerseits der Gewerkschaftsbewegung im Inneren der USA und später den anderen westlichen Staaten, d.h. die Unfähigkeit der Gewerkschaften, etwas gegen die stagnierenden Reallöhne zu unternehmen und die Produktivitätsfortschritte auf die Seite der Beschäftigten zu bringen – wachsende Vermögensungleichheit, Spekulation, Privatisierung sind Folgeerscheinungen dieser Entwicklung. Und andererseits der Widerstand im globalen Süden gegen kapitalistische Ausbeutung insofern, als die globalen Südstaaten nun auf westliche Kredite angewiesen waren und daher ihre Märkte für transnationale Unternehmen öffnen mussten. Das bedeutete selbstverständlich, dass diese Länder in ihrem Kampf um Subventionen gegeneinander ausgespielt werden konnten. Die dritte Säule war der 1989 weggebrochene Realsozialismus – der Kapitalismus hat sich zu Tode gesiegt. Hierauf bezieht sich auch meine Kritik an dem von Stefan Gesagten. Meine Vermutung ist, dass sich der Kapitalismus schlechterdings in dieser Situation erneuern kann, weil er in seinen Modernisierungen, beispielsweise im New Deal, paradoxerweise auf Widerstand von unten angewiesen war, um sich von oben reformieren zu können. Haben wir unser widerständiges Potenzial also nicht ausgeschöpft? Wir müssen uns zuvorderst vergegenwärtigen, dass wir uns in einer tiefen Machtkrise der Linken befinden – alle Bastionen linker Gegenmacht zum Kapitalismus befinden sich in der Krise, insbesondere die organisierten Lohnabhängigen. Festzumachen ist dies an dem heute bereits beschriebenen Individualismus, d.h. dass der Neoliberalismus begriffen hat, man könnte den Individualismus der Linken kooptieren; dies vermochte der Neoliberalismus unter den Bedingungen der historischen und bis heute noch nachwirkenden Defensive der Gewerkschaftsbewegung. Nichtsdestotrotz wurde die Linke stark in Form der neuen sozialen Bewegungen, die 1998 in der Bundesrepublik an die Macht gelangten, jedoch nicht ohne alle vom Feminismus, der Umwelt- und Friedensbewegung aufgestellten Forderungen, also jene, die kapitalseitig hätten wirksam werden können, zu tilgen. Wir haben keine Postwachstumsgesellschaft bekommen, schon gar keinen Ökosozialismus, sondern das Dosenpfand und Emissionshandel. Wir haben auch im Hinblick auf die Frauenbewegung keine kostenlose Kinderversorgung und Altenpflege bekommen, sondern nichts kostende Quotenregelungen für DAX-Konzerne oder eben das Binnen- oder Sternchen-I. Wenn man den Neoliberalismus wirklich besiegen möchte, besteht die Aufgabe darin, die Linke zu reorganisieren. Meine Kritik an Jans Ausführungen ist daher der Fokus auf die Erosion sozialer, moralischer Milieus, auf die mangelnde Homogenität infolge des Endes der fordistischen Fabrik. Es ist kein Naturgesetz, dass mit dieser Entwicklung die Parteien in eine Krise geraten – man blicke beispielsweise auf die britische Labour-Partei mit ihrem relativ linken Wirtschaftsprogramm, deren Mitgliederzahlen sich massiv erhöht haben, obwohl jene Homogenität der Arbeitswelt nicht mehr vorhanden ist. Dies ist eine Gegenbewegung und könnte möglicherweise ein Moment der Reorganisierung sein. Die Menschen begreifen, dass wir Parteien brauchen, um den neoliberalen Kapitalismus herauszufordern. Es war der Lernprozess aus den Bewegungen gegen die Austeritätspolitik seit 2011, als wir die größten Protestbewegungen seit 1967-73 hatten – Occupy Wall Street, Arabischer Frühling etc. waren, obwohl sie solche Massen auf die Straßen brachten, nicht in der Lage, die Austeritätspolitik zu beenden. Daraus entstand die Notwendigkeit, Parteienprojekte zu machen, die beispielsweise 2015 in Griechenland besiegt wurden, was meines Erachtens ein entscheidender Grund für das Erstarken der Rechten war. 2015 musste die Linke eine historische Niederlage einstecken, von der wir uns erholen müssen, um dem Neoliberalismus etwas entgegensetzen zu können – es gilt, sich dies zu vergegenwärtigen. Die tradierten Parteien sind nicht mehr mehrheitsfähig, weil sie neoliberale Politik machen. Wenn die Linke kein Gegenprojekt zu initiieren imstande ist, wird der rechtsnationale Autoritarismus gewinnen, davon bin ich fest überzeugt.

Gesichter des Neoliberalismus?
Gesichter des Neoliberalismus?

Bollinger: Wir müssen uns nüchtern ansehen, was passiert. Man kann über die Wirtschafts- und Technologieentwicklung nachdenken, aber es ist auch von Bedeutung, wie Klassenkräfte sich organisieren. Ich stimme zu, dass der Neoliberalismus ein Klassenkampfprojekt ist. Es wurde erkannt, dass es Möglichkeiten gibt, den Kapitalismus wieder in seiner ursprünglichen, reinen Form des Profitmachens erscheinen zu lassen und ihn den neuen Verhältnissen entsprechend anzupassen. Zeitweise setzte er auf globale Prozesse, der Nationalismus und Protektionismus waren jedoch immer der Notausgang des Neoliberalismus. Es bestand immer auch die Bereitschaft, rechtsorientierten, diktatorischen Kräften die Hand zu reichen. Erinnern wir uns an Milton Friedmans neoliberales Experiment – dass er dies in Chile durchführen konnte, war mit Sicherheit kein Zufall. Vor allem war dies ein Projekt, anhand dessen gezeigt werden sollte, dass man bereit ist, die Arbeiterbewegung an die Wand zu spielen. Wir sollten all dies also etwas genauer betrachten und sollten nicht, wie dies bei Jan anklang, die Schuld den Linken zuschieben. Selbstredend hat die Linke versagt, und sei es nur durch Anpassungen an Neoliberale. Es gibt jedoch immer wieder Gegenbewegungen, beispielsweise die Occupy-Bewegung im Kontext der Krise von 2008, oder auch aktuell „Fridays for Future“ – dies sind Bewegungen, die zentrale Punkte der krisenhaften Entwicklung aufgreifen und versuchen, sich dagegen zu positionieren. Was uns als Linke nicht gelingt, ist die Organisation von Gegenmacht, d.h. auch eine gewisse ideologische, weltanschauliche Grundlage. Dies bedeutet sicherlich auch, dass wieder vermehrt über Organisationsfragen nachgedacht werden muss. Eine Partei neuen Typs wird sicherlich nicht im leninistischen Sinne funktionieren, aber wir müssen darüber nachdenken, wie linke Parteien, bei aller Differenzen, ein gemeinsames Handeln organisiert bekommen.

Klose: Brauchen wir Parteien, um den neoliberalen Kapitalismus herausfordern zu können? Ja und Nein. Selbstverständlich brauchen wir Parteien, aber eben nicht nur Parteien. Vielmehr glaube ich, dass das überhaupt nur funktionieren kann, wenn es ein Zusammenspiel von sozialen Bewegungen und Parteien ist. Wir, als gesamtgesellschaftliche Linke, sind diesbezüglich sehr schwach aufgestellt. Es gibt immer wieder Versuche, verschiedene Organisationen zusammenzubringen, aber tatsächlich sind die Fraktionen innerhalb der Linken sehr tief; aus eigener Bündniserfahrung sprechend, ist es sehr schwierig, etwas zu organisieren. Hier müssen wir anknüpfen und uns wieder zusammenraufen, ansonsten ist der neoliberale Kapitalismus höchstens milde am Lächeln. Selbstverständlich müssen wir uns auch grenzübergreifend organisieren, eine rein lokale Organisation genügt nicht. Der demokratische Sozialismus lässt sich nicht einfach durch Reformen im Parlament durchsetzen. Aber Parteien können Freiräume schaffen, in denen Organisierung und ein solidarisches Miteinander möglich ist.. Überdies können Parteien systemüberwindende Perspektiven aufzeigen und Reformen nicht nur um ihrer selbst willen praktizieren, sondern zeigen, inwiefern dies über den Kapitalismus hinausweist. Diese Debatte muss in die Gesellschaft getragen werden – es reicht dabei nicht, wenn dies nur eine Partei im Parlament tut, sondern es ist vonnöten, dass mindestens die rot-rot-grünen Parteien dies artikulieren. Was Parteien auch leisten können, ist der Widerstand gegen die Reaktion, gegen die AfD. Alleine können die Parteien den neoliberalen Kapitalismus nicht herausfordern. Hierfür bedürfte es auch einer von den Betrieben und der Straße ausgehenden Gegenmacht. Den Neoliberalismus herauszufordern, bedeutet auch, sich die Produktionsmittel anzusehen und darüber zu sprechen, wie man diese vergesellschaftet – und zwar nicht in einer Weise, die uns zurück zu einem autoritären, zentral geplanten Sozialismus bringt. Das funktioniert nicht, jedenfalls nicht auf eine freiheitliche Art. Wir müssen uns also fragen, wie wir den Sozialismus demokratisch organisieren können. Diesbezüglich besteht meines Erachtens ein großer Mangel. Anknüpfen könnten wir zu diesem Zwecke an bestimmte bereits vorhandene Strukturen. Ich denke hier aber beispielsweise auch an die Ausweitung der Mitbestimmung in den Unternehmen und die Einbeziehung der ökologischen Krise. Mir schwebt vor, dass die Beschäftigten einen Riegel vorschieben können, sollten die Vorgesetzten eines Unternehmens umweltschädliche Maßnahmen ergreifen. Es gibt also bereits ein gewisses Potenzial, auf dem man aufbauen könnte. Wenn wir diesen politischen Kampf nicht nur auf die Parlamente begrenzen, sondern in andere Lebensbereiche wieder hineintragen, dann ließe sich eine mehrheitsfähige Politisierung schaffen. Was uns auf keinen Fall hilft, ist, uns gegenseitig klein zu reden und zu marginalisieren. Es hilft nicht, immer nur herauszustellen, wo die Linke versagt hat. Die Befreiung der Frau als „kosmetisch“ zu bezeichnen, wie Stefan Bollinger dies vorhin tat, halte ich für sehr problematisch. Unsere Aufgabe ist es, die überall stattfindenden emanzipatorischen Kämpfe, insbesondere auch die Befreiung der Frau, die ökologischen Kämpfe, jene für eine solidarische Stadt, queere Kämpfe zusammenzubringen. Das heißt nicht, dass wir alle dasselbe machen sollen, aber zumindest sollten wir uns hinsichtlich einer gemeinsamen Richtung verständigen und solidarisch miteinander sein. Es gilt, endlich auch einmal die Erfolge herauszustellen.

Gerber: Ich bin im Gegensatz dazu ein großer Freund davon, den Finger in die Wunde zu legen, zu sagen, was alles schief gelaufen ist und keine Parteitagsreden zu halten. Wir müssen erkennen, wo die Probleme lagen und liegen, um auf diese Weise zukünftig jenen Fehlern vorzubeugen. Vor dem Hintergrund der Geschichte ist es mir ein Rätsel, wie man darauf kommen kann, dass die Linke ihr Widerstandspotenzial nicht vollends ausgeschöpft habe. Man muss sich mal vor Augen führen, welche objektive Funktion die Linke eigentlich in den letzten vierzig Jahren hatte. Es ist keineswegs so, wie es hier zu Teilen auf dem Podium anklang, dass der Neoliberalismus ein ausschließlich rechtes oder konservatives Projekt war. Es sind zurecht die Namen Reagan und Thatcher gefallen, aber was ist mit Tony Blair und New Labour, die wirklich einiges dafür getan haben, dass die Reste des Sozialsystems unter Beschuss gerieten. So gut wie alle sozialdemokratischen Kräfte schlossen sich diesem Kurs an, spätestens nachdem die Systemkonkurrenz mit dem Ostblock obsolet wurde. Hartz IV wurde, wenn ich nicht etwas verpasst habe, nicht von der CDU, sondern von der SPD und den Grünen durchgesetzt. Hinsichtlich der außerparlamentarischen Linken, der sozialen Bewegungen müssen wir auf die 70er-Jahre blicken. Woher kommen all die Imperative dieser schönen neuen Arbeitswelt? Imperative wie Eigenverantwortlichkeit, Engagement, Kreativität, Individualität, flache Hierarchien, den Chef duzen – all diese Dinge wurden im Zuge des Abschieds von der Arbeiterklasse von linker Seite stark gemacht. Dies sind die Parolen, mit denen die Selbstausbeutung und Kollektivierung in linken Läden vorangetrieben wurden. Mit diesen auf das Individuum sich beziehenden Parolen,  diesem Weggang von Klasse, wurde eigentlich der ideologische Soundtrack der neoliberalen Entwicklung begonnen. Es wurde also zu dieser Zeit mit Blick auf die zweifellos vorhandenen Zumutungen der alten Arbeitswelt genau das unter Beschuss genommen, was man durchaus hätte verteidigen können. Insofern kann ich nur noch einmal davor warnen, auf die Linke zu setzen, wenn positive Veränderungen angestrebt werden.

Q & A

 Annika sprach von emanzipatorischen Kämpfen, die es in verschiedenen Bereichen gibt, und dass man jene zusammenführen und weitertreiben solle. Soll die SPD die Führung dieser Kämpfe übernehmen? Würdest du, Annika, sagen, wenn die Arbeiter und Angestellten bei Siemens darüber abgestimmt hätten, ob in Australien dieser Kohlebetrieb weitergeführt wird, dass sie dagegen gestimmt hätten?

Klose: Soll die SPD die Führung dieser Kämpfe übernehmen? Nein, das wäre nicht sinnvoll. Ich glaube weder, dass es die eine Kraft geben sollte, die alle Kämpfe anführt, noch dass die SPD dazu  im Moment überhaupt ansatzweise imstande wäre. Sinnvoll wäre es jedoch, würden wir solidarisch miteinander umgehen. Es ist eine gute Frage, wie die Beschäftigten bei Siemens abgestimmt hätten. Denn jene sind natürlich dem Zwang verhaftet, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen und tun dies eben aktuell bei Siemens. Entsprechend sind sie auch der kapitalistischen Logik unterworfen. Es wäre zumindest ein Schritt, diese Prozesse demokratisch zu organisieren, aber damit ist es noch nicht vollends getan. Man müsste  das Konzept der Lohnarbeit an sich infrage stellen.

Wir haben viel Historisches im Hinblick auf die Ursachen des Neoliberalismus gehört. Es wurde gesagt, dass die Schuldfrage an sich ein Problem sei; man könne der Linken nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Ich halte diese Aussage wiederum für problematisch. Unter Rekurs auf Brecht, wo es heißt, „An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns. Und an wem liegt es, wenn sie gebrochen wird? An uns.“, muss ich konstatieren, dass wir als Linke einen Kampf eingehen und dabei nicht unseren Gegnern vorwerfen können, wenn wir den Kampf verlieren. Wir kämpfen unter den Bedingungen, die nun mal die Bedingungen der Welt sind und müssen unter diesen gewinnen – dazu gehört, dass die Bourgeoisie gegen uns kämpft und sich dabei aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel bedient. Ich würde Jan Gerber zustimmen, dass die Linke für den Neoliberalismus verantwortlich zu zeichnen ist – vor allem darin, dass die Kultur desselben vormals von der Linken gepusht wurde. Gerade aus dem Grund, dass die Linke jenen schlechten Soundtrack eingeleitet hat, müsste doch die Frage gestellt werden, was die Linke tun müsste, anstatt einfach das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wenn Jan davon spricht, dass wir uns nicht auf die Linke verlassen sollten: auf was denn sonst? Ich habe auch kein Vertrauen in diese Linke, aber ich wüsste auch nicht, wem ich das sonst schenken sollte.

Bollinger: Ich teile deine Auffassung nicht ganz. Die Linke hat seit dem Entstehen des modernen Kapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts außer in Osteuropa und in Teilen Asiens nie die Führung der Gesellschaft übernommen. Sie saß in zahlreichen Regierungen, aber sie war immer Teil eines kapitalistischen politischen Systems. Es wurde vor allem vonseiten der Sozialdemokratie versucht, die sozialen Spielräume zu erweitern, was durchaus ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist. Nichtsdestotrotz müssen wir schauen, wer in diesen Gesellschaften das Sagen hatte. Jan wies zurecht darauf hin, dass die Neoliberalen es vermochten, auch Linke mit ihrem Denken einzulullen. Es war ein großes Versagen der Linken, versucht zu haben, sich dem neoliberalen Zeitgeist anzupassen. Man muss die Frage nach der Schuld insofern stellen, als man fragt, inwiefern die Linke etwas Reaktionäres hätte verhindern können respektive wie sie die Gesellschaft hätte gestalten können.

Gerber: Ich weiß leider auch nicht, auf wen man stattdessen vertrauen soll. Kurz noch etwas zu dem von Stefan Gesagten; nämlich dass die Linke außer in Osteuropa und Teilen Asiens nie die Macht inne gehabt habe beziehungsweise immer nur partiell in Zusammenarbeit mit konservativen Kräften. Angesichts der historischen Entwicklung in den von Linken allein regierten Staaten beispielsweise in Asien muss ich feststellen: Das war gut so! Trotzdem geht es mir nicht um die Frage nach Schuld. Schuld ist eine moralische Kategorie, damit kommen wir nicht weiter. Marx schrieb schon im Achtzehnten Brumaire, dass die Menschen, wenn sie dabei sind, etwas Neues zu schaffen, die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören. Das war meines Erachtens das zentrale Problem der Linken. Wir müssen außerdem überlegen, wer diese Linke momentan eigentlich ist. Es fiele mir schwer, diese Frage zu beantworten. Ich würde sogar infrage stellen, ob es so etwas wie die Bourgeoisie überhaupt noch gibt, geschweige denn ein Proletariat. Ich plädiere daher für zwei Dinge: Zum einen Konservativismus insofern, als das bewahrt werden soll, was noch vom Sozialstaat übrig ist; wenn die Progression in eine katastrophale Richtung geht, muss man konservativ werden. Wie das funktionieren soll, ist nicht ganz einfach, aber man kann in Gewerkschaften eintreten und versuchen, eine IG-Metall nach dem Muster der 70er-Jahre zu gestalten. Zum anderen müssen wir Diskussionen führen und die Themen im öffentlichen Diskurs platzieren.

Solty: Ich unterschreibe, dass es in der Tat einen sozialdemokratischen Neoliberalismus gibt und ebenso die Absorption linker Ideen, die in den Neoliberalismus aufgenommen wurden. Aufgenommen wurden sie jedoch erst, nachdem der Neoliberalismus bereits etabliert worden war. In den 90er-Jahren kommen mit Clinton in den USA, ab 1997 mit New Labour in Großbritannien und wenig später mit der rot-grünen Bundesregierung Linke an die Macht, jedoch unter vorgefundenen Bedingungen. Sie haben eine Politik fortgesetzt und diese mit neuen sozialen Aspekten zu humanisieren intendiert. Ich würde von einer Hegemonialisierung des Neoliberalismus sprechen, der jetzt auch zahlreiche Linke erreichte. Was wir uns vergegenwärtigen müssen – egal, was man vom Staatssozialismus, den nationalen Befreiungsbewegungen im globalen Süden oder den korporatistischen Gewerkschaften hält –, ist, dass dies alles Bastionen linker Gegenmacht waren. Die gesamte Linke hat 1989 verloren; nicht nur diejenigen, die für die DDR oder die Sowjetunion waren, sondern alle. Widersprechen würde ich der Behauptung, dass es keine Arbeiterklasse mehr gebe. Heutzutage sind es viel größere Zahlen an lohnabhängig Beschäftigten. Lohnarbeit heute ist qualifizierter, letztendlich sind das jedoch Kapital- und Arbeitsverhältnisse. Die Linke läuft immer Gefahr, kooptiert zu werden. Ohne eine Reorganisierung von Gegenmacht, die betrieblich organisierte Klassenmacht sein müsste, werden wir die Zerstörung der letzten Reste des Sozialstaats nicht verhindern können. Vielleicht schaffen wir es dann sogar, nicht nur zu verteidigen, sondern gestalterisch in Richtung eines demokratischen Sozialismus vorzustoßen.

Was können wir heute aus der Niederlage der Linken lernen, die durch die Vormacht des Neoliberalismus manifest wurde? In einem noch stärkeren Maße Identitätspolitik machen? Die Forderungen der 68er einfach nochmal radikalisieren? Oder gibt es etwas Neues, das wir in Angriff nehmen könnten? Und wer ist eigentlich genau gemeint, wenn von einem „Wir“ gesprochen wird? Wer soll diese Linke sein und was soll sie fordern? Sind etwas höhere Renten und Löhne tatsächlich das Maximum, das diese Linke herauszuholen imstande ist?

Solty: Vor dem Neoliberalismus war vieles nicht besser, vielleicht war die sozialstaatliche Sicherheit noch in einem stärkeren Maße gewährt. Es gab Gründe für das Entstehen einer gegen das fordistische Fabrikregime, das männliche Brotverdienermodell etc. gerichteten Bewegung. Es hilft uns auch nicht, Vergangenes zurückzufordern. Marx sagte, die soziale Revolution könne ihre Poesie nur aus der Zukunft schöpfen. Wir sind jedoch in einer Situation, in der unsere Visionen von sozialistischen Gesellschaftsmodellen im 21. Jahrhundert noch relativ am Anfang sind. Wie gehen wir mit transnationalisierten Plattformkapitalien um? Dies ist eine offene Diskussion, die wir führen müssen. Ich gehe davon aus, dass allein das Organisieren, das Hoffen auf teilweise inhaltsleere, partikulare Bewegungen nicht ausreicht, sondern es bedarf einer Art zentraler Vorstellung von der Richtung, in die es gehen soll.

Es ist interessant, dass einerseits gesagt wird, Klasse existiere nicht mehr; andererseits wird gefordert, es solle doch wieder vermehrt die Klassenfrage gestellt werden. Wir sind an einem Punkt, wo die Klasse in vielen Nationen wiederentdeckt wurde. Der Grund für dieses Wiederentdecken ist aus meiner Sicht das enorme Erstarken der Rechten. Ich würde also behaupten, dass die Klassenfrage eine weiterhin vorhandene ist. Jedoch müssen wir feststellen, dass das Klassenbewusstsein abhandengekommen ist. Die Frage ist, ob wir dem Neoliberalismus etwas entgegensetzen können, wenn wir nicht beispielsweise die Zahl von Streiks um ein Vielfaches erhöhen. Die Linke muss selbstkritisch sein; sie wird nicht ganz zu Unrecht so wahrgenommen, als mache sie nur noch Politik für die ihr lieb gewonnenen Minderheiten. Die Emanzipationsbewegung des Feminismus, jene der Ökologie und des Antirassismus müssen mit der Klassenfrage verbunden werden. Letztere ist keine Frage der Identität, sondern ein soziales Verhältnis. Man kann eine feministische Klassenpolitik insofern machen, als man die Mietenproblematik unter Kontrolle bekommt – Frauen sind mehrheitlich im Niedriglohnsektor beschäftigt und sind daher besonders von den hohen Mietpreisen betroffen. Dies wäre eine Politik für alle, von der die am meisten Ausgebeuteten besonders profitieren.

Ich finde es ironisch und amüsant, dass diejenigen, die Klassenkampf anstatt Identitätspolitik propagieren, tatsächlich Klassenkampf als eben jene Identitätspolitik verstehen. Beispielsweise Eribon macht sich dessen schuldig, wenn er behauptet, das hippe Großstadtmilieu sei etwas anderes als die Arbeiter. Nein, all das sind lohnabhängig Beschäftigte! ArbeiterInnen sind nicht definiert durch den Blaumann oder den Hammer, sondern, es ist ganz einfach: ProletarierInnen haben kein Eigentum an den Produktionsmitteln und sind LohnarbeiterInnen; die Bourgeoisie besitzt die Produktionsmittel. Das ist eine marxistische Interpretation, alles andere ist Bourdieu etc., oder anders gesprochen: bürgerliche Ideologie. Wir müssen fragen, wie Klassenbewusstsein zustande kommt. Um die Beantwortung dieser Frage zu antizipieren: durch Klassenkampf. Diesen Klassenkampf gibt es auch gerade in verschiedenen Bewegungen, hier stimme ich Annika zu. Würden wir diese Bewegungen unterstützen, wären wir in die Lage versetzt, Klassenbewusstsein aufzubauen; eine Klasse für sich. Wir dürfen zu diesem Zwecke jedoch nicht über Klasse identitätspolitisch nachdenken.

Gerber: Wer verfügt denn heute noch über das Privateigentum an den Produktionsmitteln? Du hast soeben die Situation des liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts beschrieben, als es eine geringe Zahl von Kapitalisten gab, die über das Privateigentum an den Produktionsmitteln verfügten; alle anderen sind damals entweder Bauern oder Proletarier. So einfach ist Marx noch nicht einmal im Manifest, würde ich sagen. Ich möchte auch noch einmal auf die Frage der Klasse eingehen. Ich behaupte: Die Klasse ist nicht mehr existent. Was ist denn „Klasse“ überhaupt? Bei Marx ist sie etwas Doppeltes: Zum einen gebraucht er sie als soziologische Kategorie, für die sich Marx jedoch kaum interessiert. Zum anderen versteht er Klasse als geschichtsphilosophische Kategorie. Marx interessiert sich für das Proletariat, weil dasselbe aufgrund seines Gegensatzes zur Bourgeoisie die Antithese ist, die die ganze Gesellschaft aufzuheben imstande wäre. Diese geschichtsphilosophische Komponente, das möchte ich betonen, hat heute ausgedient. Soziologisch können wir Klasse noch erfassen, wenn auch nicht mehr in der Binarität des Kommunistischen Manifests. Auch das Industrieproletariat existiert nicht mehr in dieser Form. Klassenschichtungen funktionieren heute nicht mehr bloß über den Besitz oder Nicht-Besitz der Produktionsmittel, sondern es kommen noch milieu- und schichtspezifische Differenzen hinzu.

Klose: Da ich vorhin möglicherweise missverstanden wurde, möchte ich klarstellen, dass Klasse selbstverständlich eine soziale Kategorie ist und keine Identität – deshalb sprach ich auch explizit von Klassenbewusstsein, das ich als Identität verstehe. Jans vorherige Aussagen bezüglich Marx‘ Verständnis des Proletariats ergänzend, möchte ich erwähnen, dass sich Marx deshalb für das Proletariat interessiert, weil er es als revolutionäre Klasse versteht; da ihm im Rahmen seiner Analyse des Kapitalismus klar wurde, dass die lohnabhängig Beschäftigten diejenigen sind, die die Möglichkeit haben, die Macht über die Produktion zu ergreifen und dass die Bourgeoisie existenziell von der Mehrwertproduktion der Arbeiterklasse abhängig ist. Insofern sieht Marx im Proletariat das Potenzial, eine Revolution entsprechend zu gestalten und die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Dass das von Marx beschriebene Industrieproletariat nicht mehr in der Form existiert, liegt meines Erachtens an der Diversifikation der Erwerbsarbeit, beispielsweise durch die Ausdehnung des Dienstleistungs- und des digitalen Bereichs. Wir müssen uns deshalb fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Produktionsmitteln sprechen: Was sind denn aktuell die Produktionsmittel und wer arbeitet damit? Wer müsste also als politisches Subjekt adressiert werden, um das Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel erreichen zu können? Die Bestimmung des Proletariats als diejenigen, die über keine Produktionsmittel verfügen, mag zwar korrekt sein. Allerdings hilft uns dies kaum bei unserer Suche nach einem revolutionären Subjekt. Ich würde an dieser Stelle abermals auf die Verbindung verschiedener Kämpfe insistieren. Es sind nicht nur die Produktionsmittel, die vergesellschaftet werden müssen, sondern auch unsere Arbeitsstrukturen müssen einen grundlegenden Wandel erfahren. Auch diejenigen, die sich vor allem um die Reproduktionsarbeit kümmern, sind in der Lage, an der Revolution zu partizipieren. Deshalb sollten wir die Perspektive nicht einschränken, indem wir uns nur auf diesen eng gefassten Begriff der Arbeiterklasse fokussieren.

Solty: Wir haben, so glaube ich, gelernt, dass die Arbeiterklasse nicht naturgesetzlich aufgrund der widersprüchlichen Konstitution des Kapitalismus denselben aufheben muss; dass der Kapitalismus nicht naturwüchsig in den Sozialismus übergeht. Selbst bei Marx findet sich  Gegenläufiges zu dieser durchaus auch von Poststrukturalisten ihm zugeschriebenen Teleologie. Ich halte es für plausibel, dass Klasse ein politischer Begriff ist: Die Klasse existiert dann, wenn sie politisch organisiert ist. Der ursprüngliche Zustand der Arbeiterklasse ist immer der der Spaltung, als Lohnabhängige stehen wir in Permanenz in Konkurrenzverhältnissen zueinander. Die Arbeiterklasse ist nicht notwendigerweise diejenige Klasse, die den Kapitalismus aufheben muss, aber sie ist es, die das vermag, weil sie in der Lage ist, durch das Mittel des Streiks dem Kapital sehr weh zu tun. Die Lehre aus dem sozialdemokratischen Neoliberalismus ist, dass es keine Emanzipation gegen die organisierte Arbeiterbewegung geben kann. Wenn die Gewerkschaftsbewegung schwach ist, bekommen wir eben das Dosenpfand und nicht den Ökosozialismus. Es geht also darum, die Klasse zu reorganisieren, die gegenwärtige Situation einer ‚demobilisierten Klassengesellschaft‘ (Dörre) zu überwinden. Wir müssen uns selber fragen, welchen Beitrag wir dazu leisten können – sowohl politisch als auch auf der Ebene der Betriebe, auch der Universitäten.

Meint ihr, wenn ihr von der Krise des Neoliberalismus sprecht, eher eine Wirtschaftsordnung, in der es darum geht, wie der Preis von Arbeit zustande kommt, wie Arbeitslosigkeit organisiert wird; oder seht ihr darin wirklich ein allumfassendes Gesellschaftsmodell, das nicht mehr funktioniert?

Solty: Es macht Sinn, den Neoliberalismus mit David Harvey in der Theorie und Praxis zu unterscheiden. Das unter anderem von der Mont Pèlerin Society Erdachte waren keine freischwebenden Ideologien, sondern angewiesen auf soziale Träger. Bei neoliberalen Ideen ist sehr interessant, dass sie in den 40er-Jahren, als Hayek seinen Weg in die Knechtschaft schrieb, die liberalen Ideen völlig diskreditiert waren. Zum Ende des Fordismus gab es eine Kapitalklemmenkrise, wodurch die Profite gedrückt wurden und deshalb musste die Rentabilität des Kapitals wiederhergestellt werden. Die Globalisierung war ein entscheidender Hebel zur Durchsetzung, da sie den Gewerkschaften im Inneren das Genick brach. Man muss deshalb Theorie und Praxis des Neoliberalismus untersuchen, weil in seiner Theorie der Staat nur wenige Grenzen setzen soll. Wenn man sich allerdings anschaut, wie stark der Staat im Neoliberalismus gewesen ist, dann sieht man, dass Neoliberale in der Praxis keineswegs einen minimalen Staat umsetzen, sondern vielmehr einen besonderen Staat: einen Staat, in dem diejenigen für das Funktionieren des Systems wichtigen Apparate aufgewertet wurden, z.B. das Finanz- und Wirtschaftsministerium. In der keynesianischen Ära unter den Bedingungen der Vollbeschäftigung waren unter anderem das Arbeits- und Sozialministerium von erheblicher Bedeutung. Heute spielen dieselben nur noch eine untergeordnete Rolle. Diese Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis des Neoliberalismus halte ich für sehr wichtig.

Bollinger: Es geht hier schon um so etwas wie ein Gesellschaftsmodell – aber in dem Wissen, dass die praktische Gestaltung sehr flexibel ist. Gerade die Fähigkeit, auf Veränderungen reagieren zu können, macht ein funktionierendes System aus. Mal die Globalisierungsschiene, mal die Protektionismus-/Nationalismusschiene – das macht die Fähigkeit und auch die Gefährlichkeit des Neoliberalismus aus. Die Linke hat auf diese komplexe Herausforderung seit den 70er-Jahren nicht angemessen reagiert.

Es wurde von dem historischen Scheitern der Linken im 20. Jahrhundert gesprochen – Tony Blair, die SPD, die Clintons etc. Ich würde zustimmen, dass die Linke den Weg für den Neoliberalismus bereitet hat. Jan hat eine gewisse Form von Konservatismus vorgeschlagen. Bedeutet das für dich die Forderung nach einem Zurück zum New-Deal bzw. zur Wohlfahrtstaatspolitik? Ist das, was restituiert werden soll, das staatliche Management von Arbeit und Kapital? Wie würdest du jemanden wie Corbyn, Sanders oder das Jacobin-Magazine beurteilen?

Gerber: Das ist eine schwierige Frage, da ich mir darüber selbst nicht ganz im Klaren bin. Ich würde zunächst den Begriff des Konservierens, der Verteidigung dessen, was da ist, sehr stark machen. Ich fände es tatsächlich vernünftig, wenn bestimmte Tendenzen wiederhergestellt werden könnten. Nichtsdestotrotz gab es objektive innere Gründe, weshalb das Ganze den Bach runter gegangen ist. Ich bin also sehr skeptisch, was eine Rekonstitution anbelangt, wenngleich ich dies als eine Voraussetzung ansehe, um von dort aus weitere Projekte anstreben zu können. Ich habe großes Verständnis dafür, dass Menschen Corbyn – abzüglich seines Antisemitismus – oder Sanders vernünftig finden; dafür, dass sie sich nicht begeistern lassen für staatssozialistische Projekte oder die Neue Linke.

Meine Frage zielt auf die geschichtsphilosophische Bedeutung des industriellen Proletariats ab:  Jan hat den Westen mit Freiheit, den Osten mit Gleichheit identifiziert und Annika hat Solidarität betont. Wir haben hier also alle drei Begriffe der Französischen Revolution auf dem Tisch. Meine Frage ist, was zwischen dem ursprünglichen Liberalismus und dem Neoliberalismus steht. Wie verhält sich Marx zu der bürgerlichen Revolution selbst? Was ist schief gegangen im Liberalismus?

Gerber: Der Unterschied zwischen Liberalismus und Neoliberalismus ist unter anderem – und deshalb finde ich den Begriff Neoliberalismus auch nicht ganz treffend –, dass der Liberalismus in der Tat nur einen Nachtwächterstaat anstrebt. Beim Neoliberalismus ist dies komplett anders. Der Staat hat im Neoliberalismus eine enorm wichtige Funktion. Für Marx war ein Ineinandergreifen von Freiheit und Gleichheit bedeutend; zur Zeit der Französischen Revolution wurde die Identität von Freiheit und Gleichheit angenommen. Beide Begriffe trennen sich mit der Zeit. Marx selbst geht noch von der Einheit der beiden Begriffe aus, er ist weder ein reiner Freiheits- noch ein reiner Gleichheitsfanatiker. Dies bietet mir die Möglichkeit, noch einmal darauf einzugehen, wer oder was die Linke ist: Sie ist zuerst einmal der parlamentarische Gegensatz zur Rechten – in der Französischen Revolution ist die Linke stärker die Partei der Gleichheit, während die Rechte stärker die Partei der Freiheit ist. Davon ausgehend, entfaltet sich der Widerspruch. Marx, das möchte ich nachdrücklich betonen, ist kein Linker! Er ist weder rechts noch links, weder Partei der Freiheit noch Partei der Gleichheit – Marx steht vielmehr für die Synthese dieser Gegensätze.

Klose: Ich würde den Liberalismus eher mit der Tradition der Französischen Revolution in Verbindung bringen, mit dem Kampf um Bürgerrechte, individuelle Freiheiten etc., während dies im Neoliberalismus faktisch keine Rolle spielt. Letzterer wendet den Begriff des Liberalismus in erster Linie auf die Ökonomie, pocht auf freie Märkte. Die Menschen sollen sich, auf sich allein gestellt, um sich selber kümmern.

Bollinger: Solche Begriffe haben immer etwas mit der konkreten Klassenkampfsituation zu tun. Den Liberalismus müssen wir vor allem in der Zeit des Kampfes zwischen der Bourgeoisie und dem Feudalsystem verorten. Der Neoliberalismus ist eher ein Kampf der Bourgeoisie gegen die Arbeiterbewegung. Im Prinzip ist es recht einfach, wenn man sich die heutige Gesellschaft ansieht. Die Klassenangehörigen – egal, ob sie wissen, dass sie es sind – brauchen Wohnungen, Gesundheitsvorsorge, Altersvorsorge, Arbeit und auch eine saubere Umwelt und eine friedliche Welt. Das ist der Anspruch linker Politik.

Solty: Ich hadere mit dem Begriff des Neoliberalismus. Er eignete sich als politischer Begriff, als Periodisierungsbegriff für die Phase des Kapitalismus seit den 1980er Jahren. Der Begriff eignet sich auch deshalb, weil sowohl die theoretischen Denker als auch die praktischen Vollzieher des Neoliberalismus sich auf denselben bezogen haben. Es ist die theoretische Vorstellung, dass die Entfesselung der Marktkräfte zu einer optimalen Allokation von Ressourcen führt, zum Gleichgewicht tendiert und spontane Ordnungen schafft. Wir erleben selbstredend, dass das Gegenteil der Fall ist, was mit den theoretischen Problemen der neoliberalen, neoklassischen Lehre zusammenhängt. Der von mir primär benutzte Begriff ist der des „neoliberalen Finanzmarktkapitalismus“, zusätzlich müsste wohl noch „global“ hinzugefügt werden. Entscheidend ist, dass sich dieser Kapitalismus stark verändert hat. Es hat immer Internationalisierung von Kapital gegeben, aber das waren zumeist Portfolio-Investitionen, d.h. es wurde Geld geliehen und daraus Profite extrahiert. Im globalen Kapitalismus seit den 1970er Jahren haben wir transnationale Wertschöpfungsketten – das ist auch eine besondere Herausforderung für Politik, da dies bedeutet, dass wir keine nationale Bourgeoisie mehr haben. Außerdem gebe ich Jan völlig Recht, dass Marx den Begriff „links“ für sich nicht reklamiert hat. Marx war Kommunist. Das Parlament war insofern nicht sein Bezugspunkt. Wenn man dem Begriff der Linken historisch nachspürt, stößt man auf den interessanten Umstand, dass Menschen erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, sich als links zu identifizieren. Bis dato war man ein vom Liberalismus emanzipierter Sozialist oder Kommunist, der die bürgerlichen Ideale von Freiheit und Gleichheit für alle wollte und sich als Erbe der liberalen Ansprüche wahrnahm, was auch immer eng mit einem Klassenbegriff verbunden war. Die Selbstbezeichnung „links“ kam immer nur dann auf, wenn man das Gefühl hatte, von der richtigen Lehre abgekommen zu sein. Ich glaube also, dass dies ein Ausdruck der Niederlage ist. Heute besteht die Aufgabe für Linke darin, wie es gelingen kann, Konzeptionen einer postkapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln, die nicht zurückwill und nicht zurückfällt in die alten Zeiten des keynesianischen Wohlfahrtsstaats. Es geht dabei vor allem um die Eigentumsfrage.